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Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag

05.10.2020, Internationale Zusammenarbeit,

Weltweit sind die Arbeitsrechte massiv unter Druck, obwohl dieser Teil der Menschenrechte in 187 Staaten rechtsverbindlichen Charakter hat. Der Global Rights Index des Internationalen Gewerkschaftsbundes dokumentiert die dramatische Entwicklung.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag

Frauen, die Beedi-Zigaretten produzieren, an einer Demonstration in Neu-Delhi. Sie fordern eine Rente, medizinische Leistungen und kostenlose Schulbildung für ihre Kinder.
© Altaf Qadri / AP / Keystone

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben es in aller Deutlichkeit ans Licht gebracht: Der völkerrechtlich verbriefte Schutz der Arbeitnehmenden steht insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern auf extrem schwachen Füssen. Seit sieben Jahren dokumentiert und verurteilt der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB/ITUC) die weltweiten Verletzungen der Arbeitnehmerrechte durch Regierungen und Arbeitgeber. Die alarmierenden Resultate des aktuellen Global Rights Index (GRI) wurden zum Teil sogar noch vor dem Ausbruch der Covid19-Pandemie zusammengetragen.

Laut dem Index wird das Streikrecht in 123 der 144 untersuchten Länder verletzt, d.h. in 85 % der Länder. Das Recht auf Tarifverhandlungen wird in 80 Prozent der Fälle nicht gewährt, während den Beschäftigten in fast drei Viertel aller untersuchten Länder das Recht auf die Gründung einer Gewerkschaft oder der Beitritt zu einer solchen verweigert wird. Schlecht steht es auch um die Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Sie war in 56 Ländern ganz oder teilweise eingeschränkt, Tendenz steigend. Schlimmer noch, im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen wurden in neun Ländern ArbeiterInnen oder GewerkschaftsführerInnen getötet, sechs dieser Staaten liegen in Südamerika.

Die zehn Länder mit den schlechtesten Arbeitsbedingungen sind gemäss dem GRI: Bangladesch, Brasilien, Kasachstan, Kolumbien, Philippinen, Türkei und Simbabwe, neu auf dieser traurigen Liste figurieren Ägypten, Honduras und Indien. Nicht erfasst wurden hier Länder, in denen aufgrund des Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit keine Garantien mehr für Arbeitnehmerrechte bestehen, wie dies in Burundi, Libyen, Palästina, der Zentralafrikanischen Republik, Somalia, dem Südsudan, Syrien und dem Jemen der Fall ist.

MENA-Region: Verbreitete Rechtlosigkeit

Der Nahe Osten und Nordafrika, die sogenannte MENA-Region (Middle East and North Africa), ist nach wie vor die Region, in der die Arbeitsrechte weltweit am meisten mit Füssen getreten werden. In der Hälfte aller MENA-Länder ist es zu gewalttätigen Übergriffen auf Arbeiter und Arbeiterinnen gekommen. In allen Ländern wurde es in gewissen Fällen Beschäftigten verboten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. 17 von 18 MENA-Staaten haben gegen das Recht auf Tarifverhandlungen verstossen, ausnahmslos alle haben das Streikrecht eingeschränkt oder ganz verboten. An zweiter Stelle in dieser traurigen Rangliste steht der asiatisch-pazifische Raum, auch im Jahr 2020 wurden ArbeitnehmerInnen, Gewerkschaftsmitglieder und -führerInnen eingeschüchtert, wer für seine Rechte einstand, musste sowohl von Regierungs- wie auch von Arbeitgeberseite mit Diskriminierung rechnen. In mehreren Ländern wurden Streiks und Demonstrationen brutal unterdrückt, Gewerkschaftsführer aufgrund fingierter Anklagen verhaftet und zu langen Haftstrafen verurteilt. In 74 Prozent der asiatisch-pazifischen Länder haben Arbeitnehmende keinen oder nur begrenzten Zugang zur Justiz.

Afrika steht an dritter Stelle der untersuchten Regionen. Millionen von Menschen werden dort ihres grundlegenden Schutzes beraubt, Gewalt gegen Gewerkschaftsführer, die Zerschlagung unabhängiger Gewerkschaften oder die ungerechtfertigte Entlassung von Arbeitnehmern sind quasi an der Tagesordnung. In Lateinamerika schliesslich haben in den letzten Monaten die Regierungen Boliviens, Chiles und Ekuadors den Ausnahmezustand ausgerufen und die Strafverfolgungsbehörden haben Massendemonstrationen gegen eine sozial regressive Politik brutal unterdrückt. In Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Ekuador und Honduras haben Menschen ihren Einsatz für die Arbeitsrechte mit dem Leben bezahlt. Der GRI-Index dokumentiert aber auch den schwindenden Respekt der Arbeitsrechte in Europa: Spezielle Erwähnung finden Frankreich und einige osteuropäische Staaten.

Sicher, ein Index, wie ihn der Internationale Gewerkschaftsbund publiziert, wirft immer auch Fragen nach der Methodologie auf. Dies umso mehr als Abermillionen von Arbeitnehmenden schwierig zu erfassen sind, denn sie sind quasi a priori vom rechtlichen Schutz ihrer Arbeit ausgeschlossen: WanderarbeiterInnen, Hausangestellte, Zeitarbeitnehmende, Beschäftigte in der informellen Wirtschaft und in der sogenannten Plattformwirtschaft, zu der die global operierenden Onlinehändler wie Amazon oder Alibaba gehören, können in der Regel nur davon träumen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Doch leider ändert diese Feststellung nichts am dramatischen Befund des GRI-Index.

Kaum Zugang zur Justiz

Ein weit verbreitetes Phänomen – in 103 von 144 untersuchten Ländern – ist die Tatsache, dass Beschäftigte keinen oder nur begrenzten Zugang zur Justiz und in Arbeitskonflikten keine Garantien für ein faires Verfahren haben. Dabei werden bekannte GewerkschaftsführerInnen oft ganz gezielt ins Visier genommen; wer sich für Arbeitsrechte einsetzt, muss mit vielfältiger Art von Repression, mit Verhaftung und Gefängnis rechnen. Ein anderer globaler Trend, den der GRI-Index nachweist, ist die Einschränkung der innerbetrieblichen Demokratie, wozu die Meinungs- und Versammlungsfreiheit als zentrales Element zählt. Der Anteil der Länder, in denen diese Grundrechte eingeschränkt sind, stieg von 26 Prozent im Jahr 2014 auf 39 Prozent im Jahr 2020. Eine weitere besorgniserregende Entwicklung ist die zunehmende Überwachung der Arbeitnehmenden. In den Jahren 2019 und 2020 brachen zahlreiche Skandale aus, die deutlich machten, dass die Regierungen Gewerkschaftsfunktionäre überwachen, um unabhängige Gewerkschaften und ihre Mitglieder einzuschüchtern.

Der IGB stellt jedoch auch vereinzelte positive Entwicklungen fest, wie etwa die Verabschiedung progressiver Gesetze in Vietnam, das nun unabhängigen, von den ArbeitnehmerInnen frei gewählten Organisationen die Ausübung ihrer Tätigkeit gestattet, und in Katar, das eine Reihe wichtiger Reformen durchgeführt hat, die im Januar 2020 in der Abschaffung der Ausreisevisumpflicht gipfelten. Umgekehrt haben Regierungen in anderen Ländern regressive Gesetze verabschiedet, welche die Grundrechte am Arbeitsplatz stark geschwächt haben, so etwa in Belarus.

IGB-Generalsekretärin Sharan Burrow ist überzeugt, dass zu einer Weltwirtschaft, die sich in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln soll, ein neues Engagement für Arbeitnehmerrechte und Rechtsstaatlichkeit gehören muss: «Es bedarf eines neuen Gesellschaftsvertrags, um die Wirtschaft (nach der Coronakrise, Red.) wieder aufzubauen. Wenn wir kein Vertrauen in die Demokratie haben, angefangen bei der Demokratie am Arbeitsplatz, dann gefährden wir das Fundament unserer Gesellschaften.»

Geteilte Verantwortung von Staaten und Unternehmen für die Garantie der Arbeitsrechte


Die 2011 verabschiedeten und von der Schweiz anerkannten UN-Leitprinzipen für Unternehmen und Menschenrechte bilde(te)n die Basis der Konzernverantwortungsinitiative, über die am 29. November abgestimmt wird. Die Leitprinzipien halten fest, dass zu den international anerkannten Menschenrechten auch die acht Kernübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gehören, wie es in der ILO-Erklärung über die Grundprinzipien und Rechte am Arbeitsplatz von 1998 präzisiert wurde. Die UN-Leitprinzipien stellen klar, dass die unternehmerische Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte unabhängig von der Fähigkeit oder Bereitschaft der Staaten besteht, ihrer Pflicht zum Schutz der Menschenrechte nachzukommen. Unabhängig vom Kontext behalten Staaten und Unternehmen diese getrennten, aber sich ergänzenden Verantwortlichkeiten. Die Konzernverantwortungsinitiative verlangt, dass Unternehmen dieser Verantwortung auch in ihren Tochtergesellschaften nachkommen sollen.