Zurück in die «Normalität»?

Mark Herkenrath, Geschäftsleiter Alliance Sud.
22.6.2020
Artikel global
Die Coronapandemie ist eine epochale globale Herausforderung, sie wird sich in vielen Entwicklungsländern auch in eine langjährige wirtschaftliche, politische und soziale Krise übersetzen. Mehr denn je ist internationale Solidarität gefordert.

Die Schweiz und ihre blühende Wirtschaft kehren nach der Coronakrise Schritt für Schritt in die Normalität zurück. Wie sehr sich die «neue» von der «alten» Normalität unterscheiden wird, wird sich zeigen müssen, aber wir flanieren wieder und werden schon bald wieder abstimmen gehen. Die Schweizer Wirtschaft ohne allzu verheerende Schäden durch den Lockdown zu bringen, hat den Bund einiges gekostet. Die Kompensationsmassnahmen dürften der Schweiz mindestens 30 Milliarden Franken neue Schulden beschert haben. Ein stattlicher Betrag, auch wenn er nur rund 4.5% des Bruttoinlandprodukts ausmacht. Die addierten Nationaleinkommen der sieben ärmsten Entwicklungsländer liegen tiefer. Auch die jährlich rund 2.8 Milliarden Franken, die der Bundesrat in den kommenden vier Jahren für die Entwicklungszusammenarbeit aufwenden will, nehmen sich dagegen recht bescheiden aus.

In vielen Entwicklungsländern hat die Pandemie gerade erst ihren Höhepunkt erreicht, in anderen breitet sie sich noch immer rasant aus. Das Epizentrum der Pandemie lag Ende Mai in Lateinamerika. Brasilien verzeichnete Anfang Juni täglich rund 30‘000 neue Ansteckungen, Mexiko rund 4‘000. Auch in Nicaragua und dem mausarmen Haiti wurden täglich mehr neue Fälle gemeldet. Es trifft sich schlecht, dass der Bundesrat just die bilaterale Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika in den kommenden vier Jahren aufgeben will.  

Auch Länder, in denen die Fallzahlen tief geblieben sind, kämpfen heute mit einem Rückgang ausländischer Investitionen, einem drastischen Einbruch der Rohstoffpreise, des Tourismus und der Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten, Exporteinbussen und einer Kapitalflucht historischen Ausmasses. Die ärmsten Bevölkerungsteile, die auch in sogenannt normalen Zeiten von der Hand in den Mund leben müssen, wurden durch die abrupte Schliessung der Wirtschaft in Hunger und Not getrieben. Der internationale Währungsfonds schätzt, dass die Coronakrise weltweit bis zu 60 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut stürzen wird. Die Zahl der unterernährten Menschen dürfte um bis zu 80 Millionen zunehmen. Ebenso beunruhigend ist, dass jene Stimmen aus der Zivilgesellschaft, die sich für die Menschenrechte, den Umweltschutz, eine gerechte Einkommensverteilung oder gegen Korruption einsetzen, zusätzlich unter den Lockdowns leiden. Autoritäre Regime missbrauchen die Schutzmassnahmen gegen die Pandemie bewusst, um progressive politische Kräfte zu unterdrücken. Internationale Menschenrechtsorganisationen berichten über eine alarmierende Zahl von Verstössen gegen die Pressefreiheit und Übergriffen gegen AktivistInnen.

Die Coronapandemie ist nicht nur eine epochale gesundheitliche und humanitäre Herausforderung, sie wird sich in vielen Entwicklungsländern auch in eine langjährige wirtschaftliche, politische und soziale Krise übersetzen. Mehr denn je ist internationale Solidarität gefordert.