Global, Meinung

Mythos Schuldenbremse: Rumpelstilzchen regiert

02.04.2024, Internationale Zusammenarbeit, Finanzen und Steuern

Ist Sparen wirklich das Gebot der Stunde? Ein umfassendes Umdenken ist dringend nötig, denn die Schuldenquote ist die beste Freundin der internationalen Zusammenarbeit. Dank ihr kann es sich die Schweiz mehr als leisten, die Kosten für die Ukrainehilfe ausserordentlich zu verbuchen und so die Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des Globalen Südens zu retten.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Mythos Schuldenbremse: Rumpelstilzchen regiert

Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud. © Daniel Rihs

 

Im Geschichtsstudium haben wir gelernt, dass der wissenschaftliche Fortschritt in den Fussnoten stattfindet. Erfreut habe ich kürzlich festgestellt, dass das auch für Bundesbern gilt. So weist die eidgenössische Finanzverwaltung in einer Fussnote zum Legislaturfinanzplan 23 – 27 auf die Diskrepanz zwischen dem internationalen Standard zur Nachhaltigkeit von Schulden und der Schweizer Praxis hin: Einerseits gibt es das Nachhaltigkeitskonzept, das «dem international von OECD, IWF und EU-Kommission anerkannten Standard (entspricht). Danach sind die öffentlichen Finanzen nachhaltig, wenn die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP (Schuldenquote) auf einem ausreichend tiefen Niveau stabilisiert werden können. Die Schuldenbremse des Bundes ist restriktiver. Sie stabilisiert die Schulden des Bundes zu ihrem nominalen Wert in Franken.»

Auch in Franken waren die Schulden 2022 – trotz Corona – niedriger als 2002 bis 2008, als die Schweiz auch nicht gerade darnieder lag. Aber eben, entscheidend sind sowieso nicht die absoluten Schulden, sondern ihr Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (man kann diesen Satz nicht oft genug sagen). Wie hoch ist denn diese Quote? Schauen wir nach in der jüngsten Ausgabe von «Grundlagen der Haushaltsführung des Bundes», einer Publikation der Finanzverwaltung, die sich an die Parlamentarier:innen richtet. 2022 betrug die Schuldenquote gemäss Maastricht-Definition der EU 26.2% und die Nettoschuldenquote, so wie sie der internationale Währungsfonds IWF berechnet, lag bei 15,3%. Gemäss Legislaturfinanzplan hingegen (der ein Monat nach den «Grundlagen» publiziert wurde) beträgt die Nettoschuldenquote aber 18,1%. Offensichtlich haben nicht nur das Verteidigungsdepartement und der Armeechef ein Problem mit den Zahlen (für 2023 liegt die Quote laut der Finanzministerin in der Frühlingssession bei 17,8%).

«Die Schuldenbremse ist meine beste Freundin», sagte Karin Keller-Sutter gegenüber der NZZ. Uns scheint allerdings eher, dass die Schuldenbremse Rumpelstilzchen ist: «Ach wie gut, dass niemand weiss …». Wobei – und auch diesen Satz kann man nicht oft genug wiederholen –, egal wie man die Schuldenquote der Schweiz misst, sie ist in jedem Fall im internationalen Vergleich lächerlich gering.

«Wiegt der Nutzen tiefer Schulden deren Kosten auf? Denn Schuldenabbau ist nicht gratis. Jeder Franken, der für Rückzahlung von Staatsschulden eingesetzt wird, ist ein Franken, der nicht für andere Staatsleistungen zur Verfügung steht», gibt Marius Brülhart, Volkswirtschaftsprofessor der Uni Lausanne, zu bedenken. Wo er das schreibt, ist ein Silberstreifen am Horizont, in der «Volkswirtschaft» nämlich, dem wirtschaftspolitischen Magazin des SECO. Bei Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der sich für eine ausserordentliche Finanzierung der Ukraine-Kosten (Flüchtlinge und Wiederaufbau) ausspricht, ist das Thema angekommen. Ein umfassendes Umdenken ist dringend nötig, denn die Schuldenquote ist die beste Freundin der internationalen Zusammenarbeit. Dank ihr kann es sich die Schweiz mehr als leisten, die Kosten für die Ukrainehilfe ausserordentlich zu verbuchen und so die Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des Globalen Südens zu retten.

 

Wiegt der Nutzen tiefer Schulden deren Kosten auf? Denn Schuldenabbau ist nicht gratis. Jeder Franken, der für Rückzahlung von Staatsschulden eingesetzt wird, ist ein Franken, der nicht für andere Staatsleistungen zur Verfügung steht.

(Marius Brülhart)

Global Logo

global

Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Studie

Schuldenbremse: kein Grund zum Sparen

05.06.2023, Finanzen und Steuern

Cédric Tille, Professor für internationale Ökonomie am Geneva Graduate Institute, hat im Auftrag von Alliance Sud den finanzpolitischen Spielraum des Bundes für die nächsten fünfundzwanzig Jahre untersucht.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Schuldenbremse: kein Grund zum Sparen

Die Schulden der Schweiz haben in den letzten Jahren markant abgenommen
© Alliance Sud

Cédric Tille kommt in seiner Studie klar zum Schluss: Aus ökonomischer Sicht gibt es für den Bund keinen Grund zu sparen. Im Gegenteil: Die extrem tiefe Staatsverschuldung der Schweiz macht in den nächsten Jahren zusätzliche Investitionen möglich: Bis 2030 stehen gemäss Tille mindestens 15 Milliarden Franken für Mehrausgaben zur Verfügung, bis 2050 sogar 25 Milliarden – ohne dass sich die extrem niedrige Schuldenquote der Schweiz erhöht.

Zwei Faktoren sind für dieses Ergebnis wichtig: Die Zinsen auf Staatsanleihen bleiben für den Bund trotz Zinserhöhungen der Schweizerischen Nationalbank real sehr tief. Zudem sinkt mit der gegenwärtigen Inflation die Verschuldung des Bundes im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP), weil letzteres durch die Inflation steigt. Die Studie legt den grundsätzlichen Irrtum des Bundesrates im Umgang mit der Schweizer Staatsverschuldung offen: Die absolute Zahl in Franken und Rappen ist irrelevant, um die finanzpolitische «Fitness» der Schweiz zu messen. Entscheidend ist der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP. Und hier steht die Schweiz auch im internationalen Vergleich äussert bzw. zu gut da.

Artikel

Sparen aus Leidenschaft

09.03.2023, Finanzen und Steuern

In der Pandemie wurde die Schuldenbremse zum nationalen Heiligtum erklärt. Sie galt als finanzpolitische Voraussetzung für die erfolgreiche Krisenbewältigung der Schweiz. Doch stimmt das wirklich? Ein Ritt durch die Austeritätshölle.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Sparen aus Leidenschaft

Bundesrätin Karin Keller-Sutter, fotografiert im Bundeshaus, Bern, Schweiz.
© Raffael Waldner/13Photo

«Die Bundesfinanzen sind in Schieflage», sagte die neue Schweizer Finanzministerin Karin Keller-Sutter vor ein paar Wochen an einer Medienkonferenz, an der sie die Rechnung des Bundes für 2022 präsentierte und eine finanzpolitische Lagebeurteilung für die nächsten Jahre vornahm. Im letzten Jahr gab es ein Minus von 4,3 Milliarden Franken, auch in den nächsten Jahren drohen hohe Defizite, der Bundesrat will sparen. Doch pflügt man sich durch die Finanzzahlen des Bundes der letzten 20 Jahre und durch die Regeln der Schuldenbremse, zeigt sich: In Schieflage geraten ist vor allem letztere.

Was ist die Schuldenbremse?

Die Schuldenbremse wurde 2003 eingeführt. Sie soll laut Bundesgesetz über den eidgenössischen Finanzhaushalt Einnahmen und Ausgaben des Bundes über einen längeren Zeitraum hinweg im Gleichgewicht halten und so einer stetig wachsenden Verschuldung des Bundes entgegenwirken. Die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) schreibt: «Das Kernstück der Schuldenbremse besteht aus einer einfachen Regel: Über einen Konjunkturzyklus hinweg dürfen die Ausgaben nicht grösser sein als die Einnahmen.» Unter einem Konjunkturzyklus wird in der Regel eine längere Periode verstanden, in der eine Volkswirtschaft verschiedene konjunkturelle Phasen durchläuft: Aufschwung, Hochkonjunktur, Abschwung, Rezession, Aufschwung. Man könnte jetzt meinen, dass sich das Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben über einen solchen Konjunkturzyklus hinweg einstellen muss. Das jedenfalls scheint der obige Satz der EFV zu besagen. Das hiesse: In Jahren der Überschüsse würde der Bund in ein Sparschwein einzahlen, in Jahren der Defizite das Angesparte wieder herausnehmen. Über einen Konjunkturzyklus hinweg müsste der Kontostand des Sparschweins dann bei null liegen. Doch die Schuldenbremse ist eben kein Sparschwein. Das verhindern die Ausgabenregel und die konkreten Bestimmungen zum Ausgleichskonto. Der Sparteufel liegt im Detail.

Die Ausgabenregel

Die Ausgabenregel schreibt vor, dass der Bund in Jahren des starken Wirtschaftswachstums, wenn Unternehmen hohe Gewinne machen, die Löhne und der Konsum steigen und der Staat deshalb mehr Steuereinnahmen generiert, Budgetüberschüsse erzielen muss. In konjunkturschwachen Jahren darf der Bund dafür Defizite schreiben. Gemäss Ausgabenregel genügt es allerdings nicht, dass sich Überschüsse (positive Summe aus Einnahmen minus Ausgaben) und Defizite (negative Summe aus Einnahmen minus Ausgaben) über einen gesamten Konjunkturzyklus hinweg ausgleichen. In guten Jahren sorgt die Ausgabenregel für einen Zwang, Überschüsse zu erzielen. Das bringt den Bund auch in guten Jahren zum Sparen und schränkt seinen finanziellen Handlungsspielraum stark ein. Wenn Sie jetzt ans Eichhörnchen denken, das im Sommer (Jahre mit guter Konjunktur) nicht alle Eicheln auffrisst, die es sammelt, um für den Winter (Jahre mit schlechter Konjunktur) zu sparen, weil dann die Nahrung knapp ist, haben Sie die Sache bis hierher verstanden. Nur: Die Überschüsse in guten Jahren dürfen nicht in die Vorratskammer, um sie in schlechten Jahren zu verfüttern, sondern sie müssen in den Schuldenabbau fliessen. Das «Bundeseichhörnchen» muss seine angesparten Eicheln also gewissermassen an die «Wildschweine» (die Gläubiger des Bundes) abgeben. Es macht in guten Sommern also Diät, muss in harten Wintern dann aber trotzdem hungern – auch wenn ihm das nichts bringt, wie wir später noch sehen werden.

Das Ausgleichskonto

Das Ausgleichskonto ist eigentlich kein Konto. Es ist das Milchbüchlein des Bundes, aber kein Portemonnaie. Man kann dort also kein Geld hineinlegen. Die Eidgenössische Finanzverwaltung nennt es eine «buchhalterische Kontrollstatistik». Im Ausgleichskonto werden Budgetüberschüsse und Budgetdefizite notiert. Liegen die tatsächlichen Ausgaben im Rechnungsabschluss eines Jahres unter den im Rahmen der Budgetierung erwarteten Ausgaben, wird die positive Differenz auf dem Ausgleichskonto «verbucht». Es wird im Milchbüchlein also notiert, wie viel überschüssiges Geld der Bund eingenommen hat und in den Schuldenabbau steckte. Sind die Ausgaben höher als erwartet, wird das im Milchbüchlein entsprechend notiert, fallen sie tiefer aus als erwartet, ebenfalls. Ist der Saldo der notierten Summen negativ, muss dieses Minus in den Folgejahren (wie lange genau, ist nicht festgelegt) wieder ausgeglichen werden. Sprich, der Bund muss in den Folgejahren Überschüsse erwirtschaften (durch Mehreinnahmen oder Ausgabenkürzungen), mit denen das Ausgleichskonto wieder auf null gestellt werden kann. Auch der Schuldenabbau wird dann so lange ausgesetzt, bis der Saldo des Ausgleichskontos wieder im Plus ist.
Im Minus war das Ausgleichskonto aber in seiner 20-jährigen Geschichte der Schuldenbremse noch nie.

Das hat auch mit Glück zu tun: Zwischen 2003 und 2019 erlebte die Schweizer Volkswirtschaft nämlich abgesehen von einer kurzen Rezession während der Finanzkrise von 2008/2009 nur gute bis sehr gute Jahre. So stand dann der Saldo des Ausgleichskontos Ende 2019 mit 27,5 Milliarden Franken im Plus. Aber eben, dieses Geld ist bereits vollständig in den Schuldenabbau geflossen, das Sparschwein blieb leer. Aufgrund der Corona-Krise hat sich der Saldo des Ausgleichskontos nun bis Ende 2022 auf 21,9 Milliarden reduziert. Konsequenzen für den Bundeshaushalt hat diese Reduktion aber nicht, der Saldo ist ja immer noch sehr hoch. Der Schuldenstand des Bundes in Franken und Rappen hingegen hat sich in den letzten zwanzig Jahren vom Höchststand von 128 Milliarden im Jahr 2005 auf 88 Milliarden im Jahr 2019 reduziert. Coronabedingt ist der reale Schuldenstand in den letzten drei Jahren wieder angestiegen, sinkt jetzt aber bereits wieder. Da zudem auch die Wirtschaft stark wuchs, sank auch die Schuldenquote (Schuldensumme im Verhältnis zum BIP).

Der Schuldenstand seit 2005 startete schon von einem sehr niedrigen Niveau aus. Gemäss dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sank er von etwas über 30% auf unter 20% (die Zahlen des Bundes kommen zu einer noch tieferen Nettoverschuldung). Heute ist die Verschuldung der Schweiz im Vergleich mit ihren europäischen Nachbarn und anderen Finanzplatzmächten denn auch geradezu absurd tief (siehe Grafik).

Schweizer%20Staatschulden%20im%20Internationen%20Vergleich%20(Netto%20in%20Prozenten%20des%20BIP).png

© Alliance Sud

Eine Reduktion auf ein auch im internationalen Vergleich so niedriges Niveau ist finanz- und wirtschaftspolitisch eigentlich völlig unnötig. Zu begehrt sind die «Eidgenossen», wie Schweizer Staatsanleihen genannt werden, bei hiesigen Pensionskassen, Anlagefonds oder Finanzinstituten. Investor:innen müssen hier nicht die geringsten Kreditausfallrisiken miteinkalkulieren. Entsprechend tief fallen auch die Schuldzinsen aus, die der Bund für seine Anleihen bezahlen muss – und das auf Jahrzehnte hinaus.

Gleichzeitig beschnitten die Regeln der Schuldenbremse den finanziellen Handlungsspielraum des Bundes in den 2000er und 2010er Jahren aber erheblich: Der gesetzlich festgeschriebene Schuldenabbau verhinderte, dass der Bund Geld zur Seite legen konnte, um es dann in schwierigeren Zeiten wieder auszugeben (das wäre das Sparschwein gewesen). Aber damit nicht genug, es gibt nämlich auch noch das Amortisationskonto.

Das Amortisationskonto

Dieses regelt den Umgang mit ausserordentlichen Einnahmen und Ausgaben des Bundes. Es wurde einige Jahre nach Einführung der Schuldenbremse mit einer Gesetzesänderung zusätzlich geschaffen. Auf dem Amortisationskonto werden ausserordentliche Einnahmen und Ausgaben verbucht – so etwa die Einnahmen aus dem Verkauf der G5-Lizenzen für das Mobilfunknetz oder die sehr hohen ausserordentlichen Ausgaben des Bundes zur Bewältigung der Pandemie. Wenn das Amortisationskonto ins Minus fällt, muss dieses mit Überschüssen aus dem ordentlichen Haushalt innerhalb von sechs Jahre wieder behoben werden. Das ist heute – wegen der auf dem Amortisationskonto verbuchten Corona-Kosten – ein Problem, auch wenn das vor drei Jahren noch ganz anders klang. Zu Beginn der Corona-Krise im März 2020 setzte der damalige Finanzminister Ueli Maurer nämlich ein in der Folge das erfolgreiche Märchen vom Sparschwein in die Welt. Man schrieb den 20. März 2020. Seit einer Woche war die Schweiz im Lockdown.

An einer geschichtsträchtigen Medienkonferenz informierte der Bundesrat darüber, wie er die Schweizer Wirtschaft im Beinahe-Stillstand vor dem Kollaps bewahren will: Maurer stellte die erste Frage dann gleich selbst: «Ja, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen – äh, kann der Bund überhaupt 42’000 Millionen ausgeben, diese 42 Milliarden, das ist wohl die erste Frage, die zu stellen ist.» Die Antwort: «Ich kann Ihnen versichern, dass der Bund das kann, dank dem, dass wir einen sehr robusten Finanzhaushalt haben, dank dem, dass wir die Schulden in den letzten Jahren abgebaut haben, dank dem wir Überschüsse erzielt haben, dank der Schuldenbremse.» Kurz: Maurer behauptete zu Beginn der Pandemie, dass die Corona-Hilfsmassnahmen durch Rücklagen gedeckt seien. Der Finanzminister höchstpersönlich liess die Öffentlichkeit also im Glauben, dass die Schuldenbremse ein Sparschwein sei. Und es funktionierte: Landauf, landab setzte eine Lobhudelei auf die Schuldenbremse ein, finanzpolitische Geizkragen und ideologische Buchhaltermenschen sahen sich bestätigt: «Spare über die Zeit, so hast Du in der Not.» Tatsächlich wurden die Corona-Hilfsgelder nur möglich, weil das Finanzhaushaltsgesetz in Ausnahmesituationen die Aussetzung der Schuldenbremse erlaubt. Das ist in der «Ausnahmebestimmung» geregelt.

Die Ausnahmebestimmung

Die Eidgenössische Finanzverwaltung schreibt: «In aussergewöhnlichen Situationen (so etwa bei Naturkatastrophen, schweren Rezessionen und anderen nicht steuerbaren Entwicklungen) ist es möglich, von der [Ausgaben-]Regel abzuweichen und ausserordentliche Ausgaben zu tätigen. […] Ausserordentliche Ausgaben […] müssen aber innerhalb von sechs Jahren kompensiert werden, sofern sie nicht durch ausserordentliche Einnahmen gedeckt werden können.» Und genau hier stehen wir jetzt. Die Corona-Schulden müssen wieder abgebaut werden. Dazu wurden (z. T. vom Parlament) wegen des Kriegs in der Ukraine und der Bekämpfung der damit verbundenen Inflation und der Kaufkraftkrise noch neue zusätzliche Ausgaben beschlossen. Wären die 27,5 Milliarden tatsächlich ins Sparschwein gelegt worden (oder besser noch investiert worden und damit stark gewachsen), hätte man das Corona-Minus von 32,8 Milliarden ganz einfach damit decken können. Die höhere Schuldenquote (die sich in den nächsten Jahren aufgrund des zu erwartenden BIP-Wachstums von selbst wieder reduziert hätte) hätte keine finanzpolitischen Folgen. Doch das lassen die Regeln der Schuldenbremse nicht zu. Im Parlament gab es Vorstösse in diese Richtung, doch sie blieben chancenlos. Am Ende entschied eine Mehrheit des Parlamentes immerhin, die Hälfte der Kosten für die Corona-Hilfen mit den notierten Überschüssen auf dem Ausgleichskonto aus den vergangenen Jahren zu verrechnen und verlängerte die Frist dieses Abbaus bis 2035. Eine solche Verrechnung ausserordentlicher Ausgaben mit dem Saldo des Ausgleichskontos dürfte es eigentlich gemäss Schuldenbremsen-Regeln gar nicht geben. Das kümmerte das Parlament aber in diesem Fall wenig und so hat es hier kurzerhand einfach eine coronabedingte Ausnahme von der Ausnahmeregel ins Finanzhaushaltsgesetz geschrieben. Es hat in diesem Fall also tatsächlich ein ausserordentliches Teil-Sparschwein exklusiv für Corona-Schulden geboren.

Es zeigt sich: Ob die Schuldenbremse einen realen Spardruck auslöst, hängt wesentlich davon ab, was Bundesrat und Parlament in ihrem Milchbüchlein der Schuldenbremse notieren wollen und was nicht. Die Frage, was tatsächlich finanzierbar wäre, ist nebensächlich. Von den Corona-Schulden bleiben jedenfalls immer noch 16 Milliarden, die der Bund bis 2035 mit Überschüssen aus dem ordentlichen Haushalt abbauen muss. Deshalb will der Bundesrat nun also sparen: vor allem in der Bildung, der Landwirtschaft und nicht zuletzt in der Entwicklungszusammenarbeit. Alles Bereiche, auf die wir dringend angewiesen wären, um unsere Gesellschaft ökologischer, sozialer und sicherer zu machen und einen angemessenen Beitrag der Schweiz zur Bewältigung der Vielfachkrise im Globalen Süden sicherzustellen. Es gäbe heute auch für die Schweiz in der Tat dringendere Probleme, als ihre Staatsverschuldung so tief zu halten, wie sie in den letzten zehn Jahren war. Würde sie um zehn Prozent des BIP oder ca. 50 Milliarden Franken ansteigen, ergäbe das nicht den geringsten volkswirtschaftlichen Schaden, sämtliche gegenwärtigen finanzpolitischen Probleme des Bundes wären auf einen Schlag gelöst und grosse öffentliche Investitionen in eine soziale, nachhaltige und globalsolidarische Schweiz problemlos möglich. Das Geld wäre da, jetzt fehlt «nur» noch der politische Wille, es auch zu nehmen.

Bundesfinanzen

Bundesfinanzen

Die Schweiz hat im internationalen Vergleich eine extrem niedrige Staatsverschuldung. Sie muss ihre exzellente finanzielle Lage nutzen, um eine global gerechte ökologische Transformation in der Schweiz und im Ausland substantiell mitzufinanzieren.

Worum es geht >

Publikationstyp

Worum es geht

Seit 2003 hat die Schweiz eine Schuldenbremse: Sie ist heute sehr rigoros ausgestaltet und wird noch extremer angewendet. Dies führt zu einem automatischen Schuldenabbau, obwohl die Schweiz im internationalen Vergleich schon lange eine tiefe Staatsverschuldung aufweist.

Die Schweizer Sparpolitik um ihrer selbst Willen führt dazu, dass der finanzielle Handlungsspielraum des Bundes bei Investitionen in die nachhaltige Entwicklung unnötig beschränkt bleibt. Zudem setzt diese Politik das Budget für die internationale Zusammenarbeit (IZA) konstant unter Druck, weil die IZA neben der Landwirtschaft, der Armee und bestimmten Bereichen der Kultur einer der wenigen ungebundenen Ausgabenposten im Bundesbudget ist.

Deshalb sind die finanzpolitischen Einflussmöglichkeiten des bürgerlich dominierten Parlamentes gross. In Zeiten der multiplen Krisen ist diese Finanzpolitik nicht mehr angebracht. Die Schweizer Finanzpolitik braucht einen Paradigmenwechsel, der die finanziellen Mittel freimacht, um den immensen gesellschaftlichen Herausforderungen im In- und Ausland gerecht zu werden.

Medienmitteilung

Schuldenbremse: extreme Interpretation widerlegt

05.06.2023, Finanzen und Steuern

Aus ökonomischer Sicht gibt es in der Schweiz keine Gründe, langfristig im Staatshaushalt zu sparen. Das zeigt eine neue Studie im Auftrag von Alliance Sud. Sie widerlegt das Mantra, wonach die Bundesfinanzen «in Schieflage» seien.

Schuldenbremse: extreme Interpretation widerlegt
Karin Keller-Sutter: Finanzministerin und «Sparfüchsin».

Der Ökonom Cédric Tille, Professor am renommierten Geneva Graduate Institute und ehemaliges Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank, hat im Auftrag von Alliance Sud den finanzpolitischen Spielraum des Bundes für die nächsten fünfundzwanzig Jahre untersucht. Er kommt klar zum Schluss: Aus ökonomischer Sicht gibt es für den Bund keinen Grund zu sparen. Im Gegenteil: Die extrem tiefe Staatsverschuldung der Schweiz macht in den nächsten Jahren zusätzliche Investitionen möglich: Bis 2030 stehen gemäss Tille mindestens 15 Milliarden Franken für Mehrausgaben zur Verfügung, bis 2050 sogar 25 Milliarden – ohne dass sich die extrem niedrige Schuldenquote der Schweiz erhöht.

Zwei Faktoren sind für dieses Ergebnis wichtig: Die Zinsen auf Staatsanleihen bleiben für den Bund trotz Zinserhöhungen der Schweizerischen Nationalbank real sehr tief. Zudem sinkt mit der gegenwärtigen Inflation die Verschuldung des Bundes im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP), weil letzteres durch die Inflation steigt. Die Studie legt den grundsätzlichen Irrtum des Bundesrates im Umgang mit der Schweizer Staatsverschuldung offen: Die absolute Zahl in Franken und Rappen ist irrelevant, um die finanzpolitische «Fitness» der Schweiz zu messen. Entscheidend ist der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP. Und hier steht die Schweiz auch im internationalen Vergleich äusserst bzw. zu gut da.

«Die Studie von Cédric Tille bestätigt, dass das in der Staatsrechnung 2022 ausgewiesene Defizit von 1,6 Milliarden Franken absolut verkraftbar ist», kommentiert Dominik Gross, Experte für Finanzpolitik bei Alliance Sud, dem Schweizer Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. «Der Schuldenstand des Bundes wird auch ohne Sparmassnahmen und bei sehr konser-vativen Schätzungen von einem äusserst niedrigen Niveau aus weiter sinken», so Gross. Die rein ideologisch motivierte rigorose Anwendung der Schuldenbremse erzeuge einen künstlichen Spardruck. «Hier gibt es aber auch rechtlichen Spielraum, ohne die Schuldenbremse grundsätzlich infrage stellen zu müssen.»

Der Globale Süden braucht wie die Ukraine mehr Unterstützung

Die Ergebnisse der Studie sind brisant, weil der Bundesrat mit Verweis auf den Bundeshaushalt bis 2028 aus dem Budget für die Entwicklungszusammenarbeit 1,8 Milliarden Franken in die Ukraine umleiten will. «Das Aushungern des Bundesbudgets geht auf Kosten der Menschen in den Entwicklungsländern, die schon jetzt unter den dramatischen Folgen des Krieges leiden und anders als die Schweiz tatsächlich mit einer Schuldenkrise konfrontiert sind», sagt Andreas Missbach, Geschäfts¬leiter von Alliance Sud.

Mit Blick auf die Finanzierung des Wideraufbaus in der Ukraine zeigt die Studie deutlich, dass die Schweiz ihre internationale Solidarität stärken kann und muss: «Der Bund hat einen finanziellen Spielraum in Milliardenhöhe, der mehr Geld für die Ukraine und gleichzeitig den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit in ärmeren Ländern erlaubt», sagt Missbach: «Beides ist dringend nötig und dient auch der Sicherheit der Schweiz.»

 

Für weitere Informationen:
Andreas Missbach, Geschäftsleiter Alliance Sud, Tel. +4131 390 93 30, andreas.missbach@alliancesud.ch

Dominik Gross, Verantwortlicher Steuer- und Finanzpolitik bei Alliance Sud, Tel. +4178 838 40 79, dominik.gross@alliancesud.ch

Cédric Tille, Professor für internationale Ökonomie am Geneva Graduate Institute, Centre for Finance and Development, und Research Fellow Center for Economic Policy Research (CEPR) London, Tel. +4179 668 74 42, cedric.tille@graduateinstitute.ch

Die Studie finden Sie hier.