Seit fast 34 Jahren ist Lavinia Sommaruga das Gesicht von Alliance Sud in der italienischsprachigen Schweiz. Im nächsten Frühling geht sie in Pension, sie wird aber weiter für eine verantwortungsbewusstere und solidarischere Welt kämpfen. Interview von Valeria Camia.
Über 150 junge Menschen haben im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte in Ihrem Büro in Lugano mitgearbeitet. Lassen Sie mich gleich mit diesem Thema beginnen: Im Kampf für die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde vertrauen Sie auf die junge Generation. Sind das Werte, die auch Ihre Jugend geprägt haben?
Lavinia Sommaruga: Ich bin in einer Familie mit einer humanistischen Kultur und einem ausgeprägten sozialen Engagement aufgewachsen. Begegnungen mit Frauen aus dem Norden und Süden und die Lektüre von Schriftstellern aus verschiedenen Kulturen brachten mich zum Nachdenken. Auf Haiti erlebte ich unter Baby Doc (1986) den sogenannten «Sklavenverkauf» mit. Eines Abends wurde ich Zeugin, wie zwanzig hungrige junge Menschen getötet wurden, weil sie für bessere Lebensbedingungen demonstrierten und um ein Stückchen Brot baten. Damals wurde mir klar, dass mein Leben im Zeichen des Einsatzes für veränderte wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Strukturen zugunsten der Ärmsten stehen würde.
Und Alliance Sud gab Ihnen die Möglichkeit, dieses Ziel zu verfolgen, das fast zu einer Lebensaufgabe wurde...
Bei Alliance Sud stiess ich auf Kolleginnen und Kollegen, deren Arbeit nie ideologisch geprägt, sondern von der intellektuellen Aufrichtigkeit angetrieben war, sich gegen Ungleichheit und für die Menschenrechte einzusetzen. Im Laufe der Jahre haben wir uns gemeinsam gegen Armut (vgl. die Petition «0,7% – gemeinsam gegen Armut» im Jahr 2007) und für die Grundsätze der Entwicklungszusammenarbeit – Partizipation, Partnerschaft, Nachhaltigkeit, Empowerment, Geschlechtergleichstellung und das Do-No-Harm-Prinzip eingesetzt. Unsere Erfolge beruhten auf dem Engagement und dem Mut vieler Menschen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die an die Werte der Gastfreundlichkeit, der Solidarität und der Freundschaft glaubten. Sie haben sich die Argumente und den Antrieb zu eigen gemacht, die uns als Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit motivieren, um die Schwächsten zu unterstützen und für echte Veränderungen zu kämpfen.
Sie haben die Kampagnen von Alliance Sud angesprochen: Können Sie uns an einige erinnern, die Sie besonders geprägt haben?
Die ersten beiden betreffen Themen, die heute wieder von grosser Aktualität sind. Die zeitlich gesehen erste Kampagne zielte auf die Förderung der Zuckerimporte aus Entwicklungsländern ab; wir unterlagen 1989 leider mit nur sechs Stimmen Unterschied im Parlament. Anfang Mai dieses Jahres war die Stützung der einheimischen Zuckerproduktion aus Zuckerrüben wieder eines der Hauptthemen der Sondersession des Nationalrates. Die zweite Kampagne betraf die Beziehungen zwischen der Schweiz und der UNO. Ich war sehr dankbar für das Engagement der Entwicklungsorganisationen für die Mitgliedschaft unseres Landes bei den Vereinten Nationen. Das war 2002. Heute steht das Verhältnis der Schweiz zur UNO wieder im Zentrum der Medienaufmerksamkeit, kandidiert doch die Schweiz gerade für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Ohne unsere Unterstützung damals wäre dies vielleicht heute nicht möglich. Auch an die 2015 lancierte Konzernverantwortungsinitiative erinnere ich mich gut. Sie war nicht nur wegen der Mobilisierung der Organisationen der internationalen Zusammenarbeit ein Erfolg, sondern auch dank des Engagements von Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Kirchen, Frauenverbänden, sozialen Aktionärsorganisationen, Jugendlichen und Bürgerinnen und Bürgern.
Daran zeigt sich, dass Sie und Alliance Sud sich für eine verantwortungsvollere Welt einsetzen: Welche Rolle spielt dabei die Lobbyarbeit?
Sie nimmt deshalb einen zentralen Platz ein, weil es unsere Aufgabe ist, durch ein kohärentes Vorgehen die Politik zu beeinflussen und bessere Bedingungen für die arme und benachteiligte Bevölkerung des Südens einzufordern. Unser Land hat nicht nur die Macht, sondern auch die moralische Pflicht, gegenüber den armen Ländern des Südens eine gerechte und solidarische Politik zu gestalten und so die Menschenwürde, die lokalen Gemeinschaften und die Umwelt zu schützen.
Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass mein Engagement für die Entschuldungspolitik in Hinblick auf die 700-Jahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft (1991) vom damaligen Bundesrat Flavio Cotti unterstützt wurde (als Schweizer NGOs 1989 die Petition «Entwicklung braucht Entschuldung» lancierten). Die Petition war erfolgreich und wurde auch vom Parlament angenommen. 500 Millionen wurden damals für den Schuldenerlass gesprochen und die anschliessende Umsetzung der Entschuldungsmassnahmen wurde gemeinsam von Bund und NGOs umgesetzt. Das Thema ist weiterhin aktuell: Die Länder des Südens werden in bestimmten entwicklungspolitischen Bereichen noch immer durch ihre angehäuften Schulden gebremst, und es ist abzusehen, dass die Klimakrise die Haushalte noch stärker belasten wird.
Ich weiss zufällig, dass Sie gerne nähen. Könnte man die Metapher verwenden, dass in der italienischsprachigen Schweiz ein beeindruckendes Beziehungsgeflecht entstanden ist?
(Lacht) Ja, es ist wirklich ein schönes Geflecht! Bei meiner Arbeit durfte ich etliche Verbände und Freiwillige treffen, die die Kampagnen unserer Entwicklungsorganisationen mittragen und sich an ihren Arbeitsplätzen, in ihren Gemeinden, Schulen oder auf der Strasse beispielsweise für Ernährungssouveränität, das Recht auf Trinkwasser, fairen Handel und die Friedensförderung einsetzen. Alliance Sud hat die von den Industrieländern dominierte Politik der internationalen Entwicklungszusammenarbeit stets kritisch begleitet. Ich erinnere daran, dass wir gemeinsam mit allen Verbänden, die an der Petition «0,7% - gemeinsam gegen Armut» beteiligt waren, Unterschriften gesammelt, Pressekonferenzen, Themenabende und eine Vorlesungsreihe an der Universität der italienischen Schweiz organisiert haben, um die Bevölkerung zu sensibilisieren. Nach einem harten Kampf können wir feststellen, dass der derzeitige Prozentsatz von etwa 0,5% des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die öffentliche Entwicklungshilfe, wie er von den eidgenössischen Räten beschlossen wurde, das Ergebnis der von Alliance Sud lancierten Kampagne ist. Das von uns weiterhin angestrebte Ziel ist, dass die Schweiz die auf internationaler Ebene festgelegten 0,7% des BNE erreicht.
Zum fünfzigjährigen Bestehen von Alliance Sud blicken Sie auf über dreissig Jahre Tätigkeit zurück: Wie beurteilen Sie die erzielten Resultate und was bringt uns die Zukunft?
Die wachsenden sozialen Ungleichheiten, die Diskriminierung der Frauen (Armut ist vor allem weiblich) und die Umweltschäden sind für alle sichtbar. All dies muss uns dazu veranlassen, weiterhin zu mobilisieren und zu handeln, um beispielsweise ein Handelssystem zu fördern, das sich den Menschenrechten und der Umwelt unterordnet.
Neben dem Dialog mit der Regierung, der Wirtschaft und der Gesellschaft müssen wir auch mit jedem und jeder Einzelnen in Kontakt treten. Wir müssen versuchen, gemeinsam Lösungen für das komplexe Phänomen der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung zu finden, damit sie nicht weiterhin Ausgrenzung und Marginalisierung verursacht, sondern stattdessen Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Verantwortung auf der Grundlage der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung begünstigt. Mein Leben wird deshalb weiterhin, auch auf persönlicher Ebene, im Zeichen der politischen Debatte, der Verantwortung und der Partizipation stehen.