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«Armut ist politisch gewollt»

05.10.2020, Internationale Zusammenarbeit

Der abtretende UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut verabschiedet sich mit einem alarmierenden Bericht. Das Narrativ, das Elend gehe zurück, basiere auf zweifelhaften Zahlen. Und es überschätzt die Rolle der Entwicklungszusammenarbeit.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

«Armut ist politisch gewollt»
Philip Alston, der frühere Uno-Sonderberichterstatter über extreme Armut und Menschenrechte bei einem Besuch des Dorfs Kampung Numbak in der Provinz Sabah, Malaysia.
© Bassam Khawaja

Der Australier Philip Alston (70), Professor für Völkerrecht und Menschenrechte an der New York University School of Law, eröffnet mit seinem Abschlussbericht als UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut eine dringend notwendige Debatte. Immer wieder hören wir von Regierungen, den Medien und auch aus Entwicklungsorganisationen, die globale Armut sei in den letzten Jahrzehnten massiv zurückgegangen, nicht zuletzt dank der grosszügigen Hilfe der reicheren Länder.

Die Erzählung von der massiven Armutsreduktion stützt sich in der Regel auf die Messgrösse der Weltbank, welche die Grenze für die extreme Armut bei 1.90 US-Dollar pro Tag festlegt. Diese willkürliche Zahl ergibt sich aus dem Durchschnitt der national festgelegten Armutsgrenzen von 15 der ärmsten Länder der Welt. Auf dieser Basis soll die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen von 1,895 Milliarden im Jahr 1990 auf 736 Millionen im Jahr 2015 gefallen sein und sich damit von 36 auf 10 Prozent der Weltbevölkerung verringert haben. Oft verschwiegen wird, dass es sich dabei keinesfalls um einen globalen Trend handelt – in Sub-Sahara Afrika und dem Mittleren Osten ist in dieser Zeitspanne die Zahl der in Armut lebenden Menschen gar um 140 Millionen angestiegen. Eher bekannt ist die Tatsache, dass die Armutsreduktion vor allem in China stattfand, dort ist die Anzahl extrem armer Menschen in der betreffenden Zeitspanne laut Weltbank-Messung von 750 Millionen auf 10 Millionen gesunken.

Es lohnt sich, die Statistiken, auf denen diese Schätzungen basieren, genauer anzuschauen. Die erwähnte Armuts-Messlatte ist nicht angepasst an die unterschiedlichen Grundbedürfnisse in einzelnen Ländern oder Regionen, sondern wird als absoluter und konstanter Wert gehandelt – angepasst einzig an die Kaufkraft-Parität.[1] So beträgt die kaufkraftbereinigte Armutsgrenze beispielsweise in Portugal 1.41 Euro, was selbstverständlich kaum fürs nackte Überleben reicht. Aber auch in den meisten Entwicklungsländern sind die nationalen Armutsgrenzen weit höher angelegt als die 1.90 US-Dollar der Weltbank – dementsprechend verzeichnen nationale Statistiken weit höhere Armutsraten als jene, die sich auf die Weltbankberechnung abstützen. Zwei Beispiele: Thailand kennt laut Weltbank null extreme Armut, die nationalen Statistiken weisen 9% aus, in Südafrika ist der Unterschied 18.9% versus 55%.

Nimmt man eine realistischere, allerdings ebenso willkürliche Armutsgrenze von 5.50 US-Dollar pro Tag, so sehen die globalen Statistiken weniger rosig aus: Die Zahl der Armutsbetroffenen ist dann zwischen 1990 und 2015 von 3.5 auf 3.4 Milliarden gefallen (oder von 67% auf 46% der in dieser Zeit stark gewachsenen Weltbevölkerung). Auch diese Rechnung blendet allerdings aus, dass viele von Armut betroffene Menschen wie Obdachlose, Wanderarbeiter, Flüchtlinge oder Hausangestellte gar nicht erst in Armutsstatistiken erfasst werden, da diese grundsätzlich auf Haushaltsbefragungen basieren. Auch geschlechtsspezifische Armutsunterschiede spiegeln die Statistiken nicht wider.

Der Klimawandel, die Coronakrise und die damit verbundene massive wirtschaftliche Rezession in vielen Ländern verschärfen die gravierende Armut noch zusätzlich. Die Weltbank rechnet damit, dass aufgrund des Klimawandels zusätzlich 100 Millionen Menschen in die extreme Armut (gemessen an 1.90 US-Dollar pro Tag) abrutschen werden und dass durch die Coronakrise weitere bis zu 60 Millionen Menschen in die extreme Armut zurückfallen werden. Mit realistischeren Messgrössen sähen diese Zahlen noch um einiges bedrückender aus.

Hat die Entwicklungszusammenarbeit versagt?

Nun könnte man den Schluss ziehen, dass die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) versagt habe, wenn die extreme Armut immer noch enorm hoch ist. Diese Argumentation räumt der EZA allerdings eine Macht und einen Einfluss ein, die sie schlichtweg nicht hat. Alston zeigt in seinem Bericht auf, dass im Jahr 2019 die OECD-Länder 152.8 Milliarden US-Dollar in Form von Zuschüssen oder günstigen Krediten an Entwicklungsländer vergeben haben. Gleichzeitig leisteten die ärmsten sowie die Länder mittleren Einkommens jährlich 969 Milliarden US-Dollar Schuldenrückzahlungen, wovon 22 Prozent oder 213 Milliarden nur aus Zinsen bestanden, also keinen Entwicklungsnutzen entfalten konnten. Vielleicht noch dramatischer sind die Milliarden, die den Entwicklungsländern jährlich aufgrund von Gewinnverschiebungen multinationaler Firmen[2] und unrechtmässiger Finanzflüsse entgehen, oder den Verlusten, die sie aufgrund ungleicher Handelsbeziehungen erleiden.

Die EZA hat nachweislich vielen Menschen geholfen, aus der bittersten Armut zu entfliehen, und die Lebensbedingungen der Bedürftigsten massiv verbessert – gerade in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und Reduktion der Müttersterblichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. Aber all das nützt wenig, wenn gleichzeitig immer mehr Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, um der kommerziellen Landwirtschaft, der Rohstoffgewinnung oder dem Bau massiver Infrastrukturprojekte, die meist einseitig der Exportförderung dienen, zu weichen. Immer noch werden Länder durch die Kredite der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) bzw. die daran geknüpften Konditionalitäten gezwungen, Sozialausgaben zu kürzen, ihren Handel zu deregulieren und Steuerprivilegien für ausländische Investoren zu gewähren. Auch heute – im postkolonialen Zeitalter – bleiben die meisten Entwicklungsländer Rohstofflieferanten für den Rest der Welt, gefangen in einem Netz aus Schulden, ungleichen Handelsbeziehungen, Steuerflucht und Korruption. Die EZA mit ihren vergleichsweise bescheidenen Mitteln bleibt unter diesen Umständen nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein.

UN-Sonderberichterstatter Alston schreibt denn auch prägnant: «Poverty is a political choice». Die Armut ist eine politische Entscheidung – Menschen verharren in Armut, solange andere davon profitieren. Den in den reichen Ländern angesiedelten Firmen bleibt es erlaubt, auf Kosten der Ärmsten massive Profite zu erwirtschaften, und wir KonsumentInnen sollen die anderswo kostengünstig produzierten Waren (Nahrungsmittel, Kleider, elektrische Geräte u.v.m.) kaufen.

Ungleichheit ins Zentrum rücken

Alston plädiert darum folgerichtig dafür, nicht allein die Armut, sondern die Ungleichheit ins Zentrum der Debatte zu stellen. Mit dieser Forderung ist Alston bei weitem nicht allein. Auch der deutsche Exekutivdirektor bei der Weltbank, Jürgen Zlatter, verlangt in einem kürzlich veröffentlichten Papier, die Weltbank solle sich stärker auf die Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern fokussieren. So zitiert er etwa den Ökonomen Thomas Piketty, um aufzuzeigen, dass in der gleichen Zeitspanne, in der laut Weltbank die Armut massiv gesunken ist, die Ungleichheit massiv angestiegen ist. So sind zwischen 1980 und 2014 die Einkommen (nach Steuern) der unteren 50% der Weltbevölkerung um 21% angestiegen, während die Einkommen der oberen 10% um 113% gewachsen sind. Die Einkommen der obersten 0.1% der Weltbevölkerung haben in der gleichen Zeitspanne gar um 617% zugenommen! So besitzt heute das reichste 1% der Weltbevölkerung doppelt so viel wie die ärmsten 6.9 Milliarden Menschen.

Zlatter zeigt auf, wie die Politik der 1980er und 1990er Jahre in vielen Ländern die Gewerkschaften schwächte, Sozialleistungen gekürzt und die Progressivität von Einkommenssteuern verringert wurden. Die zunehmende Liberalisierung des Handels und das Entstehen von globalen Wertschöpfungsketten hätten die Marktmacht einzelner Unternehmen massiv gestärkt und zu einem globalen race to the bottom bei den Löhnen geführt. Zugleich habe die Liberalisierung des Finanzsektors massiv dazu beigetragen, die Ungleichheit zu erhöhen, schreibt Zlatter. Zwar unterlässt der Autor eine direkte Kritik an der Weltbank, doch sind es genau diese Liberalisierungs- und Deregulierungsmassnahmen, welche die Weltbank und der IWF den Entwicklungsländern nach wie vor aufzwingen.

Einig sind sich Weltbank-Ökonom Zlatter und UN-Sonderberichterstatter Alston darin, dass Ungleichheit und soziale Umverteilung ins Zentrum der Debatte rücken müssen – nicht nur innerhalb der Weltbank, sondern auch in der breiteren Armutsdebatte. Als zentralen Ansatzpunkt nennen sie dabei einen starken Fokus auf Steuergerechtigkeit. Die Alternative dazu ist düster: Der voranschreitende Klimawandel und die wirtschaftlichen Verheerungen der Coronakrise werden nicht nur massiv mehr Menschen in die Armut stürzen, sondern es ist auch mit wachsenden sozialen Unruhen, Konflikten und Protestbewegungen zu rechnen.

[1] Die Kaufkraft-Parität wird berechnet, indem ausgehend davon, was man mit 1.90 US-Dollar in den USA kaufen kann, ermittelt wird, wieviel Geld in den anderen Ländern benötigt wird, um die gleichen Dinge zu besorgen.

[2] Laut einem Forschungsprojekt rund um den Ökonomen Gabriel Zucmann, haben multinationale Firmen 2017 741 Milliarden Dollar in Steueroasen verschoben, 98 Milliarden davon flossen in die Schweiz. Leider gibt es für die meisten Gewinnverschiebungen aus Entwicklungsländern nur unzureichende Daten – vorhandene Daten sind allerdings besorgniserregend. So entgehen Nigeria jährlich etwa 18% an Körperschaftssteuereinnahmen, Südafrika 8% und Brasilien 12%.

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