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Die mystische Welt von San Blas

22.03.2024, Weitere Themen

An Panamas Ostküste liegt ein Archipel, bestehend aus mehr als 350 Inseln. Es ist das autonome Gebiet der Gunas, einer indigenen Gemeinschaft, die zwischen Fluch und Segen der Moderne hin- und hergerissen ist. Von Karin Wenger

Die mystische Welt von San Blas

San Blas, ein Archipel an Panamas Ostküste, wird von den Gunas, ca. 50 000 Personen, bewohnt und als autonomes Gebiet Guna Yala verwaltet.   © Karin Wenger

Wie eine mystische Märchenwelt wirkt das Inselparadies San Blas, als wir langsam an den winzigen Inselchen vorbeisegeln. Hunderte von kleinen Sandhaufen liegen hier verstreut im glasklaren, türkisfarbenen Wasser. Auf manchen stehen ein paar Kokospalmen, ein oder zwei Hütten mit Palmblattdächern, auf anderen leben nur Pelikane oder Sandflöhe. San Blas wird von den Gunas, ca. 50 000 Personen, bewohnt und als autonomes Gebiet Guna Yala verwaltet.

Vor der Insel Salardup werfen wir Anker. Es geht nicht lange und zwei Gunas, die Fische und Langusten zum Verkauf anbieten, paddeln vorbei. Wenig später tuckert ein weiteres Boot heran. Eine Frau hält eine Küchenschürze und einen Weinflaschenhalter aus bunten, übereinander gestickten Stoffen hoch, traditionelle Molas, Stickereien, die in alter Tradition die bösen Geister abhalten sollen. Die Frau ist im ganzen Archipel als Mola Lisa bekannt. Als sie vor 62 Jahren zur Welt kam, war sie kein Mädchen, sondern ein Junge. «Als ich sechs Jahre alt war, merkte meine Mutter, dass ich anders bin, einzigartig. Sie lehrte mich, Molas zu fertigen, erklärte mir die mystische Bedeutung der verschiedenen Stickereien und kleidete mich in Mädchenkleider. Mädchen und Frauen sind bei uns die Hüterinnen von Tradition und Wissen, und wenn ein Junge ein Mädchen sein will, wird das willkommen geheissen.»

Mola Lisa ist eine «Omeggid», was in der Sprache der Gunas «wie eine Frau» bedeutet. Mola Lisa ist zwar nicht verheiratet, aber sie hat die Erziehung ihrer Nichte und ihres Neffen übernommen, nachdem deren Vater die Familie verlassen hat. Sie verrichtet die gleichen Arbeiten wie andere Frauen und hat auf ihrer Insel die Stellung einer Frau. Das bringt in einer Gemeinschaft wie jener der Gunas viel Ansehen. Bei den Gunas haben bis heute die Frauen das Sagen, auch wenn die meisten offiziellen Posten von Männern besetzt werden. Doch es sind die Frauen, die das Geld und den Besitz verwalten und wichtige Entscheide in der Familie fällen. Nach der Hochzeit ziehen die Ehemänner zu den Familien ihrer Bräute. Die wichtigsten Feiern, wie beispielsweise der Übertritt in die Pubertät, werden für Frauen abgehalten. «Noch heute pflegen wir unsere Traditionen. Sie sind es, die uns Zusammenhalt geben und schützen», sagt Mola Lisa.

Smartphones, Segelboote und Strassen

Schützen vor was? Vor den Veränderungen. Tourist:innen und moderne Kommunikationsmittel haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Einzug auf dem Archipel gehalten. «Als ich vor 16 Jahren mit meinem Segelboot hier angekommen bin, musste ich Ersatzteile per Schiff oder mit einem winzigen Propellerflugzeug einfliegen lassen, weil es noch keine Strasse durch den Dschungel gab. Telefonverbindungen existierten nicht, Internet auch nicht», erinnert sich die 82-jährige Amerikanerin Susan Richter, die den Archipel zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. Jetzt gibt es eine geteerte Strasse durch den Dschungel, die direkt von San Blas nach Panama Stadt führt. Seit die Regierung einen Mobilfunkmasten auf einer Insel errichtet habe, seien auch die Gunas über ihre Smartphones, die ebenfalls die Inseln erobert hätten, mit der Welt verbunden. Susan war eine der ersten Segler:innen, die sich mit ihrem Schiff hier niedergelassen hat, doch längst wurde das Archipel von Charter-Anbietern und anderen Seglern als Geheimtipp entdeckt. Mit den ausländischen Gästen kamen die Dollars.

 

Abfall an einem Strand von San Blas.

Traditionalist:innen machen den Tourismus für das wachsende Abfallproblem verantwortlich.
© Karin Wenger

Mola Lisa im Wald von San Blas. Sie trägt Crocs und hält ihr Smartphone in der Hand.

Zwischen Tradition und Moderne: Seit die Regierung einen Mobilfunkmasten errichtet habe, seien auch die Gunas mit der Welt verbunden, sagt Mola Lisa.   © Karin Wenger

 

«Früher waren Kokosnüsse unsere Währung, heute dreht sich alles ums Geld. Jeder von uns will es haben», sagt der 73-jährige Guna Victor Morris. Er lebt mit seiner Frau und vier weiteren Familien auf einer Insel neben einem besonders beliebten Ankerplatz. Hier schwimmen Stachelrochen und Ammenhaie an den Booten vorbei, doch Fische sieht man kaum noch. Die Langusten, die die Gunas aus ihren Kanus feilbieten, sind meist noch klein und jung. Selbst in der Schonzeit von März bis Mai würden sie gejagt und zum Verkauf angeboten, sagt die Seglerin Richter. Auch Mola Lisa spricht von Überfischung: «Als ich Kind war, fischten wir mit Leinen aus Holzkanus. Heute sind die meisten unserer Boote motorisiert und wir haben Schleppnetze. Früher fischten wir dreissig, vierzig Fische am Tag und verteilten sie unter allen Dorfbewohner:innen. Heute gibt es viel weniger Fischer und was wir fangen, verkaufen wir an die Tourist:innen.»

 

Wenn wir lernen, unsere Traditionen zu schützen, und gleichzeitig unser Wissen über moderne Zusammenhänge erweitern, werden Tourismus, Geld und Öffnung ein Segen sein. Wenn nicht, sind sie ein Fluch.

 

Während die Traditionalist:innen in den Dörfern die Tourist:innen für den Fischmangel und auch das wachsende Abfallproblem verantwortlich machen, sagt Mola Lisa: «Nicht die Tourist:innen sind schuld, wir sind es. Wir haben die Tourist:innen willkommen geheissen, weil wir ihr Geld wollten. Wir fangen zu viele Langusten und Fische, weil wir nicht verstehen, dass wir uns damit unsere Lebensgrundlage zerstören.» Eigentlich gäbe es Regeln, aber das Archipel ist so gross, und Regeln durchzusetzen, wo jemand sie brechen wolle, sei schwierig. Das Einzige, was helfen würde, sei Ausbildung, das Verständnis für Zusammenhänge, Verantwortung, sagt Mola Lisa, die ihre Nichte und ihren Neffen deshalb nach Panama zur höheren Ausbildung geschickt hat. Dann verabschiedet sie sich.

 

Zwei Männer auf einem kleinen mit Lebensmitteln gefüllten Boot in San Blas.

Laut Mola Lisa wurde früher mit Leinen in Holzkanus gefischt. Heute werde mit motorisierten Booten, Schleppnetzen und dem erhöhten Bedarf durch den Tourismus Überfischung zunehmend ein Problem.
© Karin Wenger

 

Auf ihrer Insel hat eben ein grosser Kongress der «Sailas», der Amtsträger des Archipels, begonnen. Vier Tage lang werden sie altes Wissen ihrer Gemeinschaft an die Jungen weitergeben. Tourist:innen haben in dieser Zeit keinen Zutritt zu ihrer Insel. «Wenn wir lernen, unsere alten Traditionen zu schützen, und gleichzeitig unser Wissen über die modernen Zusammenhänge erweitern, werden Tourismus, Geld, Öffnung ein Segen sein. Wenn nicht, sind sie ein Fluch», sagt Mola Lisa, startet den Motor ihres Boots und fährt davon.

 

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Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.

Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

© Karin Wenger