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Die Schweiz muss die Energiecharta kündigen

05.12.2022, Handel und Investitionen

Die Energiecharta schützt Unternehmen, die in fossile Energieträger investieren. Immer mehr Länder steigen aus dem Vertrag aus, während die Schweiz weiterhin die Energiewende ausbremst.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Die Schweiz muss die Energiecharta kündigen

Das Nord-Stream-Gasleck in der Ostsee, fotografiert vom Satelliten Pléiades Neo.
© AFP Photo / Airbus DS 2022 / Keystone

2019 klagte die Nord Stream 2 AG gegen den Beschluss der EU zur Änderung einer neuen Gasrichtlinie, wonach für Pipelines, die innerhalb der EU betrieben werden, dieselben Auflagen gelten sollen wie für solche, die in die EU hineinführen. Laut dem Unternehmen verstiessen diese Bestimmungen unter anderem gegen die Gebote der gerechten und billigen Behandlung, der Meistbegünstigung und der indirekten Enteignung, die Bestandteil des Vertrages über die Energiecharta (ECT) sind.

Zur Erinnerung: Nord Stream 2 hätte Erdgas von Russland nach Deutschland befördern sollen, die Betreibergesellschaft – ein Schweizer Unternehmen – ging jedoch Anfang des Jahres in Konkurs. Sie gehörte zwar dem russischen Staatskonzern Gazprom, hatte aber ihren Sitz in Zug. Die umstrittene Pipeline wurde nie in Betrieb genommen, da Deutschland das Projekt am 22. Februar im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine blockiert hatte.

Sechs Klagen von Schweizer InvestorInnen

Von den 43 bekannten Schiedsklagen von Schweizer InvestorInnen basieren sechs auf der Energiecharta: Drei wurden gegen Spanien erhoben. Davon sind zwei noch hängig und eine wurde vom Investor Operafund gewonnen; dieser warf Madrid Reformen im Bereich der erneuerbaren Energien, darunter eine Umsatzsteuer von 7% und eine Kürzung der Subventionen für die Energieerzeuger, vor. Alpiq verlor eine Klage gegen Rumänien und eine weitere gegen Polen ging zu Ungunsten des Schweizer Investors Festorino aus.

Spanien sieht sich mit einer Rekordzahl von 50 Klagen auf der Grundlage des umstrittenen Vertrags konfrontiert. Nach Berechnungen des Transnational Institute belaufen sich die von ausländischen Investoren geforderten Entschädigungen auf mindestens 7 Milliarden Euro. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Spanien, ebenso wie Frankreich, Polen, die Niederlande und Deutschland, beschlossen hat, den Vertrag zu kündigen. Auch Belgien und weitere europäische Länder erwägen derzeit einen Ausstieg. «Ich beobachte die Rückkehr der Kohlenwasserstoffe und der umweltschädlichsten fossilen Energien mit Sorge», wird der französische Präsident Emmanuel Macron in «Le Monde» zitiert. «Der Krieg auf europäischem Boden darf uns nicht unsere Klimaverpflichtungen und unser Bekenntnis zur Senkung der CO2-Emissionen vergessen lassen. Der Rückzug aus diesem Vertrag ist Teil dieser Strategie.»

Nach den jüngsten Zahlen, die das Charta-Sekretariat veröffentlicht hat, wurden 142 Klagen auf der Grundlage dieses Vertrags eingereicht; es könnten jedoch weitaus mehr sein, da für die Staaten keine Notifizierungspflicht besteht. Somit bricht der Vertrag bezüglich eingereichter Klagen alle Rekorde. Deutschland zum Beispiel wurde zweimal wegen seiner Entscheidung zum Atomausstieg verklagt: Im Fall «Vattenfall vs. Germany I» ist die Höhe der von Berlin an das schwedische Unternehmen gezahlten Entschädigung nicht bekannt; im Fall «Vattenfall vs. Germany II» erhielt das schwedische Unternehmen 1.721 Milliarden USD Entschädigung.

Die Schweiz will nicht aussteigen

Die Schweiz ihrerseits wurde bislang noch nie auf der Grundlage des ECT verklagt. Insgesamt richtet sich gegen sie nur eine einzige Schiedsklage, die jedoch nicht auf dem ECT beruht: die eines Investors aus den Seychellen. Sie ist noch hängig.
Erwägt die Schweiz eine Kündigung des Vertrages? «Nein», antwortet Jean-Christophe Füeg, Leiter Internationales des Bundesamtes für Energie, und fügt hinzu: «Die Kritiker des Vertrags übersehen, dass er nur für ausländische Investitionen gilt. Mit anderen Worten: Investitionen im Inland oder aus Nichtvertragsstaaten fallen nicht darunter.»

Die modernisierte Version dieser Charta, die am 9. November vom Bundesrat angenommen wurde, sollte seiner Meinung nach die Anzahl Klagen drastisch reduzieren und den Geltungsbereich des Vertrags einschränken: «Die EU wird nun als eine Vertragspartei zählen, was bedeutet, dass Klagen von InvestorInnen innerhalb der EU nun ausgeschlossen sind», fügt er hinzu. Dadurch wird der ECT zu einem Vertrag zwischen der EU, Grossbritannien, Japan, der Türkei, der Ukraine, Aserbaidschan und der Schweiz; die anderen Parteien haben praktisch keine InvestorInnen. Nun sind aber über 95% der fossilen Investitionen innerhalb der EU entweder EU-interner Natur oder werden von Nichtvertragsparteien getätigt. Dies ermöglicht es z.B. einigen EU-Mitgliedstaaten, munter mit der Förderung von Kohlenwasserstoffen fortzufahren (z.B. Zypern, Rumänien, Griechenland und auch die Niederlande).

«Dem Argument, dass ein Ausstieg für den Klimaschutz grundlegend sei, kann nicht zugestimmt werden, da davon weniger als 5% der fossilen Investitionen betroffen wären. Die restlichen 95% liegen ausserhalb des Einflussbereiches des Vertrags.» Laut Füeg wurde ausserdem eine Umfrage unter Schweizer Investoren mit Anlagen in der EU durchgeführt; die Befragten geben an, dass sie den Rechtsschutz schätzen, den ihnen der ECT gewähre. «Ein Austritt der Schweiz würde ihren Interessen zuwiderlaufen», schlussfolgert er.

Anpassung des Vertrags genügt nicht

Selbst die modernisierte, aber noch immer ungenügende Version der Charta wird allerdings nicht in Kürze in Kraft treten. Obwohl sie von den Vertragsstaaten bei einem Treffen am 22. November in Ulan Bator in der Mongolei hätte angenommen werden sollen, wurde das Traktandum wieder von der Tagesordnung gestrichen, nachdem sich die EU-Mitgliedstaaten nicht einigen konnten.

Alliance Sud fordert einen Austritt der Schweiz aus dem Vertrag, auch wenn die modernisierte Version der Energiecharta eine gewisse Schadensbegrenzung mit sich bringt. Der Vertrag ermöglicht es einem ausländischen Investor, gegen einen Gaststaat aufgrund jeder regulatorischen Änderung – Schliessung eines Kohlekraftwerks, Ausstieg aus der Atomenergie, regulatorische Änderungen bei den erneuerbaren Energien, etc. – zu klagen. Dadurch wird die Energiewende und der Kampf gegen die Klimakrise gebremst. Es ist nicht akzeptabel, dass ausländische Akteure, die in fossile Energieträger investieren, über den nationalen Gesetzen stehen und sich auf eine Privatjustiz berufen können, die ihnen allzu oft Entschädigungen in Millionen- oder gar Milliardenhöhe zuspricht.

Was ist die Energiecharta?

Der 1998 in Kraft getretene Vertrag über die Energiecharta schützt Investitionen in Energie –
auch in fossile Energieträger. Von seinen 53 Vertragsstaaten sind die meisten Industrieländer, darunter die Schweiz und die EU-Staaten; aber auch Länder wie Afghanistan, Jemen, die Mongolei und zentralasiatische Länder sind ihm beigetreten. Er ermöglicht einem Investor aus einem Vertragsstaat, gegen einen anderen Vertragsstaat zu klagen, wenn sich dort die Politik oder die Vorschriften zu Ungunsten des Investors ändern.

Der Energiechartavertrag ist mit grossem Abstand der Vertrag, aufgrund dessen am häufigsten geklagt wird. Die Klagen werden in absoluter Intransparenz von einem aus drei Schiedsrichtern bestehenden Schiedsgericht nach dem Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus (ISDS) und ohne die Verpflichtung, zuvor die innerstaatlichen Gerichte anzurufen, entschieden. Somit haben die grossen Gas-, Öl- und Kohlekonzerne ein mächtiges Instrument in der Hand, um Regierungen vom Übergang zu sauberen Energien abzuhalten.