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Ein Sommer als Lehrstück

07.10.2018, Klimagerechtigkeit

Sommer 2018. Hitze, Dürre, Millionenschäden. Klimaextreme in der nördlichen Hemisphäre. Es könnte, es müsste die Trendwende in der Wahrnehmung des Klimawandels sein. Sogar in der Schweiz.
Ein Sommer als Lehrstück
In Ahmedabad (Indien) soll diese Klimaanlage Ende Mai 2018 für etwas Abkühlung sorgen.
© Amit Dave / Reuters

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»

Der Hitzesommer 2018 hat vor Augen geführt, wie verwundbar der Planet Erde ist. Die Medien überschlagen sich mit bebilderten Meldungen zu Gluthitze, ausgetrockneten Bächen und anhaltender Dürre, die selbst die westliche Agrarindustrie in die Knie zwingt. Katastrophale Grossbrände in Griechenland, Kalifornien und – zum ersten Mal überhaupt – am schwedischen Polarkreis können quasi live mitverfolgt werden.

Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auf nicht bloss auf die verschiedenen Wetter-Rekorde und Klima-Extremereignisse, sondern auch auf die Gleichzeitigkeit dieser Extreme und der Tatsache, dass sich diese in der nördlichen Hemisphäre abspielten. Für Abermillionen Menschen im globalen Süden sind durch den Klimawandel verstärkte Wetterkapriolen seit Jahren bittere Realität. Doch die Hilferufe von pazifischen Inselgemeinschaften, akut bedrohten Küstenbewohnern Asiens oder das stumme Leiden von Subsistenz-Bäuerinnen im subsaharischen Afrika dringen kaum je in unsere Stuben. Werden sie in Zukunft im Norden – dort wo Klimapolitik gemacht wird – mehr Gehör erhalten? Es ist kaum anzunehmen: Was die Schweiz angeht, so werden wir den Sommer 2018 primär wegen des angenehm mediterranen Lebensgefühls in Erinnerung behalten.

Medienberichte im Aus- und Inland kommentierten und analysierten ausgiebig. Saleemul Huq schrieb im Daily Star (Dhaka, Bangladesch) vom «Tipping Point»; er meint damit nicht nur, dass sich der Klimawandel nicht mehr abwenden lässt, er weist auch darauf hin, dass die Prognosen der Klimawissenschaft von der Realität eingeholt worden sind. Den Umgang mit Hitze sieht Amy Fleming im Guardian als «das nächste grosse Ungleichheitsthema» und stellt die schutzlos der Hitze ausgesetzten Obdachlosen in Quebec, Gebärenden in Manila, urbanen Slumbewohnerinnen in Kairo und 80‘000 Syrien-Flüchtlinge im jordanischen Za’atari gegenüber; und vergisst nicht zu erwähnen, dass die Trockenheit im syrischen Nordosten ein Auslöser für den Bürgerkrieg war.

Grundsätzlicher wird Georg Diez im SPIEGEL, der unter dem Titel «Klimawandel und Kapitalismus» fordert, unser Lebensstil müsse verhandelbar sein. Das Phänomen der Erderwärmung lenke ab vom eigentlichen Thema der sozialen Ungleichheit, die zusammen mit der ökologischen ins Zentrum rücken müsse.Im «postkolonialen Treibhaus» erkennt Charlotte Wiedemann in der taz auchAnzeichen dafür, dass die «vor allem weiße Täterschaft» die Erderwärmung endlich auch als Gerechtigkeitsthema wahrnehme.

In seinem Kommentar «Der Sommer 2018 ist ein Weckruf, der nicht ungehört verhallen darf» spricht NZZ-Wissenschaftsredaktor Christian Speicher vom «Hitzesommer, wie er bald zur Norm werden könnte». Und schreibt einen Satz, den man gerne auf NZZ-Weltformatplakaten lesen würde: «Wir sind noch viel zu wenig an die neue Realität angepasst» – der Klimawandel ist also die neue Realität und wir müssen uns daran anpassen. Beide Botschaften fanden bis jetzt im Bundeshaus (und im Medien-Mainstream) keine Mehrheiten.

Die politische Kaste weltweit hat Markus C. Schulte von Drach im Bund im Visier, wenn er eine «Revolution der Vernunft» anmahnt. Und die Brücke von Klima- und Sozial- zur Entwicklungspolitik schlägt Bettina Dyttrich in der WOZ: Die u.a. vom Finanzplatz abhängige Schweizer Wirtschaft glaube sich wenig verwundbar. Doch statt sich auf die gemeinsame Herausforderung im «Raumschiff Erde» zu besinnen, dominierten hierzulande wie im globalen Norden generell weiterhin Egoismus und Abschottung.

Fernsehen SRF berichtet über das Dilemma des Landwirtes und Chefs der Emmentaler SVP-Sektion, Nationalrat Andreas Aebi, der merkt, «dass etwas passiert», die Parteilinie verlässt und zu Protokoll gibt, den Klimawandel auf dem eigenen Hof zu spüren.

Bewegt sich die Schweizer Politik?

Noch in den Sommerferien meldet sich der Bauernverband zu Wort. Nach dem Kältefrühling 2017, der grosse Teile der Obsternte vernichtet hat, kommen die Bauern und Bäuerinnen ob der diesjährigen, regenfreien Rekordhitze zunehmend ins Schwitzen. Heuwiesen verwandeln sich in mediterrane Staublandschaften, das Winterheu muss verfüttert statt aufgestockt, vereinzelt gar Vieh notgeschlachtet werden. Der Ruf nach staatlicher Nothilfe – eine Lockerung der Zölle für Heuimporte und sofortige Subventionen – just aus jener politischen Ecke, die sich einer kohärenten Klimapolitik bis heute verweigert hat, lässt aufhorchen.

Auch in der ersten Sitzung der Umweltkommission des Nationalrats nach der Sommerpause hinterlässt die Hitze Spuren. Entgegen der bundesrätlichen Vorlage ist die Besteuerung von Kerosin und Treibstoffen, ja gar die Finanzierung von Klima-Anpassungsmassnahmen plötzlich kein Tabu mehr. Beginnt die Vernunft gegenüber den Interessen der Erdöl- und Autolobby die Überhand zu gewinnen? Deren Versuch, sprithungrigen SUVs auch im neuen CO2-Gesetz freie Fahrt in den Schweizer Markt zu verschaffen, scheitert fürs Erste. Doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuss: Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) gibt bekannt, dass es neue Strassennormen brauche, sprich breitere Strassen, weil ja die Autos immer grösser würden.  

Dass der Hitzesommer dazu beiträgt, dass die Schweizer Politik in Zukunft über den Tellerrand – sprich die Landesgrenzen – hinaus schaut, dass der Klimawandel nicht nur als Phänomen der Südhalbkugel gesehen wird, bleibt einstweilen eine vage Hoffnung. Sicher ist, dass die helvetische Erinnerung an den Sommer 2018 davon geprägt sein wird, dass man «trotz herrlichem Sommerwetter» nicht grillieren und kein 1. August-Feuerwerk zünden durfte. Es ist diese bestbekannte Mischung aus Ignoranz und Opportunismus, die schon bald wieder die politischen (und viele privaten) Agenden bestimmen wird. Oder um nochmals Bettina Dyttrich zu zitieren:«Viele europäische Linke empören sich über koloniales Unrecht und finden es gleichzeitig völlig normal, mehrmals im Jahr um die halbe Welt zu fliegen.»

Politorakel Claude Longchamp prophezeit im Gespräch mit Dennis Bühler von der Republik, dass sich der Klimawandel kaum gegen andere Themen wie das Verhältnis zur EU, die Rentenreform oder die Unternehmensbesteuerung bis zu den Parlamentswahlen wird behaupten können; es sei denn, wir erlebten 2019 «eine Wiederholung dieses Sommers». Im Interview mit der SonntagsZeitung bedauert die Psychologin Vivianne Visschers, dass der Klimawandel eben nur einer von vielen Faktoren sei, die unser Verhalten bestimmten. Eine Verhaltensänderung scheitere zunächst am damit verbundenen Preis – im monetären und im übertragenen Sinn. Komme dazu, dass der Mensch den unmittelbaren Nutzen seines heutigen Handelns viel stärker gewichte als dessen zukünftige Auswirkungen.

Der Nord-Süd-Unterschied

Zu hoffen ist, dass sich nicht nur beim Bauernverband die Einsicht durchsetzt, dass sich Geschäft und Gesellschaft an die unvermeidbaren Klimaveränderungen anpassen müssen. Eine Erkenntnis notabene, die für bäuerlich geprägte Gesellschaften im globalen Süden längst zur Priorität geworden ist. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese nicht auf staatliche Nothilfe, geschweige denn auf systematische Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Klimaveränderungen setzen können.

Genau darum verpflichtete das Pariser Klimaübereinkommen die westliche Welt, jährlich mindestens 100 Milliarden US-Dollar für die internationale Klimafinanzierung bereit zu stellen. Wie Alliance Sud seit Jahren betont, beträgt der gerechte Anteil der Schweiz daran rund 1 Milliarde Franken pro Jahr. Dies entspricht nicht nur unserem Anteil von 1% am Einkommen der Industriestaaten, sondern auch unserem Klimafussabdruck. Es darf nicht länger sein, dass die ausserhalb der Landesgrenzen entstehenden, fast doppelt so grossen grauen Emissionen unserer importierten Konsumgüter weiterhin ausserhalb des nationalen Verantwortungsbewusstseins des politischen Mainstreams liegen. Es ist höchst zynisch, die Finanzierung von Massnahmen gegen die katastrophalen Auswirkungen der hauptsächlich vom Westen verursachten Klimaveränderung weiterhin als «Angelegenheit der Entwicklungsländer» abzutun. Oder wie es Dietmar Mirkes im luxemburgischen Magazin «Brennpunkt Drëtt Welt» treffend ausdrückt, dass wir weiterhin Tag für Tag «Fahrerflucht begehen».

Ein in der Schweiz mantramässig ins Feld geführtes Argument gegen die Aufstockung unserer völkerrechtlich geschuldeten Klimafinanzhilfe – der angebliche Widerstand des Volkes gegen jegliche Mobilisierung von zusätzlichen Finanzmitteln – ist diesen Sommer widerlegt worden. Gemäss einer Umfrage der Schweizerischen Energiestiftung (SES) finden sechzig Prozent der Bevölkerung, dass zum Beispiel die derzeitige Steuerbefreiung und Subventionierung des Flugverkehrs nicht nur abgeschafft, sondern – im Gegenteil – eine Flugticketabgabe eingeführt werden soll. Ein Drittel der Befragten wäre bereit, für einen innereuropäischen Flug fünfzig Franken oder mehr zu bezahlen. Und knapp die Hälfte würde mit den Einnahmen (nebst inländischen Klima- und Forschungs-Projekten) explizit Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen in Entwicklungsländern unterstützen wollen.  

Das passt zur Mitte September von Alliance Sud veröffentlichten Studie (siehe Kastentext). Sie hat verschiedene Instrumente der Mobilisierung zusätzlicher Mittel geprüft und kommt zum Schluss, dass die angestrebte Klimafinanzierungs-Milliarde nicht nur im Bereich des Möglichen liegt, sondern vergleichsweise geringe, verursachergerechte Zusatzkosten mit sich bringen würde. Alleine eine Flugticketabgabe in der gleichen Grössenordnung, wie sie heute in Grossbritannien bereits erhoben wird, könnte bereits 1 Milliarde Franken pro Jahr generieren.

So kann die Schweizer Klimafinanz-Milliarde finanziert werden

dh. Eine neue, von Alliance Sud in Auftrag gegebene Studie zeigt auf, wie zusätzliche Unterstützungsbeiträge an dringend notwendige Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen in den ärmsten und verwundbarsten Entwicklungsländern verursachergerecht finanziert werden können.

Die Studie analysiert elf innovative Ansätze und kommt zum Schluss, dass die auf der Basis des Pariser Klimaabkommens zu mobilisierende Klimafinanz-Milliarde der Schweiz politisch plausibel und tragbar ist. Mit einem Mix der vorgeschlagenen Instrumente lassen sich die Kosten – getreu dem Verursacherprinzip – auf verschiedene CO2-Emittenten abwälzen. Womit diese Instrumente auch die erwünschte Lenkungswirkung entfalten würden.

Im Kontext der aktuellen Revision des CO2-Gesetzes stellt die Studie insbesondere die Einführung einer Flugticketabgabe, die Zweckbindung der CO2-Abgabe sowie deren Ausweitung auf Benzin und Diesel, eine Abgabe auf ausländische Emissionszertifikate, die Erhöhung der Mineralölsteuersowie eine Ersatzabgabe für CO2-befreite Unternehmen zur Diskussion.

Gegen einige der in der Studie vorgestellten Finanzierungsinstrumente haben Politik und Verwaltung in den letzten Jahren verfassungsrechtliche Bedenken ins Feld geführt. Alliance Sud wird diesen in Kürze mit einem juristischen Gutachten begegnen.