Meinung

Entwicklungshilfe: Ein grosses Missverständnis

10.12.2018, Internationale Zusammenarbeit

Gastautor Elísio Macamo kritisiert, wie Entwicklung in Europa heute gedacht wird. Starke Institutionen seien nicht die Ursache, sondern die Folge von Entwicklung, historische Prozesse müssten als offen begriffen werden.

Entwicklungshilfe: Ein grosses Missverständnis
Elísio Macamo
© zVg

Es gibt etwas an der Entwicklungshilfe, das mich glauben lässt, dass sie ein Missverständnis sein könnte. Es ist die Idee, wonach es bei der Entwicklungshilfe tatsächlich um die Entwicklung von Afrika geht. Ich glaube es nicht, egal was Entwicklungsexperten und Praktiker sagen.

Im historischen Kontext, in dem die Entwicklungshilfe entstand, investierten alle Beteiligten viel in die Idee, dass bestimmte Länder aufholen müssten. Einige nannten es Modernisierung, andere Industrialisierung. Bis heute vermittelt die Vorstellung von nachholender Entwicklung die Idee, dass Länder mit Entwicklungsrückstand mit der entwickelten Welt gleichziehen können.

Wenn in Afrika ein Bürgerkrieg ausbricht, sich ein Flüchtlingsdrama anbahnt, dann schlägt die Stunde der so genannten Experten, welche die Mängel der Entwicklungshilfe beklagen. Sie stellen lauthals Fragen darüber, ob Entwicklungshilfe überhaupt sinnvoll sei, sie suchen und finden die Täter in den Entwicklungsinstitutionen oder machen die Afrikaner für das Elend verantwortlich, am liebsten beide. Am schlimmsten ist, dass sie damit bloss den Boden bereiten für die nächste grossartige Idee, mit der Afrika von seinen Problemen befreit werden soll: einst war es die direkte Budgethilfe, dann die Millenniums-, schliesslich die Ziele für nachhaltige Entwicklung und jetzt zur Abwechslung – aus der Mottenkiste der Vergangenheit – wieder einmal die Familienplanung. Der Einfallsreichtum der institutionalisierten Besserwisserei, um es mit Philipp Lepenies, dem Berliner Politikwissenschaftler zu sagen, wird Afrika zum Verhängnis.

Das Problem mit dem herrschenden Entwicklungsdenken ist vielfältig und keineswegs neu. Erstens wurden unangemessene Erwartungen geweckt. Diese beruhen auf der äusserst problematischen Vorstellung, dass man für die gewünschten Ergebnisse bloss das Richtige zu tun braucht. Leider funktioniert die Welt nicht so. Die Welt ist nicht gerecht. Sie belohnt nicht unbedingt gutes Verhalten. Es gibt vielleicht nicht viele Beispiele für Länder, die das Richtige getan haben und gescheitert sind, aber es ist ebenso wahr, dass es nicht ausreicht, das Richtige zu tun, um erfolgreich zu sein. Tatsächlich sind die meisten Erfolgsgeschichten in Afrika, Fälle wie Botswana, Mauritius und Kap Verde und in jüngster Zeit Ruanda und Äthiopien, erst im Nachhinein Erfolgsgeschichten. Weil sie – vorerst – erfolgreich sind, wird davon ausgegangen, dass sie das Richtige getan haben. Das ist im besten Fall ein lupenreiner Denkfehler.

Zweitens geht das Denken, das der Entwicklungshilfe und -politik zugrunde liegt, von der umstrittenen Annahme aus, zu wissen, wie sich die entwickelten Länder tatsächlich entwickelt haben. Dies führt nicht selten zu einer Reihe von Rezepten, die ernsthaft im Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen stehen. Oft hören wir, wie wichtig starke Institutionen, gute Regierungsführung, erfolgreiche Korruptionsbekämpfung, Engagement für Demokratie und Menschenrechte seien. Dies seien die grundsätzlichen Faktoren, die es brauche, um ein Land zu entwickeln.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Nun, historische Fakten erzählen eine andere Geschichte. In Europa zum Beispiel waren starke Institutionen, effektive Anti-Korruptionsstrategien und eine gute Regierungsführung im Allgemeinen das Ergebnis der Entwicklung und nicht ihre Ursache. Auch die Achtung der Menschenrechte und die Einführung der Demokratie könnten nur zum Erfolgsrezept zählen, wenn man die massive Verletzung der Würde der kolonisierten Völker ignorieren würde. Die europäischen Demokratien gediehen unter massiver Verletzung des Rechts der unterworfenen Völker auf politische Vertretung und auf Menschenwürde. Leider kann Afrika von Europa nicht lernen, wie man sich entwickelt. Es kann höchstens lernen, wie man einen Vorsprung verwaltet, wenn man einmal entwickelt ist.

Drittens macht das Entwicklungsdenken hartnäckig den schweren Fehler, die offene Natur historischer Prozesse zu ignorieren. Die Teleologie scheint ein zentraler Wesenszug des europäischen Denkens zu sein. Sie gründet auf der tief verwurzelten Annahme, dass es ein Ende der Geschichte gibt, das mit dem Kommen des Messias, dem Beginn einer neuen Ära oder der Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse auf vielfältige Weise verbunden ist. Diejenigen, die so dachten und die Gelegenheit und die Macht hatten, diesen Glauben umzusetzen, führten die Welt in die Schrecken des Holocaust oder der Gulags. Die Wahrheit ist eher die, dass historisches Handeln offen ist. Jede neue Situation eröffnet wieder neue Handlungsmöglichkeiten. Wir haben den Algorithmus noch nicht entdeckt, der es uns ermöglichen würde, menschliche Kreativität und Energie so zu lenken, dass diese Handlungen mit dem übereinstimmen, was wir für den richtigen Verlauf der Geschichte halten. Das ist von unmittelbarer Relevanz für die Entwicklungspolitik. Denn die meisten Übel, die für afrikanische Defizite verantwortlich gemacht werden, sind in Wirklichkeit afrikanische Antworten auf die Chancen, die sich durch Entwicklungsmassnahmen eröffnen. Es gäbe zum Beispiel keine Korruption, wenn es keine Gelder zu verteilen gäbe. Sowohl der Erfolg als auch das Scheitern von Entwicklungsmassnahmen schaffen neue Situationen und somit neue Möglichkeiten für menschliches Handeln – im Guten wie im Schlechten.

Aufgepasst vor Missverständnissen

Das sind nur drei Probleme mit dem Entwicklungsdenken. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Nichts davon bedeutet, dass die Entwicklungshilfe und -politik völlig versagt hätte. Dies wäre eine viel zu einfache Schlussfolgerung. Tatsächlich war die Entwicklungshilfe meistens ein positiver Faktor in Afrika, der die Hoffnung der Menschen auf ein besseres Leben wachhielt und den Ländern half, sich in einer Welt zurechtzufinden, die nicht für sie gebaut wurde. Die Menschen, die in Entwicklungsinstitutionen arbeiten, sind wirklich engagiert in ihrer Arbeit und geben ihr Bestes, um die Ziele ihrer Institutionen zu erreichen. Das Problem ist die Erwartung, dass ihre Institutionen durch ihre Arbeit Afrika entwickeln werden. Das geschieht vielleicht nicht auf die erwartete Weise, all ihren guten Absichten zum Trotz. Und zwar nicht, weil die Afrikaner sich nicht entwickeln wollten. Sondern eher deswegen, weil wir grundsätzlich hilflos sind vor den Kräften der Geschichte. Anstatt auf einer sinnlosen Erwartung zu bestehen, sollten wir unsere Meinung ändern, was wir mit Entwicklungshilfe tatsächlich erreichen können und sie auf eine andere Weise konzipieren. Es mangelt nicht an Ideen, die unser Denken leiten können.

Eine entscheidende Idee, die in liberalen Grundlagen heutiger Politik angelegt ist, ist die Idee der Chancengleichheit. Wir sollten die Entwicklungspolitik als eine Verpflichtung betrachten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Benachteiligten der Geschichte die Möglichkeit haben, eine Welt zu zähmen, deren Strukturen sich gegen sie richten. Man hört es nicht gern, aber in einer Welt, die zusammengewachsen ist, hat der Reichtum der einen mit der Armut der anderen zu tun. Aber das bedeutet ein langfristiges Engagement, das auf Geduld basiert, eine Tugend, die in Entwicklungskreisen bisher nur unzureichend vorhanden war. Es würde Entwicklungshelfer vom Drang entlasten, afrikanische Länder mit immer neuen Strategien und Ansätzen zu überfordern, jedes Mal, wenn man Angst hat, Geld in ein Fass ohne Boden zu werfen. Es könnte auch Politiker und Journalisten zähmen, die aus Mangel an Verständnis dafür, was Entwicklung ist, das «Versagen» der Entwicklungshilfe nutzen, um Unzufriedenheit gegenüber Entwicklungsinstitutionen und Afrikanern zu stiften.

Elisio Macamo ist seit Oktober 2009 Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Basel. Zuvor lehrte er Entwicklungssoziologie an der Universität Bayreuth. Geboren und aufgewachsen ist er in Moçambique. Er studierte in Maputo (Moçambique), Salford und London (England) und Bayreuth (Deutschland).