Artikel

Jeder faule Kredit ist einer zu viel

22.06.2020, Finanzen und Steuern

Viele arme Länder sind bei Schweizer Grossbanken verschuldet. Statt für den Schuldendienst bräuchten sie ihre Mittel jetzt für die gesundheits- und sozialpolitische Bewältigung der Pandemie. Die Banken sollten nun grosszügig Kredite abschreiben.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Jeder faule Kredit ist einer zu viel

Die undurchsichtige Kreditvergabe der Credit Suisse in Mosambik hat international ein gerichtliches Nachspiel.
© Arnd Wiegmann/Reuters

Im John F. Kennedy Memorial Medical Center in Monrovia, dem grössten öffentlichen Krankenhaus Liberias streikten im April fünfzig Ärzte. Sie protestierten gegen die ungenügenden Schutzmassnahmen gegen das Coronavirus in ihrem Krankenhaus. Später wurde auch die nationale Gesundheitsbehörde in der liberianischen Hauptstadt geschlossen, weil auch dort eine Häufung von Infektionen verzeichnet wurde. Obwohl in diesem westafrikanischen Land bis heute offiziell nur knapp über 200 Covid19-Fälle registriert wurden, stand die Gesundheitsversorgung in der Millionenstadt zu einem wesentlichen Teil Mitte April vorübergehend still. Denn das Gesundheitssystem in Liberia ist äusserst fragil: Auf 100 000 EinwohnerInnen kommen nur vier ÄrztInnen. In der Schweiz sind es hundert Mal mehr. Liberia gehört gemäss Weltbank-Kategorien zu den Low-income Countries, den ärmsten Ländern der Welt. In den 69 ärmsten Ländern zusammen betrugen die gesamten Kosten für das Gesundheitswesen gemäss Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im letzten Jahr 20 Milliarden Franken. In der Schweiz allein liegen diese bei 80 Milliarden.

Die Pandemie brachte weltweit nicht nur die Public Health-Strukturen an den Anschlag (oder darüber hinaus), sie hat auch gravierende wirtschaftliche Auswirkungen (siehe S. 14). So kam unter anderem der Rohstoffhandel praktisch zum Erliegen. Die Preisstürze im globalen Rohstoffgeschäft haben wiederum die Schuldenspirale in den Abbauländern weiter angetrieben. Der aus geopolitischen Gründen schon vor Corona stark gefallene Ölpreis hatte etwa der nigerianischen Wirtschaft einen heftigen Schock versetzt. In Kombination mit einem in diesem Ausmass nie dagewesenen Abzug von Investitionen aus den Entwicklungs- und Schwellenländern brachte diese Entwicklung im Frühling über 100 Länder an den Rand des Staatsbankrotts. Sie sahen sich veranlasst, den Internationalen Währungsfonds (IWF) um finanzielle Hilfe zu ersuchen. Den Ländern in Subsahara-Afrika droht die erste Rezession seit 25 Jahren.

Je ärmer, desto schlimmer die Schulden

In der Schuldenfalle sitzen jetzt jene armen Länder, die schon seit Jahrzehnten unter Kapitalflucht, Korruption und Überschuldung leiden und an den Finanzmärkten – anders als einige Schwellenländer – nicht als empfehlenswerte Staaten für Investitionen gelten. Auf Grund ihrer oft sehr schwachen eigenen Währungen, machtloser Zentralbanken, einer schlechten Mobilisierung von Steuersubstrat und einer hohen Verschuldung in Fremdwährungen können diese Länder kaum eine eigenständige Wirtschaftspolitik betreiben und damit auf globale Krisen auch keine selbstständigen Antworten finden. Nehmen sie neue Kredite an den Finanzmärkten auf – etwa durch die Herausgabe neuer Staatsanleihen –, sind die Zinsen dafür um ein vielfaches höher als beispielsweise für den Schweizer Bund. Dieser kann sich zurzeit auf Grund der Negativzinsen der Schweizer Nationalbank zum Nulltarif mit frischem Kapital versorgen. Das hat die Schweiz ihrer starken Exportwirtschaft, dem Finanzplatz und ihren Konzerntiefsteuergebieten zu verdanken. Die Banken, die Konzerne und die Exportindustrie sorgen für einen stetigen Zufluss von Kapital,  was den Kapitalabfluss durch Importe überwiegt und der Schweiz eine hohe Kreditwürdigkeit garantiert.

Wie kann man diesen armen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika aus dieser multiplen Krise hinaushelfen? Steuerflucht, Korruption und Geldwäscherei sind bekanntlich sehr dicke politische Bretter, die wohl in dieser Krise nicht schneller zu durchbohren sind als üblich. Wenn die Staaten sich sogar im direkten medizinischen Kampf gegen das Coronavirus nur unter grossen Mühen zu internationaler Zusammenarbeit durchringen können, wird das in der hochumstrittenen Frage, wie ein gerechteres globales Steuersystem aussehen könnte, wohl erst recht nicht gelingen. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass das Installieren eines solchen an sich eine sehr einleuchtende politische Antwort auf die globale Gesundheitskrise wäre. Denn sie führt wie selten ein Ereignis zuvor der ganzen Welt vor Augen, welche zentrale Rolle der Staat bei der Gewährleistung der Gesundheit seiner BürgerInnen spielt.

Einfacher ist es in der Schuldenfrage. Wenn sich Schuldner und Gläubiger einigen können, sind Schulden innert Kürze getilgt. Milliarden Dollar würden dann frei für öffentliche Investitionen in die Gesundheit und die soziale Wohlfahrt. Ein Erlass aller Schulden in den 69 ärmsten Ländern der Welt alleine für 2020 würde diesen 25 Milliarden Dollar mehr in die Staatskassen spülen. Die finanziellen Mittel, die sie für den Kampf gegen die Coronakrise verwenden könnten, würden sich dadurch schlagartig mehr als verdoppeln. Hier könnte die Schweiz als einer der grössten Finanzplätze der Welt einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung dieser Krise leisten. Nächstes Jahr allerdings stünden diese Länder wieder vor denselben Problemen. Mittelfristig braucht es deshalb auch einen Umbau der Schuldenregime auf multilateraler Ebene.

Die Schweizer Grossbanken stehen in der Pflicht

Grundsätzlich gibt es auf der Welt drei Arten von Gläubigern: Private (zum Beispiel Banken, Pensionskassen, Vermögensverwalter, Unternehmen ausserhalb der Finanzindustrie oder Privatpersonen), multilaterale – vor allem die sog. Bretton Woods-Institutionen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) – und bilaterale, also Staaten, die anderen Staaten Geld leihen. Die Schweiz engagiert sich schon länger nicht mehr als bilaterale Gläubigerin. Auch beim IWF und der Weltbank ist politisch nicht viel zu holen: Die politischen Bedingungen, die diese multilateralen Institutionen mit ihren Kreditvergaben verknüpfen, bräuchten zwar dringend eine Reform. Sie sollten angesichts der globalen Klima-, Gesundheits- und Ungleichheitskrise nicht mehr ausschliesslich ein klassisches Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf dessen soziale und ökologische Folgen fördern, sondern eine umfassende Nachhaltigkeit im Sinne der Agenda 2030. Doch die Schweiz hat in den Bretton Woods-Institutionen auf Grund ihrer beschränkten Stimmrechte erstens nicht viel Einfluss und zweitens verfolgt sie dort seit Jahrzehnten – wenig verwunderlich – einen wenig progressiven Kurs.
Bleiben also die privaten Gläubiger: Zurzeit sind vierzig Schweizer Banken gemäss Angaben der Schweizer Nationalbank (SNB) und der Bank für internationalen Zahlungsverkehr (BIZ) mit insgesamt 5,7 Milliarden Franken in den 86 ärmsten Ländern engagiert. Angesichts der Tatsache, dass die gesamten Gesundheitsausgaben gemäss Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der 69 ärmsten Länder gerade einmal 19,7 Milliarden betragen, sind diese 5,7 Milliarden eine sehr signifikante Summe und entsprechen der Hälfte des Budgets für die internationale Zusammenarbeit (IZA) des Bundes in den nächsten vier Jahren. In den letzten Jahren riesige Korruptionsskandale in Mosambik und in Papua-Neuguinea, wie gross und wie verheerend die Rolle der Schweizer Grossbanken als gewichtige Gläubiger in den Schuldenwirtschaften armer Länder sein kann: In Mosambik vergab die Credit Suisse dem Staat vor sieben Jahren gesamthaft Kredite über 2 Milliarden Dollar – damals ein Achtel des Bruttoinlandproduktes des südostafrikanischen Landes. Was in den staatlichen Ausbau der Fischereiindustrie hätte investiert werden sollen, versickerte in den Taschen der Strippenzieher des Deals und trieb das Land in den Staatsbankrott. Mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung: «Als Folge der wirtschaftlichen Misere gab es in den letzten Jahren keine deutlichen Verbesserungen mehr bei der Bekämpfung von HIV oder Malaria. Die Kinder- und Mütter­sterblichkeit blieb auf hohem Niveau», schrieb das Online-Magazin Republik im letzten Jahr über den Fall. Zudem wurden die ärmsten Regionen Mosambiks im Frühling 2019 von einem Zyklon heimgesucht; die betroffene Bevölkerung blieb bei der Bewältigung der Folgen praktisch auf sich alleine gestellt. Hunger und Malaria grassieren. Kaum vorzustellen, was passierte, wenn dort auch noch die Covid19-Pandemie zu wüten begänne.

In Papua-Neuguinea wiederum lieh sich die Regierung 2014 945 Millionen Franken von der UBS, um damit Aktien des wichtigsten Erdölförderers des Landes zu kaufen, der Oil Search Ltd. Der Finanzminister wehrte sich gegen das Geschäft, der Premierminister boxte es mit mutmasslich rechtswidrigen Methoden – der Prozess ist hängig – trotzdem durch. Zum Leidwesen der Bevölkerung: «Während die UBS am Kreditgeschäft mehr als 80 Millionen Franken verdiente, wurde es für Papua-Neuguinea zu einem gewaltigen Verlustgeschäft. Denn wenige Monate nach Kreditabschluss fielen die Öl- und Gaspreise und die Regierung musste alle Aktien von Oil Search mit Verlust verkaufen. Durch das Kreditgeschäft und seine Folgen hat der finanzschwache Inselstaat ungefähr 400 Millionen Dollar verloren», berichtete die Südostasienkorrespondentin von Radio SRF Karin Wenger vor einem Jahr in der Sendung Echo der Zeit. Für einen Staat mit Gesamtausgaben von 14 Milliarden Dollar alles andere als ein Pappenstiel.

In solchen Fällen kann ein Schuldenschnitt bzw. die Abschreibung der entsprechenden Kredite bei den Schweizer Grossbanken für die Bevölkerungen der betroffenen Länder ein Segen sein. Er würde aber umgekehrt auch die Banken von unangenehmen Kreditrisiken befreien: Sollte die Rettungsaktion durch die grossen Zentralbanken des Westens vom März 2020 das Finanzsystem in dieser Krise doch nicht genügend stabilisiert haben, werden auch die grossen Banken wieder ins Trudeln kommen. Und spätestens dann ist wieder – wie damals in der Finanzkrise 2008 – jeder nicht abgeschriebene faule Kredit einer zu viel.