Meinung

Nach Glasgow müssen wir Gas geben

06.12.2021, Klimagerechtigkeit

Mit der Abschlusserklärung der UN-Klimakonferenz ist es noch lange nicht getan: Die Klimakrise spitzt sich zu und das Klimabudget der Schweiz ist bald aufgebraucht. Die Analyse aus Glasgow von Stefan Salzmann, Klimaexperte beim Fastenopfer.

Nach Glasgow müssen wir Gas geben
Die Klimakrise ist für die Inselstaaten bereits heute eine existentielle Bedrohung. Der Aussenminister von Tuvalu hielt deshalb seine COP26-Erklärung an einem besonderen Ort: in Funafuti, mitten im Pazifischen Ozean.
© EyePress via AFP

Hagel und Regen im Sommer in der Schweiz, Hitze in Kanada, Feuer in Griechenland und Russland, Dürre im Iran; im August die wissenschaftlich belegte Alarmstufe Rot im neusten Bericht des Weltklimarates. In deutlichen Worten schreiben KlimatologInnen, dass das Ausmass der anthropogenen Klimaerwärmung seit vielen Jahrhunderten bis Jahrtausenden beispiellos ist. Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen und Starkniederschlägen, landwirtschaftliche und ökologische Dürren werden zunehmen und immer häufiger kombiniert auftreten. Die bereits heute beobachteten Veränderungen werden sich verstärken und unumkehrbar sein. Jedes Zehntelgrad Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur macht einen Unterschied – insbesondere für die ärmsten und verwundbarsten Menschen auf der Welt.

Der neue Bericht des UNO-Umweltprogramms (UNEP) vom Oktober, der die Ziele des Pariser Abkommens mit den gemachten Versprechen vergleicht, stellt fest, dass die eingereichten Ziele der Länder eine globale Klimaerwärmung von 2.7 Grad ansteuern. Und parallel, schreibt ebenfalls das UNEP, werden weiterhin nicht genügend finanzielle Mittel für Anpassungsmassnahmen in armen Ländern zur Verfügung gestellt: Der Bedarf ist bis zu zehnmal höher als das, was die verursachenden Industrienationen bereitstellen.

Der Wille ist da – aber niemand bestimmt den Weg

Unter diesen Vorzeichen haben die OrganisatorInnen der 26. Weltklimakonferenz aus Grossbritannien viel guten Willen gezeigt. In der ersten Woche der Konferenz wurden täglich neue globale Initiativen verkündet.  Die Initiativen «Globale Transition von Kohle zu sauberer Energie», «Stopp der globalen Entwaldung» oder «Globale Initiative für grüne Energie-Netze» sind nur eine Auswahl. Euphorisch hat die Internationale Energieagentur errechnet, dass man so auf einen Kurs von nur noch 1.8 Grad Erderwärmung kommen könne – wenn all die Versprechen umgesetzt werden. Und genau da liegt die Schwierigkeit – keine dieser Initiativen hat einen Umsetzungsplan. Die Länder, welche die Versprechen mittragen, sind die gleichen, die es bis 2020 nicht geschafft haben, die bereits 2009 versprochene Klimafinanzierung bereitzustellen. Und wenn Länder wie Brasilien die Entwaldungsinitiative unterzeichnen, dann ist das zwar ein Hoffnungsschimmer, aber realpolitisch betrachtet wohl eher ein Todesurteil für diesen ehrgeizigen Plan, der wie alle anderen ambitionierten Pläne die Umsetzung derselben den freiwilligen politischen Massnahmen der einzelnen Länder überlässt.

Und die Schweiz?

Auch die Schweiz steht unter Druck: Nachdem selbst der kleine Schritt des revidierten CO2-Gesetzes im Juni 2021 für die Mehrheit der Bevölkerung zu gross war, reiste die vom Bundesamt für Umwelt angeführte Delegation mit fehlender gesetzlicher Grundlage nach Glasgow. Hier wurden einmal mehr alle Verhandlungen zu weiteren Klimafinanzen blockiert. Die Gründe sind auf den ersten Blick verständlich – auch reiche Schwellenländer sollen in die Klimafinanzierung einsteigen und es gehe nicht, dass sich China und Singapur als Entwicklungsländer ausgeben und nichts zahlen wollen. Als eines der reichsten Länder der Welt aber so zu argumentieren, nützt denen nichts, deren Lebensgrundlagen von diesen Beschlüssen abhängen – wie die ärmsten und verwundbarsten Menschen auf der Welt. Für sie bedeuten blockierte Verhandlungen, egal von wem, Not, Leid und prekäre Überlebensstrategien.

Schäden und Verluste

Die Lebensgrundlagen vieler stehen auf dem Spiel, von einigen sind sie bereits heute zerstört. Sogenannte «Schäden und Verluste» bezeichnen im Fachjargon durch die Klimaerhitzung verursachte irreversible Probleme: Klimaauswirkungen also, die die Anpassungsfähigkeit von Ländern, Gemeinschaften und Ökosystemen übersteigen. Wenn eine Familie wegen des Meeresspiegelanstiegs ihr Haus verliert, ist es für immer verloren. Solche Schäden und Verluste gibt es bereits heute und mit jedem Zehntelgrad Temperaturanstieg werden sie weiter zunehmen. Deshalb hat die Zivilgesellschaft dieses Thema in Glasgow zur obersten Priorität gemacht.

Das Klimabudget der Schweiz ist bald aufgebraucht

Nicht nur weil die Schweiz eines der reichsten Länder ist, welches historisch viele Treibhausgase ausgestossen hat, wäre es angebracht, anderen bei bereits eingetretenen Schäden beizustehen. Im September haben Sozial-EthikerInnen von zehn kirchlichen Institutionen über ein klimagerechtes CO2-Restbudget diskutiert. Auf der Basis von wissenschaftlich belegten Daten wurde berechnet, welcher Anteil an den global noch zur Verfügung stehenden Gigatonnen CO2 der Schweiz zusteht, wenn sie sich klimagerecht verhalten will. Die Sozial-EthikerInnen haben dabei getan, was die Klimawissenschaft nicht kann: Sie haben Modellrechnungen moralisch gewichtet und interpretiert. Dabei kam heraus, dass eine klimagerechte Restmenge CO2 im Frühjahr 2022 aufgebraucht sein wird. Ein weiterer Beleg dafür, dass die bundesrätliche Strategie, Netto Null Treibhausgasemissionen bis ins Jahr 2050 erreichen zu wollen, mit Gerechtigkeit nichts mehr gemeinsam hat.

Wie weiter?

Es sind Momente wie die Klimakonferenz in Glasgow, in denen die offizielle Schweiz beweisen sollte, dass unserem Land Gerechtigkeit ein Anliegen ist. Finanzen für andere Länder bereitzustellen, ist eine der einfachsten Möglichkeiten, dies zu tun: zusätzliche Mittel zum Entwicklungskredit für Minderung und Anpassung. Und zusätzliche Mittel für bereits eingetretene Schäden und Verluste. Die Grundlagen für solche Verhandlungsmandate werden in der Vorbereitungsphase national gelegt. Gleich wie die nationalen Klimaziele, die ambitionierter werden müssen, auch für die Schweiz, wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens noch in Reichweite liegen sollen. Die Debatten um den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative sowie die anstehende Neuaufnahme der Revision des CO2-Gesetzes sind die letzten Chancen, bevor es zu spät ist: Es braucht ein Netto-Null-Ziel bis spätestens 2040, einen linearen Absenkpfad dahin und einen konsequenten Ausstieg aus fossilen Energieträgern.