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Russland: die Sanktionen auf dem Prüfstand

21.06.2022, Handel und Investitionen

Die Sanktionen gegen Russland gelten als einzige nicht-militärische Möglichkeit, das Kriegsende herbeizuführen. Doch sie werfen viele Fragen auf: Worauf zielen sie ab? Und wie wirksam sind sie?

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Russland: die Sanktionen auf dem Prüfstand

UkrainerInnen in den USA demonstrieren vor dem Weissen Haus und fordern Sanktionen kurz nach Beginn der russischen Invasion.
© Foto: JIM LO SCALZO / EPA / Keystone

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar verhängten die westlichen Länder Sanktionen von bisher ungekanntem Ausmass gegen den Kreml und seine Oligarchen. Sie wurden von 35 westlichen Ländern mitgetragen, allerdings beteiligte sich kein einziges Entwicklungsland daran. Die Schweiz, die sich in den letzten 20 Jahren in fast der Hälfte der Fälle den EU-Sanktionen angeschlossen hatte, übernahm diese aufgrund des wachsenden internationalen und internen Drucks schliesslich ebenfalls.

Es ist das erste Mal, dass Sanktionen sogar gegen die Zentralbank eines G20-Landes verhängt wurden, und dennoch ist derzeit schwer abzuschätzen, ob sie funktionieren werden oder nicht. Doch was heisst «funktionieren»? Was bezwecken sie? Und welche Auswirkungen haben sie auf die (insbesondere russische) Bevölkerung?

«Sanktionen verfolgen eine Reihe von sich überschneidenden Zielen und selbst die Länder, die sie verhängen, kennen das anvisierte Ziel nicht immer genau», sagt Dmitry Grozoubinski, Geschäftsführer der Geneva Trade Platform. In Bezug auf Russland sind es vier Ziele: Regimewechsel, Änderung der russischen Politik, finanzielle Austrocknung des Militärapparats und Ausdruck der westlichen Ablehnung.»

Ein Regimewechsel wurde selten erreicht

Der ehemalige australische Diplomat bekräftigt, dass das erste Ziel auf diesem Weg noch nie erreicht wurde. Mit Sanktionen habe noch nie ein Regimewechsel erzwungen werden können, ausser vielleicht im Fall von Südafrika während der Apartheid. «Das russische Volk ist es gewohnt, den Gürtel enger zu schnallen, vor allem wenn es sich von ausländischen Mächten angegriffen fühlt», betont er. Die finanziellen Sanktionen benachteiligen insbesondere junge, gebildete Menschen und die Stadtbevölkerung. Viele von ihnen verlassen das Land, obwohl sie am ehesten einen Regimewechsel herbeiführen könnten.»

Was ein politisches Umdenken angeht, sind Grozoubinski wie auch Erica Moret, Koordinatorin des Geneva International Sanctions Network, der Ansicht, dass dies schwierig zu bewerkstelligen sei: Zweifellos kann Russland die Sanktionen nicht ignorieren, doch ist es schwer zu sagen, ob sie ein entscheidender Faktor für oder gegen die Fortsetzung des Krieges, die Aufnahme diplomatischer Verhandlungen, den Einsatz von Chemiewaffen oder die Bombardierung einer Schule oder eines Krankenhauses sind.

Dagegen hält Dmitry Grozoubinski fest, dass sie sich als wirksames Mittel für die Austrocknung der militärischen Ressourcen Russlands erwiesen haben. Einige Experten sind der Ansicht, die Sanktionen, die Moskau nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 auferlegt wurden, seien der Grund für Russlands eklatanten Mangel an militärischer Spitzentechnologie: Die Rüstungsindustrie kann die notwendigen Komponenten, insbesondere Halbleiter, nicht auf den westlichen Märkten beschaffen, und es ist unwahrscheinlich, dass China und Indien diese Lücke schliessen können.

Was die Symbolkraft der Sanktionen betrifft, so weist der Experte darauf hin, dass die Industrieländer bereit sein müssen, den Preis für ihre ablehnende Haltung zu zahlen − was gerade geschieht, auch wenn sie nicht gewillt sind, gänzlich auf Gaslieferungen zu verzichten, zumindest noch nicht.

«Die russische Wirtschaft ist am Boden»

Die Auswirkungen auf die russische Bevölkerung sind verheerend. So twitterte der russische Professor Maxim Mironow von der IE Business School in Spanien, dass «die russische Wirtschaft am Boden sei». Seiner Meinung nach wird die Bevölkerung besonders stark unter dem Zusammenbruch und der Verlangsamung der verarbeitenden Industrie leiden, da westliche Komponenten und Maschinen nicht mehr importiert werden können. Dies gilt für alle Bereiche, beispielsweise werden 90% des Saatguts für russische Kartoffeln importiert.

«Eine der Herausforderungen des Handels besteht darin, dass eine internationale Transaktion nicht nur aus Kauf und Verkauf besteht: Es braucht Versicherungen, Finanzinstitute, Transportunternehmen − und die meisten davon haben ihre Tätigkeiten aus Angst vor Verlustgeschäften und Boykotten eingestellt», fährt Dmitry Grozoubinski fort. Viele Arzneimittelhersteller verkaufen zwar weiterhin nach Russland, doch was werden sie tun, wenn es keine Schiffe mehr gibt, da keines bereit ist, eine unversicherte Ladung an Bord zu nehmen? Und wenn die Banken vom Swift-System ausgeschlossen werden, stehen die in Genf ansässigen Händler vor unüberwindbaren Schwierigkeiten.»

Sanktionen immer weniger zielgerichtet

Erica Moret ergänzt: «Die Sanktionen sind immer weniger zielgerichtet. Um das Jahr 2000, nach den humanitären Krisen in Kuba, Haiti, dem Irak und anderswo, versuchten die Vereinten Nationen und verschiedene Regierungen, darunter die USA, gezielte Sanktionen zu verhängen − wie das Einfrieren von Vermögen mehrerer Personen oder Unternehmen, Reisebeschränkungen oder das Verbot, Waffen zu kaufen oder zu verkaufen. In den letzten 20 Jahren wurden jedoch zunehmend umfassende Sanktionen verhängt, die sich de facto auf ganze Sektoren wie den Finanz- oder Energiebereich beziehen. Auf dem Papier bleiben sie zwar zielgerichtet, doch in der Praxis ähneln sie einem Embargo gegen ein Land. Zu sehen ist dies am Beispiel des Iran, Nordkoreas, Syriens und Venezuelas. Ausserdem haben Studien gezeigt, dass Sanktionen, die sich gegen die Zentralbank oder den Energiesektor richten, erhebliche humanitäre Auswirkungen haben, da mit ihnen die Inflation und die Arbeitslosigkeit steigen.»

Laut der Wissenschaftlerin ist es jedoch sehr schwierig, die Auswirkungen von Sanktionen durch die von anderen Faktoren isolierte Betrachtung zu messen: Korrelation ist nicht gleichbedeutend mit Ursache. Im Sudan, in Venezuela und in Myanmar beispielsweise kann die katastrophale humanitäre Lage nicht nur den Sanktionen zugeschrieben werden, sondern auch der Unterdrückung durch die Regierung, der Korruption, der schlechten Regierungsführung und den Menschenrechtsverletzungen. «Es ist wichtig, dies zu betonen, da das Thema stark politisiert wird. In der Argumentation der Regierungen sind Sanktionen immer die Ursache aller Probleme, obwohl auch andere Faktoren eine Rolle spielen.»

Das Problem der Überkonformität

Erica Moret weist darauf hin, dass neben der Ausweitung der Sanktionen auch das Inkrafttreten weiterer Anti-Korruptions- und Anti-Geldwäscherei-Regeln, die der Privatsektor und die Banken befolgen müssen, die Komplexität weiter erhöhen kann. Die Angst vor milliardenschweren Strafzahlungen kann zu einer Überkonformität (overcompliance) führen, so dass sich Banken lieber ganz aus Ländern wie Syrien oder dem Iran zurückziehen. «Overcompliance und De-Risking (Risikominimierung) sind oft folgenschwerer als Sanktionen, denn selbst die strengsten Sanktionen sehen Ausnahmeregelungen vor, die theoretisch den Handel mit Medikamenten, Lebensmitteln usw. zulassen. Die Übererfüllung hingegen betrifft die gesamte Lieferkette, die Versicherungen, das Transportwesen, die Technologiesparte....»

Für Erica Moret ist es zwar noch zu früh, um die Auswirkungen dieses Phänomens auf Russland zu messen, aber es steht fest, dass der Boykott der multinationalen Unternehmen sowohl mit den Sanktionen als auch mit einer Frage der Reputation und der sozialen Verantwortung zusammenhängt. Aus symbolischer Sicht spielt dies eine wichtige Rolle, da so der russischen Bevölkerung gezeigt wird, dass die meisten westlichen Unternehmen gegen den Krieg sind; dies verhilft der Botschaft der «internationalen Gemeinschaft» zu mehr Sichtbarkeit. Eine Gefahr breiter Sanktionen besteht jedoch darin, dass die Bevölkerung die Regierung noch stärker unterstützt, insbesondere in Ländern, in denen die Medien kontrolliert werden. Das Verschwinden von Luxusgütern vom Markt mag noch keine humanitären Auswirkungen haben, die Abwanderung von Pharma-. Lebensmittel- und Technologieunternehmen jedoch möglicherweise schon.

Die Vereinten Nationen prangern Sanktionen mit Auswirkungen auf die Menschenrechte an

Am 25. März 2022 riefen acht UN-ExpertInnen  – darunter die Sonderberichterstattenden für das Recht auf Nahrung, Gesundheit und Trinkwasser – die Staaten dazu auf, bei der Verhängung von Sanktionen die humanitären Auswirkungen zu berücksichtigen.

Sie schreiben: «Einseitige Sanktionen, die auf Steuersysteme abzielen, einschliesslich Geldtransfers sowie andere internationale Finanztransaktionen, und die mit den Grundbedürfnissen einer Bevölkerung verknüpft sind, verstossen gegen den Menschenrechtsgrundsatz der «Anhebung des Lebensstandards». Sie sind nicht hinnehmbar. [...] Banken und Unternehmen dürfen nicht verhindern oder daran gehindert werden, mit Lebensmitteln, Wasser, medizinischer Ausrüstung, lebenswichtigen Medikamenten und Impfstoffen, Ersatzteilen, Geräten oder Reagenzien, die für die Instandhaltung kritischer Infrastrukturen erforderlich sind, im Sinne der Due Diligence und der unternehmerischen Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte zu handeln und diese zu liefern.»

Erica Moret zufolge sind Sanktionen neben der Diplomatie und den Guten Diensten nur ein Instrument unter vielen. Sie treffen eher ein Land, das stark in die globale Wirtschaft integriert ist, wie Russland, als ein Land, das bereits isoliert ist. Alliance Sud fordert die Schweiz und die internationale Gemeinschaft mit Nachdruck auf, dafür zu sorgen, dass die Sanktionen keine unverhältnismässigen und unnötigen Auswirkungen auf die Bevölkerung haben.

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