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Den Widerstand weiterdenken

07.10.2018, Agenda 2030

Nicht nur in autoritär regierten Ländern sind Menschenrechts- und DemokratieaktivistInnen im Visier der Mächtigen. Zeit, um neue Visionen und Strategien zu entwickeln.

Den Widerstand weiterdenken

Demonstration in der georgischen Hauptstadt Tiflis gegen das Abhören von Telefonen (März 2016).
© CIVICUS

Noch vor wenigen Jahren konnten wir uns am Beginn einer neuen Ära wähnen, in der Menschen, Bürgerinnen und Bürger ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. In der arabischen Welt gab es Volksaufstände, im Westen die Occupy-Bewegung und überall die neuen Möglichkeiten, digitale Kampagnen zu führen; es war eine inspirierende und optimistische Zeit. Aber für jene, die sich täglich mit den Herausforderungen beschäftigen, denen die Zivilgesellschaft ausgesetzt ist, ist die zarte Morgenröte längst durch dunkle Wolken abgelöst worden. Weltweit wird systematisch gegen jene vorgegangen, die sich neue Räume erobert haben. Um dieser Entwicklung zu begegnen, müssen wir uns radikal neue Ansätze überlegen, dabei sind Entschlossenheit und Einfallsreichtum gefragt.

Die neusten Erkenntnisse aus dem CIVICUS Monitor, einem Instrument, das die  Bedingungen für Bürgeraktionen auf der ganzen Welt erfasst, zeigen, dass in 109 Ländern die Bürgerinnen und Bürger mit Problemen konfrontiert sind, wenn sie sich engagieren. Mit zunehmender Tendenz. In den letzten zwölf Monaten sind die Angriffe auf die Grundfreiheiten dreister geworden, und dies auch in Ländern, in denen sie früher die Ausnahme waren. Einschränkungen des Rechts, sich zu organisieren, die Beschneidung von Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit beobachten wir nicht mehr bloss in fragilen Staaten und Autokratien; sie kommen auch in gefestigten Demokratien vor – es ist beunruhigend, wie allgegenwärtig sie geworden sind. 

Schikanen ohne Ende

Die zehn wichtigsten Verletzungen der bürgerlichen Freiheiten auf der ganzen Welt sind heutzutage: Inhaftierung von AktivistInnen, Angriffe auf JournalistInnen, Zensur, Verhinderung oder Auflösung von Protesten, Anwendung übermässiger Gewalt, Belästigung oder Einschüchterung sowie bürokratische und legislative Hürden, welche die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen erschweren. 

Das Vorgehen gehen Bürgerbewegungen ist mittlerweile so verbreitet, dass es aus fast jedem Kontext in unserem Netzwerk zahlreiche Beispiele gibt. Im Iran wurden seit Anfang des Jahres Dutzende von Umweltaktivisten wegen unbegründeter Vorwürfe der Spionage festgenommen, viele davon werden in Einzelhaft und ohne Zugang zu Rechtsbeistand festgehalten. Seit den Protesten von Ende 2017 befinden sich über 150 Schülerinnen und Schüler in Haft, deren Familien von den Behörden unter Druck gesetzt werden, sie und ihre Handlungen öffentlich zu verurteilen. Wer in Guatemala die Menschenrechte verteidigt, lebt gefährlich. Seit Januar wurden 18 Aktivisten getötet und mindestens 135 angegriffen, viele davon bei Protesten gegen die Vertreibung von Grund und Boden, den ihre Gemeinschaften seit Menschengedenken bebaut haben. 

China als globaler Schrittmacher

In China, einem Land, das im globalen Süden häufig als Modell für politische Stabilität und wirtschaftlichen Erfolg gesehen wird, wird das zivilgesellschaftliche Engagement besonders stark eingeschränkt. Eine Reihe restriktiver neuer Gesetze zur nationalen Sicherheit und Terrorismusbekämpfung hat zu immer noch mehr Inhaftierungen von «Dissidenten» geführt. Das neue nationale Geheimdienstgesetz gewährt den Behörden weitreichende Befugnisse zur Überwachung von Personen und Institutionen im In- und Ausland, während das Gesetz über die Aktivitäten ausländischer NGOs es der Polizei ermöglicht, deren Finanzierungsquellen, Personal und Aktivitäten zu kontrollieren. Die unerbittliche Verfolgung von Kritikern hat zu Massenverhaftungen von Anwälten und Aktivistinnen geführt, Websites, die zum friedlichen Dialogs aufriefen, wurden geschlossen, regelmässig verhindern Sicherheitskräften legitime friedliche Proteste. 
Dass so viele andere Länder dem chinesischen Modell nacheifern, wird zum Problem. Denn der Erfolg Chinas beruht auf der Verletzung grundlegendster Rechte der chinesischen Bevölkerung. Heute stellt diese Tatsache eine echte Bedrohung für die Bürgerrechte auch in anderen Teilen des globalen Südens dar.

Und trotz alledem bleibt die Geschichte der Zivilgesellschaft nicht eine der Entmachtung, sondern eine des entschlossenen Widerstands. Allein im letzten Jahr haben wir gesehen, wie sich die Menschen Land für Land auf neue und kreative Weise engagiert haben, um die bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen, für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und fortschrittliche Werte zu kämpfen, angemessene Dienstleistungen zu verlangen, sich gegen Korruption, Wahlbetrug und Verfassungsfälschung auszusprechen; die Bürgerinnen und Bürger sind sich in ihrer nachhaltigen Entschlossenheit einig, dass sie einen positiven Wandel herbeiführen wollen. 

Dabei waren und sind wir durchaus erfolgreich, doch es braucht noch mehr als den Widerstand Tag für Tag. Wenn wir daran gehindert werden, uns zu wehren und zu entfalten, so müssen wir darauf überzeugende, tragfähige Antworten und Alternativen haben. Die Zivilgesellschaft ist gefordert, eine positive Vision für eine andere, bessere Welt zu formulieren.

Um eine solche Vision zu erarbeiten, müssen sich die Akteure der Zivilgesellschaft lokal, national und international vernetzen, Online-Aktivismus mit Offline-Aktionen verknüpfen, gemeinsame Anliegen finden und in progressiven Allianzen zusammenarbeiten. Und wir müssen uns weigern, den internationalen Rahmen unserer Arbeit preiszugeben. Denn wir wissen, dass die heutigen Probleme nicht mit nationalistischen Lösungen gelöst werden können, nein, sie erfordern einen fortschrittlichen, auf die Menschen ausgerichteten Multilateralismus. Wir müssen die demokratischen Institutionen wieder aufbauen, dafür sorgen, dass die Stimmen ausgegrenzter Gruppen und lokaler Gemeinschaften in Regierungen gehört werden, die heute von Partnerschaften zwischen Regierung und Privatsektor dominiert werden; wir müssen für starke, unabhängige Medien eintreten, die auf einem gemeinsamen Interesse an Transparenz und Rechenschaftspflicht beruhen; und wir werden weiterhin und unermüdlich für ein offenes Internet und eine digitale Welt kämpfen, in der unsere demokratischen Rechte geschützt und gewahrt werden. 

In all diesen individuellen, miteinander verbundenen Kämpfen ist es unsere Pflicht, das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren. Die grosse Herausforderung sind nicht die kurzfristig gegen uns gerichteten Angriffen, es geht um mehr: Uns verbindet die Vorstellung einer partizipativeren, substantiellen Demokratie für eine radikal veränderte Welt. 

Dr. Dhananjayan Sriskandarajah ist Generalsekretär von CIVICUS, der globalen Allianz der Zivilgesellschaft und Mitglied des hochrangigen UNO-Gremiums für digitale Zusammenarbeit. Ende Jahr wechselt er als neuer CEO zu Oxfam UK.

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