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Die Schulden der anderen machen unsere Schuldenbremse auch nicht nötiger

04.12.2025, Finanzen und Steuern

Anfang Dezember herrscht hör- und lesbar Nervosität, ob die nächste Finanzkrise schon um die Ecke guckt. Ein Grund sind die hohen Schulden gewisser Länder. Daraus werden in der Schweiz neue falsche Argumente für die Schuldenbremse gedrechselt. 

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Die Schulden der anderen machen unsere Schuldenbremse auch nicht nötiger

Auf den Finanzmärkten herrscht Nervosität, im Bundeshaus auch – weil die Schuldenbremse immer wieder als Totschlagargument gebraucht wird.

©Parlamentsdienste 3003 Bern /  Béatrice Devènes

Es gibt gleich mehrere mögliche Anzeichen und Auslöser für eine Finanzkrise. Zum Beispiel herrschen auf dem US-Aktienmarkt Zustände wie zuletzt vor dem Platzen der Dotcom-Blase in den Nuller Jahren. Immer weiter abhebende Aktienkurse von Unternehmen, die gar keine Gewinne machen. Diesmal geht es – natürlich – um künstliche Intelligenz. Der Aktienwert von 10 AI-Unternehmen, die allesamt Verluste schreiben, hat innerhalb eines Jahres um 1000 Milliarden zugenommen, also mehr als das BIP der Schweiz.

Der gegenwärtigen IWF-Direktorin Kristalina Georgiewa hingegen rauben die sogenannten non-bank financial institutions (NBFIs) den Schlaf. NBFI ist die technokratische Abkürzung für Schattenbanken; darunter verstanden werden Hedgefonds, Private-Equity-Firmen und institutionelle Anleger, die zwar teilweise dasselbe tun wie Banken, aber nicht wie diese reguliert und überwacht sind. Das risikoreiche, durch Schulden aufgeblähte Schattenbankensystem ist inzwischen grösser als das regulierte Finanzsystem und zudem vielfältig mit letzterem verhängt. Dies erhöht die Risiken und macht sie unkalkulierbar.

Und dann gibt es diejenigen, die schon immer wachsende Staatschulden für das gefährlichste hielten und sich angesichts von Trumps Steuer- und Finanzpolitik fürchten müssen. Es ist dieses Szenario mit aus dem Ruder laufenden Staatschulden, das zum dümmstmöglichen Zeitpunkt (dazu mehr weiter unten) als Argument für die Schuldenbremse ins Feld geführt wird. Einmal in einer plumpen und einmal in einer weniger plumpen Variante. Falsch sind sie beide.

Plump: Wehret den Anfängen

Das Argument lautet etwa so, dass nur die Schuldenbremse verhindert, dass auch bei uns die Schulden ein gefährliches Ausmass annehmen könnten. Wissenschaftlich kann gar keine Schwelle der Staatschulden benannt werden, ab der es gefährlich wird. Mit einer Quote von 17,2% (siehe Grafik unten) sind die Schulden der Schweiz aber auf jeden Fall so extrem tief, dass eher das problematisch ist. Eine Expert:innengruppe des Bundes (die im Übrigen die Schuldenbremse befürwortete) formulierte das 2017 so: «Ein sehr tiefes Schuldenniveau könnte schliesslich Probleme für die Finanzmärkte verursachen. Falls der Markt für Bundesobligationen stark schrumpft und kaum noch liquide wäre, könnte das Funktionieren der Finanzmärkte beeinträchtigt werden.»

 

Doch nehmen wir mal an, die Schulden der Schweiz würden ganz schnell sehr stark wachsen. Hohe Staatschulden können tatsächlich ein Problem werden, wenn neue Schulden nur noch zu viel höheren Zinsen gemacht werden können. Da Staaten ihre Schulden nicht aus der Staatskasse zurückzahlen, sondern durch die Aufnahme von neuen Schulden die Alten begleichen können, ist es natürlich ein Problem, wenn dieser Mechanismus stockt. Noch schlimmer ist es, wenn die Gläubiger gar keine Staatsschuldpapiere mehr kaufen wollen. Ebenso ist eine starke Abwertung der Landeswährung ungemütlich, weil die Bedienung der Fremdwährungsschulden dann teurer wird. Länder des Globalen Südens erleben solche Staatsschuldenkrisen regelmässig.

Für die Schweiz ist dies völlig unrealistisch. Schweizer Staatsanleihen (die sogenannten «Eidgenossen») sind sehr gefragt, dies gilt erst recht in Krisenzeiten. Damit ist ein Zinsschock ebenso auszuschliessen wie ein Gläubigerstreik. Ebenso gilt der Schweizer Franken als sicherer Hafen und wird darum in Krisenzeiten eher stärker (das kann dann für die Realwirtschaft ein Problem werden, aber sicher nicht bezüglich Schulden).

Dass höhere Staatsschulden für die Schweiz kein Problem sind, zeigt auch ein Blick in die Geschichte: Nach den beiden Weltkriegen betrug der Schuldenstand des Bundes 9 Milliarden Franken, was in etwa 50% des damaligen Bruttoinlandproduktes entsprach. Das hat die Schweiz keineswegs daran gehindert, in den folgenden Jahrzehnten hohe Wachstumsraten zu erzielen. Und dies gilt auch auf lange Sicht: In der Schweiz hatten zwischen 1894 und 2014 Staatsschulden weder einen negativen Einfluss auf das BIP-Wachstum noch haben sie die langfristigen Zinsraten erhöht. Der Durchschnitt der Schuldenquote lag in dieser Periode bei 49,2%.

Weniger plump: Sicherheitsmarge

Finanzministerin Karin Keller-Sutter drechselt aus der Angst vor einer weltweiten Schuldenkrise (die sie offensichtlich teilt) ein feineres Argument für die Schuldenbremse. Unter dem Eindruck eines kurzzeitigen Einbruchs an den Börsen Anfang August sagte sie dem Blick: «Die Verschuldung in den USA und in Europa ist ein Risiko für die internationale Finanzstabilität und ein Risiko für die Schweiz.» Die Schuldenbremse sei ein Instrument dafür, dass sich die Schweiz selbst helfen könne.

Alliance Sud hat zum ersten Mal berechnet, welchen finanziellen Spielraum die Schweiz hätte, wenn sie die Schuldenbremse reformieren würde. Dabei hat sie auch ein Szenario bei einer Finanzkrise angeschaut und kann getrost Entwarnung geben.

Belastungspaket überflüssig

Doch zunächst einmal ein Szenario, bei dem die Schuldenbremse beim Wort genommen würde. Verkauft wurde sie dem Stimmvolk 2003 nämlich als das, was der Name sagt: als Bremse gegen den weiteren Anstieg der Schulden. Das ist das, was in der Abstimmung angenommen wurde; erst das Parlament hat uns eine Umsetzung verpasst, die nicht zum Bremsen des Anstiegs, sondern zu einem permanenten Schuldenabbau führt.

Die Berechnungen von Alliance Sud zeigen, dass durch eine Anhebung des Schuldenniveaus gemessen am BIP auf den Stand bei der Einführung der Schuldenbremse 2003 (24,9%, brutto gemäss Maastricht-Definition) bis 2035 insgesamt 153 Milliarden Franken zur Verfügung stehen würden. Das wären also 15,3 Milliarden pro Jahr. Die Schweiz hätte dann gemessen am Stand von 2024 immer noch die drittniedrigste Schuldenquote Europas. Nur Bulgarien und Estland lägen darunter.

Darum kommen Schuldenpanik-Argumente in der Schweiz zum dümmsten Zeitpunkt: In der Wintersession 2025 begann das Parlament die Verhandlung über das «Entlastungspaket 2027», in Wirklichkeit ein belastendes Abbaupaket, das auch die internationale Zusammenarbeit stark trifft. 5,4 Milliarden Franken sollen dadurch in der Zeit zwischen 2027 und 2029 eingespart werden. Die Einschnitte, die u. a. auch der Chancengleichheit in der Bildung, der Integration von Flüchtlingen und dem Klimaschutz schaden, sind also mehr als nicht nötig. Die nackten Zahlen zeigen, dass die Schweiz einen riesigen Spielraum für höhere Schulden hat, um Zukunftsinvestitionen zu tätigen oder – falls man das wirklich für nötig erachtet – schneller aufzurüsten, als das normale Budget es erlaubt. Ebenso könnten ausserordentliche Ausgaben, die nur einmal bzw. während einer beschränkten Zeit anfallen, z. B. die Ausgaben für die Unterstützung der Ukraine, durch Verschuldung ausserhalb der Schuldenbremse finanziert werden.

Auch Platz für eine Finanz- und Coronakrise

Aber hat nicht gerade die Corona-Krise gezeigt, dass dank der Schuldenbremse für schlechte Zeiten gespart wurde? Das wurde zwar in der Corona-Krise oft so dargestellt, es stimmt trotzdem nicht. Die Schuldenbremse führt nicht dazu, dass in guten Jahren Geld für schlechte Jahre angespart würde. Die Umsetzung des Parlaments gibt vor, dass Überschüsse in der Staatsrechnung (also nicht gebrauchtes Geld aus dem Budget) vollumfänglich in den Schuldenabbau fliessen müssen. Die Corona-Hilfen wurden deshalb ganz einfach mit Neuverschuldung finanziert. Und das wäre angesichts der immer noch sehr niedrigen Verschuldung auch dann möglich gewesen, wenn die Schulden vorher nicht abgebaut worden wären. Für die Überwindung der Corona-Krise war die Schuldenbremse schlicht irrelevant.

Die Möglichkeit, ihre Schulden zu erhöhen, hat die Schweiz auch im Falle einer Finanzkrise. Das grösste Risiko für die Schweiz ist die UBS, ganz unabhängig vom konkreten Auslöser einer Finanzkrise. Nehmen wir an, die Schweiz müsste 200 Milliarden Franken zur Rettung der UBS ausgeben. Und nehmen wir auch noch an, das würde während einer Pandemie geschehen, die weitere 100 Milliarden Franken kostet. Beide Krisen sind ja möglich, auch wenn es nicht besonders realistisch ist, dass beide zusammenfallen. Das alles, nachdem bereits 153 Milliarden investiert wurden und die Schuldenquote deshalb auf das Niveau von 2003 angestiegen wäre. Selbst dieses Gedankenspiel mit einem Extremszenario zeigt, dass der Spielraum riesig ist. Bei einer Erhöhung der Schuldenquote auf 60% stünden gegenüber heute innerhalb von 10 Jahren nämlich 536 Milliarden Franken zur Verfügung. Die Schweiz wäre dann mit einer Schuldenquote von 60% einfach im unteren europäischen Mittelfeld angekommen.

Ein weiterer Schuldenabbau hingegen, den es mit dem Sparpaket unweigerlich geben wird, ist hingegen schädlich. Schuldenabbau ist nämlich nicht gratis, wie die bereits erwähnte Expert:innengruppe des Bundes feststelle: «(E)s ist wichtig, im Auge zu behalten, dass Schuldenabbau auch volkswirtschaftliche Kosten nach sich zieht und dass der Grenznutzen eines zusätzlichen Schuldenabbaus sinkt, je tiefer der Schuldenstand ist.» Und sogar der Internationale Währungsfonds, gewissermassen der globale Schuldenwachhund, riet der Schweiz schon 2019: «Eine weniger konservative Umsetzung der Schuldenbremse-Regel würde Raum für zusätzliche Ausgaben schaffen, unter anderem um langfristige wirtschaftliche Trends zu bewältigen.»

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