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Klimakompensation im Ausland: die Illusion der Freiwilligkeit

07.12.2023, Klimagerechtigkeit

Auf Druck der Zivilgesellschaft und der Medien ist der Kohlenstoffmarkt in Verruf geraten. Zu Recht: Das derzeitige System hält nicht, was es verspricht, und benachteiligt den Globalen Süden.

Maxime Zufferey
Maxime Zufferey

Junior Professional Officer, Mitarbeiter Klimafinanzierung

Klimakompensation im Ausland: die Illusion der Freiwilligkeit

Der übermässige Rückgriff auf Kompensationen anstelle einer substanziellen Reduktion der Emissionen ist in keinster Weise nachhaltig.

© Ishan Tankha / Climate Visuals Countdown

Der freiwillige Kohlenstoffmarkt ermöglicht den Handel mit Kohlenstoffgutschriften. So kann ein Unternehmen, das weiterhin CO2 ausstösst, seine eigenen Emissionen durch die Finanzierung von Projekten ausgleichen, welche Emissionen an anderer Stelle senken. In der Theorie gilt der CO2-Ausgleich als der effektivste, ergebnisorientierteste Marktansatz für die weltweite Senkung von Emissionen. Dem liegt die Idee zugrunde, die Wirkung der verfügbaren Ressourcen zur Emissionsreduktion zu maximieren, indem sie dort eingesetzt werden, wo sie am günstigsten sind. So könnte ein Unternehmen, nachdem es seine kostengünstigsten eigenen Emissionen gesenkt hat, Ressourcen für Projekte für kohlenstoffarme Technologien oder zur Wiederaufforstung von Wäldern bereitstellen, um die Emissionen, die es noch nicht senken konnte, rechnerisch auszugleichen. In der Praxis wird die Annahme, dass billige Kompensationsgutschriften die Lösung sind, jedoch stark kritisiert. Diese untergraben das Ziel der Emissionsminderung und tragen zu einer kontraproduktiven Aufrechterhaltung des Status quo bei. Die verstärkte Kontrolle durch die Zivilgesellschaft liess in jüngster Zeit Zweifel an den – oft irreführenden – Versprechen der «CO2-Neutralität» aufkommen, die von bestimmten Unternehmen unter dem Deckmantel der Kompensation abgegeben werden, während ihre Emissionen in der Realität weiter ansteigen.

Die Kohlenstoffmärkte: eine Bestandesaufnahme

Seit seinen Anfängen in den späten 1980er Jahren und insbesondere seit dem 1997 unterzeichneten Kyoto-Protokoll war der Kohlenstoffmarkt stets Gegenstand von Kontroversen. Seine Entwicklung hat zur Entstehung von Parallelmärkten geführt, die aufgrund ihrer potenziellen Überschneidungen mitunter schwer zu unterscheiden sind: dem «Compliance»-Markt und dem «freiwilligen» Kohlenstoffmarkt. Der Compliance-Markt sieht verpflichtende Emissionsreduktionen vor und wird auf nationaler oder regionaler Ebene reguliert. Der bekannteste dieser Märkte ist das Emissionshandelssystem der Europäischen Union (EU-ETS), dem die Schweiz 2020 beigetreten ist. Im Rahmen dieses Mechanismus unterliegen bestimmte grosse Emittenten – Kraftwerke und grosse Industriebetriebe – einer Emissionsobergrenze, die sie durch den Kauf von Zertifikaten von anderen Mitgliedern, die ihre Emissionen über das festgelegte Ziel hinaus gesenkt haben, kompensieren können. Diese Obergrenze wird jährlich abgesenkt.

Trotz einer äusserst komplexen Umsetzung hat dieses System zu einer gewissen Verringerung der Emissionen in den betroffenen Sektoren beigetragen. Es wird jedoch kritisiert, dass in seiner Anfangszeit die Zuteilung kostenloser Zertifikate an grosse Emittenten zu grosszügig war und keine ausreichend ehrgeizigen Reduktionsziele vorgeschrieben werden. Ausserdem ist der Kohlenstoffpreis noch zu niedrig; er müsste die sozialen Kosten einer Tonne Emissionen widerspiegeln und schrittweise auf 200 USD angehoben werden. Der freiwillige Markt hingegen schreibt derzeit keine Mindestreduktionsziele vor und bleibt weitgehend unreguliert. Hier werden auch Emissionsgutschriften von sehr unterschiedlicher Qualität und zu sehr unterschiedlichen Preisen (manchmal werden sie unter 1 USD angeboten) eingesetzt.

Die Grenzen des freiwilligen Marktes

Die Vertrauenskrise, die den freiwilligen Kohlenstoffmarkt getroffen hat, ist nicht nur auf seine fehlende Regulierung und seinen lückenhaften Rahmen zurückzuführen, sondern auch auf technische Grenzen dieses Mechanismus. Kohlenstoffgutschriften entsprechen nur selten der exakten Einheit der beanspruchten «Kompensation»; ihre Wirkung wird systematisch überschätzt. Gründe dafür sind eine unzuverlässige Quantifizierungsmethode und das Fehlen eines umfassenden Kontrollsystems, das frei von Interessenskonflikten ist. Doch damit nicht genug: Oft ist unklar, ob die Kompensationsprojekte dem Kriterium der Zusätzlichkeit entsprechen, d. h. ob sie nicht auch ohne den finanziellen Beitrag aus den Emissionsgutschriften umgesetzt worden wären. Dies gilt insbesondere für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien, die in den meisten Ländern zur wirtschaftlichsten Energiequelle geworden sind. Auch Doppelzählungen – die Anrechnung der Emissionsgutschrift sowohl durch das Gastgeberland als auch durch das ausländische Unternehmen – stellen eine grosse Herausforderung dar. Dieses Vorgehen widerspricht dem Grundsatz, dass eine Gutschrift nur von ein und derselben Stelle abgezogen werden kann. Mit dem Abkommen von Paris ist die Gefahr von Doppelzählungen grösser geworden, da es im Gegensatz zum Kyoto-Protokoll auch von den Entwicklungsländern Emissionssenkungen verlangt.

Auch die Frage, ob die verbuchten Kompensationen dauerhaft sind, wirft viele Zweifel auf. Die Gewinnung und Verbrennung fossiler Energieträger ist Teil des langfristigen Kohlenstoffkreislaufes, während die Photosynthese und damit die Aufnahme von Kohlenstoff durch Bäume oder die Aufnahme in die Ozeane Teil des kurzfristigen biogenen Kohlenstoffkreislaufs sind. Es erscheint daher illusorisch, die langfristige Anreicherung von CO2 in der Atmosphäre mit zeitlich auf wenige Jahrzehnte begrenzte Kompensationsprojekte ausgleichen zu wollen. Darüber hinaus gefährdet der menschengemachte Klimawandel selbst das Verbleiben des Kohlenstoffs in den temporären Speichern wie Böden und Wäldern, da Brände, Dürreperioden und die Ausbreitung von Schädlingen zunehmen. Hinzu kommt das Risiko der Verlagerung (leakage), wenn beispielsweise ein Projekt zum Schutz des Waldes in einer bestimmten Region dazu führt, dass woanders gerodet wird. . Die Aussichten auf technologische Lösungen mit Geräten zur Kohlenstoffabscheidung und -sequestrierung sollten nicht überschätzt werden. Derzeit sind sie weder wettbewerbsfähig noch kurzfristig in erforderlichem Umfang verfügbar. Wahrscheinlich werden sie auch in Zukunft nur eine begrenzte, wenn auch notwendige Rolle spielen.

Kohlenstoffkolonialismus verstärkt Ungerechtigkeiten

Ganz grundsätzlich ist der übermässige Rückgriff auf Kompensationen anstelle einer substanziellen Reduktion der Emissionen in keinster Weise nachhaltig. Wie Carbon Market Watch in seinem Bericht (Corporate Climate Responsibility Monitor) zur Integrität der Klimaschutzziele von Unternehmen, die sich selbst als Klimavorreiter bezeichnen, darlegt, hängt die Umsetzung der aktuellen «Netto-Null-Fahrpläne» dieser Unternehmen stark von Kompensationen ab. Bei gleichbleibendem Tempo würde der Landbedarf zur Generierung von Emissionsrechten die Verfügbarkeit von Boden bei weitem übersteigen, was das Überleben der lokalen Gemeinschaften, die Artenvielfalt und die Ernährungssicherheit direkt bedroht. Gleichzeitig basieren im freiwilligen Markt beliebte Emissionsreduktions-Projekte wie Aufforstung oder andere «naturbasierte Lösungen» (Nature-based Solutions) häufig auf «Festungsmodellen» des Naturschutzes, bei denen Schutzgebiete abgegrenzt und militarisiert werden - auf Kosten der ursprünglichen Bewohner:innen. Diese Projekte entstehen keineswegs in «leerem Raum», den die Umweltsünder mit Bäumen bepflanzen können, sondern oft in Landstrichen, die von indigenen Gemeinschaften bewohnt werden. Der neue Goldrausch der naturbasierten Lösungen durch die Privatisierung natürlicher Kohlenstoffsenken verschärft historisch komplexe Landkonflikte und stellt für die Waldbevölkerung eine reelle Gefahr der Enteignung dar. Erst recht, wenn bei solchen Vorhaben die Rechte indigener Gemeinschaften auf Selbstbestimmung und auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zu allen Projekten, die ihre Gebiete betreffen, beschnitten wird.

Alles in allem ist das derzeitige System weitgehend ungeeignet, um der Dringlichkeit der Klimakrise gerecht zu werden, und es ist überdies zutiefst ungerecht. Es räumt den grössten Emittenten von Treibhausgasen – vor allem grossen Unternehmen und Volkswirtschaften des Globalen Nordens – Verschmutzungsrechte ein: Sie können weiter wirtschaften wie bisher, während insbesondere die Wirtschaftssysteme und Lebensweisen des Globalen Südens eingeschränkt werden. Damit verlagert dieser Kohlenstoffkolonialismus die Verantwortung zur Bekämpfung des Klimawandels und der Abholzung von den grossen Unternehmen auf die lokalen Gemeinschaften, die am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich sind.

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