«Die Bundesfinanzen sind in Schieflage», sagte die neue Schweizer Finanzministerin Karin Keller-Sutter vor ein paar Wochen an einer Medienkonferenz, an der sie die Rechnung des Bundes für 2022 präsentierte und eine finanzpolitische Lagebeurteilung für die nächsten Jahre vornahm. Im letzten Jahr gab es ein Minus von 4,3 Milliarden Franken, auch in den nächsten Jahren drohen hohe Defizite, der Bundesrat will sparen. Doch pflügt man sich durch die Finanzzahlen des Bundes der letzten 20 Jahre und durch die Regeln der Schuldenbremse, zeigt sich: In Schieflage geraten ist vor allem letztere.
Was ist die Schuldenbremse?
Die Schuldenbremse wurde 2003 eingeführt. Sie soll laut Bundesgesetz über den eidgenössischen Finanzhaushalt Einnahmen und Ausgaben des Bundes über einen längeren Zeitraum hinweg im Gleichgewicht halten und so einer stetig wachsenden Verschuldung des Bundes entgegenwirken. Die Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV) schreibt: «Das Kernstück der Schuldenbremse besteht aus einer einfachen Regel: Über einen Konjunkturzyklus hinweg dürfen die Ausgaben nicht grösser sein als die Einnahmen.» Unter einem Konjunkturzyklus wird in der Regel eine längere Periode verstanden, in der eine Volkswirtschaft verschiedene konjunkturelle Phasen durchläuft: Aufschwung, Hochkonjunktur, Abschwung, Rezession, Aufschwung. Man könnte jetzt meinen, dass sich das Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben über einen solchen Konjunkturzyklus hinweg einstellen muss. Das jedenfalls scheint der obige Satz der EFV zu besagen. Das hiesse: In Jahren der Überschüsse würde der Bund in ein Sparschwein einzahlen, in Jahren der Defizite das Angesparte wieder herausnehmen. Über einen Konjunkturzyklus hinweg müsste der Kontostand des Sparschweins dann bei null liegen. Doch die Schuldenbremse ist eben kein Sparschwein. Das verhindern die Ausgabenregel und die konkreten Bestimmungen zum Ausgleichskonto. Der Sparteufel liegt im Detail.
Die Ausgabenregel
Die Ausgabenregel schreibt vor, dass der Bund in Jahren des starken Wirtschaftswachstums, wenn Unternehmen hohe Gewinne machen, die Löhne und der Konsum steigen und der Staat deshalb mehr Steuereinnahmen generiert, Budgetüberschüsse erzielen muss. In konjunkturschwachen Jahren darf der Bund dafür Defizite schreiben. Gemäss Ausgabenregel genügt es allerdings nicht, dass sich Überschüsse (positive Summe aus Einnahmen minus Ausgaben) und Defizite (negative Summe aus Einnahmen minus Ausgaben) über einen gesamten Konjunkturzyklus hinweg ausgleichen. In guten Jahren sorgt die Ausgabenregel für einen Zwang, Überschüsse zu erzielen. Das bringt den Bund auch in guten Jahren zum Sparen und schränkt seinen finanziellen Handlungsspielraum stark ein. Wenn Sie jetzt ans Eichhörnchen denken, das im Sommer (Jahre mit guter Konjunktur) nicht alle Eicheln auffrisst, die es sammelt, um für den Winter (Jahre mit schlechter Konjunktur) zu sparen, weil dann die Nahrung knapp ist, haben Sie die Sache bis hierher verstanden. Nur: Die Überschüsse in guten Jahren dürfen nicht in die Vorratskammer, um sie in schlechten Jahren zu verfüttern, sondern sie müssen in den Schuldenabbau fliessen. Das «Bundeseichhörnchen» muss seine angesparten Eicheln also gewissermassen an die «Wildschweine» (die Gläubiger des Bundes) abgeben. Es macht in guten Sommern also Diät, muss in harten Wintern dann aber trotzdem hungern – auch wenn ihm das nichts bringt, wie wir später noch sehen werden.
Das Ausgleichskonto
Das Ausgleichskonto ist eigentlich kein Konto. Es ist das Milchbüchlein des Bundes, aber kein Portemonnaie. Man kann dort also kein Geld hineinlegen. Die Eidgenössische Finanzverwaltung nennt es eine «buchhalterische Kontrollstatistik». Im Ausgleichskonto werden Budgetüberschüsse und Budgetdefizite notiert. Liegen die tatsächlichen Ausgaben im Rechnungsabschluss eines Jahres unter den im Rahmen der Budgetierung erwarteten Ausgaben, wird die positive Differenz auf dem Ausgleichskonto «verbucht». Es wird im Milchbüchlein also notiert, wie viel überschüssiges Geld der Bund eingenommen hat und in den Schuldenabbau steckte. Sind die Ausgaben höher als erwartet, wird das im Milchbüchlein entsprechend notiert, fallen sie tiefer aus als erwartet, ebenfalls. Ist der Saldo der notierten Summen negativ, muss dieses Minus in den Folgejahren (wie lange genau, ist nicht festgelegt) wieder ausgeglichen werden. Sprich, der Bund muss in den Folgejahren Überschüsse erwirtschaften (durch Mehreinnahmen oder Ausgabenkürzungen), mit denen das Ausgleichskonto wieder auf null gestellt werden kann. Auch der Schuldenabbau wird dann so lange ausgesetzt, bis der Saldo des Ausgleichskontos wieder im Plus ist.
Im Minus war das Ausgleichskonto aber in seiner 20-jährigen Geschichte der Schuldenbremse noch nie.
Das hat auch mit Glück zu tun: Zwischen 2003 und 2019 erlebte die Schweizer Volkswirtschaft nämlich abgesehen von einer kurzen Rezession während der Finanzkrise von 2008/2009 nur gute bis sehr gute Jahre. So stand dann der Saldo des Ausgleichskontos Ende 2019 mit 27,5 Milliarden Franken im Plus. Aber eben, dieses Geld ist bereits vollständig in den Schuldenabbau geflossen, das Sparschwein blieb leer. Aufgrund der Corona-Krise hat sich der Saldo des Ausgleichskontos nun bis Ende 2022 auf 21,9 Milliarden reduziert. Konsequenzen für den Bundeshaushalt hat diese Reduktion aber nicht, der Saldo ist ja immer noch sehr hoch. Der Schuldenstand des Bundes in Franken und Rappen hingegen hat sich in den letzten zwanzig Jahren vom Höchststand von 128 Milliarden im Jahr 2005 auf 88 Milliarden im Jahr 2019 reduziert. Coronabedingt ist der reale Schuldenstand in den letzten drei Jahren wieder angestiegen, sinkt jetzt aber bereits wieder. Da zudem auch die Wirtschaft stark wuchs, sank auch die Schuldenquote (Schuldensumme im Verhältnis zum BIP).
Der Schuldenstand seit 2005 startete schon von einem sehr niedrigen Niveau aus. Gemäss dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sank er von etwas über 30% auf unter 20% (die Zahlen des Bundes kommen zu einer noch tieferen Nettoverschuldung). Heute ist die Verschuldung der Schweiz im Vergleich mit ihren europäischen Nachbarn und anderen Finanzplatzmächten denn auch geradezu absurd tief (siehe Grafik).