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Medienmitteilung
Freiwillige sammeln 183'661 Unterschriften in 14 Tagen
21.01.2025, Konzernverantwortung
In kürzester Zeit haben über 10'000 Engagierte aus allen Landesteilen die Unterschriften für die neue Konzernverantwortungsinitiative gesammelt. Der Sammelrekord unterstreicht die grosse Unterstützung für die Initiative in der Bevölkerung.

Trotz eisiger Temperaturen engagierten sich in den letzten zwei Wochen Freiwillige schweizweit und sprachen mit Passant:innen über die neue Konzernverantwortungsiniative - mit rekordverdächtigem Erfolg.
Medienmitteilung der Koalition für Konzernverantwortung vom 21. Januar 2025. Alliance Sud ist Mitglied der Koalition für Konzernverantwortung.
Ein breites Komitee aus Politiker:innen aller Lager sowie Unternehmer:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft lancierte am 7. Januar 2025 die neue Konzernverantwortungsinitiative. Diese verpflichtet Konzerne wie Glencore bei ihren Geschäften zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltbestimmungen.
Freiwillige hatten Mitte Januar über 1'000 Standaktionen organisiert, um die nötigen Unterschriften in kürzester Zeit zu sammeln. In nur 14 Tagen sind 183'661 Unterschriften zusammengekommen, die nun beglaubigt werden.
Der Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, der Mitglied des Initiativkomitees ist, kommentiert: «Ich habe noch nie ein Anliegen erlebt, für das sich so viele Menschen in ihrer Freizeit einsetzen. Überall fanden in den letzten zwei Wochen Standaktionen statt – in den Städten und auf dem Land. Dass in nur 14 Tagen 183'661 Unterschriften gesammelt wurden, ist eine Sensation! Das zeigt eindeutig, wie gross die Unterstützung für die Konzernverantwortungsinitiative in der Bevölkerung ist.»
Schweiz bald einziges Land ohne Konzernverantwortung
2020 warnten die Gegner:innen im Abstimmungskampf um die erste Konzernverantwortungsinitiative, die Schweiz würde «weltweit einzigartige Haftungsregeln» einführen. Der Bundesrat versprach, «international abgestimmt» vorgehen zu wollen und «gleich lange Spiesse» für Unternehmen in der Schweiz und der EU anzustreben.
Doch obwohl seither verschiedene europäische Länder wie Deutschland und Norwegen Konzernverantwortungsgesetze einführten und im Frühling 2024 die Europäische Union eine Sorgfaltspflichtenrichtlinie verabschiedete, kommt die Diskussion hierzulande nicht voran.
Aktuelle Skandale zeigen Handlungsbedarf
Bis heute verletzen Konzerne mit Sitz in der Schweiz immer wieder Menschenrechte und grundlegende Umweltbestimmungen: Sei es eine Glencore-Mine in Peru, die einen ganzen Landstrich vergiftet, Goldraffinerien wie MKS Pamp, die problematisches Gold in die Schweiz importieren, der Genfer Metallhandelskonzern IXM, der in Namibia rund 300'000 Tonnen hochgiftige Abfälle zurücklässt oder gewisse Schokolade-Konzerne, die bis heute von Kinderarbeit profitieren.
Die neue Konzernverantwortungsinitiative wird solchen Geschäften einen Riegel schieben.
Weitere Informationen:
Oliver Heimgartner, Co-Geschäftsleiter
078 800 93 45, oliver.heimgartner@konzernverantwortung.ch
- Bilder von den Standaktionen
- Initiativtext mit Kurzerläuterungen
- Initiativkomitee
- Beispiele von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung
Medienkontakt:
Stefan Müller-Altermatt, Nationalrat Die Mitte (SO)
076 332 15 26
Medienmitteilung
Neue Konzernverantwortungsinitiative verhindert Schweizer Alleingang
07.01.2025, Konzernverantwortung
Ein breites Komitee mit Vertreter:innen aller politischer Lager sowie Unternehmer:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft stellt heute in Bern die neue Konzernverantwortungsinitiative vor. Die Initiative verpflichtet Konzerne bei ihren Geschäften zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltbestimmungen.

Hinter dem Sicherheitszaun erhebt sich Antapaccay, eine gigantische Kupfermine von Glencore in Peru. Studien zeigen, dass sie mitten in indigenem Land Luft, Wasser und Böden vergiftet. © Jacob Balzani Lööv
Medienmitteilung der Koalition für Konzernverantwortung vom 7. Januar 2025. Alliance Sud ist Mitglied der Koalition für Konzernverantwortung.
Bis heute verletzen Konzerne mit Sitz in der Schweiz immer wieder Menschenrechte und grundlegende Umweltbestimmungen: Sei es eine Glencore-Mine in Peru, die einen ganzen Landstrich vergiftet, Goldraffinerien wie MKS Pamp, die problematisches Gold in die Schweiz importieren, der Genfer Metallhandelskonzern IXM, der in Namibia rund 300'000 Tonnen hochgiftige Abfälle zurücklässt oder gewisse Schokolade-Konzerne, die bis heute von Kinderarbeit profitieren. Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt stellt klar: «Dieses Verhalten schadet dem Ruf unserer Wirtschaft und muss nun endlich aufören.»
Die Beispiele zeigen auch, dass der Gegenvorschlag zur ersten Konzernverantwortungsinitiative, der weitgehend auf Wunsch der Konzernlobbyverbände eingeführt wurde und auf Berichterstattung fokussiert, wirkungslos geblieben ist.
Schweiz bald einziges Land ohne Konzernverantwortung
2020 warnten die Gegner:innen im Abstimmungskampf um die erste Konzernverantwortungsinitiative, die Schweiz würde «weltweit einzigartige Haftungsregeln» einführen. Der Bundesrat versprach, «international abgestimmt» vorgehen zu wollen und «gleich lange Spiesse» für Unternehmen in der Schweiz und der EU anzustreben.
Doch obwohl seither verschiedene europäische Länder wie Deutschland und Norwegen Konzernverantwortungsgesetze einführten und im Frühling 2024 die Europäische Union eine Sorgfaltspflichtenrichtlinie verabschiedete, kommt die Diskussion hierzulande nicht voran. GLP-Nationalrat Beat Flach sagt: «Die Schweiz ist nun bald das einzige Land in Europa ohne Konzernverantwortung. Das wollen wir nicht. Die Schweiz muss international abgestimmt vorgehen.»
Initiative stellt für Grosskonzerne verbindliche Regeln auf
Die neue Initiative «Für verantwortungsvolle Grossunternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» möchte Schweizer Konzerne dazu verpflichten, bei ihren Geschäften Menschenrechte und Umweltbestimmungen einzuhalten und ihre klimaschädlichen Emissionen zu reduzieren. Die geforderten Pflichten sind eng mit den internationalen Standards in dem Bereich und den neuen Pflichten in der EU abgestimmt und gelten für Konzerne ab 1'000 Mitarbeitenden und 450 Millionen Franken Umsatz. Im besonders risikobehafteten Rohstoffsektor sollen auch Grossunternehmen erfasst werden, die diese Schwellenwerte nicht erreichen.
Glencore müsste mit der Initiative beispielsweise endlich Massnahmen ergreifen, um die jahrelange Verschmutzung rund um die Mine Antapaccay in Peru zu stoppen und die Schäden zu sanieren.
Damit sich alle Konzerne an die neuen Regeln halten, sieht die Initiative vor, dass Betroffene von Menschenrechtsverletzungen vor einem Schweizer Gericht Schadenersatz einfordern können. Die Pflichteinhaltung soll zudem von einer unabhängigen Aufsicht stichprobenartig überprüft werden, wie das auch in den anderen europäischen Ländern vorgesehen ist.
Der ehemalige FDP-Nationalrat und Staatsrat Claude Ruey kommentiert: «Die Initiative setzt ein rechtsstaatliches Prinzip um, das mir als Liberaler sehr am Herzen liegt: Jeder ist für sein Handeln verantwortlich und wer einen Schaden anrichtet, soll dafür geradestehen.»
Dem Initiativkomitee ist es wichtig, einen pragmatischen Vorschlag zu machen. Im neuen Initiativtext wurden deshalb einige Zugeständnisse an die Gegner:innen der ersten Konzernverantwortungsinitiative gemacht, um auf die bereits geführte Diskussion in der Schweiz Rücksicht zu nehmen. So ist die Haftung für Zulieferer im Vergleich zur EU-Richtlinie ausgeschlossen, die Beweislastverteilung ist im Vergleich zur ersten Initiative offener geregelt und KMU sind vom Geltungsbereich der Initiative ausgeschlossen.
Unterschriften sollen in 30 Tagen gesammelt werden
Hinter der Initiative steht ein breites Komitee, in dem bekannte Politiker:innen aller Lager, Unternehmer:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft Einsitz nehmen. Dazu kommen tausende Einzelpersonen, die bereits für die erste Initiative eine Fahne aufgehängt haben und nun mithelfen, dass die nötigen 100'000 Unterschriften in nur 30 Tagen zusammenkommen. In der ganzen Schweiz haben Freiwillige im Verlauf vom Januar über 1'000 Standaktionen organisiert, um diesen Sammelrekord zu schaffen und so ein starkes Zeichen zu setzen, damit Konzerne endlich für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung geradestehen müssen.
Weitere Informationen:
Oliver Heimgartner, Co-Geschäftsleiter
078 800 93 45, oliver.heimgartner@konzernverantwortung.ch
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DIE SÜD-PERSPEKTIVE
Warum die Welt auf die jemenitischen Stimmen hören sollte
29.11.2024, Weitere Themen
Die jemenitische Bevölkerung weiss, was sie braucht. Jetzt müssen die politischen Eliten zuhören. Gastkommentar von Hisham al-Omeisy

Nach einem Gefangenenaustausch-Deal zwischen Jemens Regierung und den Huthi warten Angehörige am Flughafen in Sanaa, Jemen, auf die Freigelassenen. © picture alliance / AA / Mohammed Hamoud
Im März jährte sich der immer noch andauernde Konflikt im Jemen zum neunten Mal. Ein Konflikt, der eine stolze Nation – meine Nation – in die Knie gezwungen hat. Wir gehen mit einer zerstörten Infrastruktur, einem Mangel an grundlegenden Dienstleistungen und sehr wenig Hoffnung in dieses zehnte Kriegsjahr. Trotzdem hören wir selten direkt Stimmen darüber aus der Bevölkerung, wie sich der Krieg auf ihr Leben und die Gemeinschaften ausgewirkt hat und was sie sich für die Zukunft wünscht. Das muss sich ändern.
Der polarisierende Charakter des jemenitischen Konflikts ist durch regionale Einmischung, Korruption und Stammesdenken geprägt. Hinzu kommen kurzsichtige Eigeninteressen und Vetternwirtschaft, was die Gesellschaft gespalten und ihr soziales Gefüge komplett zerrieben hat.
Als der Krieg begann, traten opportunistische Gruppierungen aus unterschiedlichen Lagern auf den Plan, um das Vakuum zu füllen, das durch den Zusammenbruch der Regierung und des Staates entstanden war. Während diese Gruppen an Boden gewannen und ihren Einfluss im ganzen Land vergrösserten, verstummte die grosse Mehrheit der Jemenitinnen und Jemeniten angesichts der bewaffneten, politischen, sozialen und kulturellen Gewalt. Die Durchschnittsbürgerinnen und -bürger haben seither kaum noch die Möglichkeit, ihre Meinungen oder Bedürfnisse zu äussern, obwohl die Lage besorgniserregend ist: Die UNO schätzt, dass mehr als 80% der Bevölkerung in irgendeiner Form auf Hilfe angewiesen sind. Fast 400’000 Menschen sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Mehr als 4 Millionen Menschen sind vertrieben worden. Weitere Millionen sind traumatisiert. Doch aus erster Hand hört man kaum etwas darüber.
Eine vom European Institute of Peace durchgeführte Befragung von fast 16’000 Menschen im Jemen ergab, dass mehr als drei Viertel der Menschen ihre Bedürfnisse in der ganzen thematischen Bandbreite der Diskussionen, die ihr Leben betreffen, nicht wiederfinden oder angemessen vertreten sehen. Das betrifft sowohl Friedensgespräche wie auch lokale Prioritäten wie die Bereitstellung von Grundversorgung, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Existenzgrundlagen, die Lösung von Umweltproblemen und Verhandlungen über den Austausch von Gefangenen.
Die Befragung zeigte auch, dass das Leiden der Menschen und ihre Vorstellungen von Veränderungen weitaus vielfältiger sind als alles, was in den Gesprächen über die Beendigung des Krieges diskutiert wird. Die Kluft zwischen der politischen Elite und den Durchschnittsbürgerinnen und -bürgern könnte nicht grösser sein.
Protestierende an einer Demo in Sanaa, Jemen, werfen dem Ausland eine Mitschuld am Niedergang der jemenitischen Wirtschaft vor. © Reuters / Mohamed al-Sayagh
Beteiligung der Gemeinschaft am Frieden
Deshalb haben die Menschen im Jemen zunehmend das Gefühl, dass ihre Nöte und Sorgen nicht Teil dessen sind, was die internationale Gemeinschaft für ihr Land fordert, und dass die offiziellen Friedensbestrebungen von den Realitäten vor Ort meilenweit entfernt sind.
Der Konflikt durchdringt sämtliche Bereiche des Lebens. Themen wie Sicherheit und Wirtschaft sind eng miteinander verknüpft. Doch die Akteure in den Friedensverhandlungen scheinen sich der lokalen Dynamik und der historischen und kulturellen Gegebenheiten, an welchen selbst die schlüssigsten und aufrichtigsten Bemühungen scheitern könnten, nicht bewusst zu sein.
Ein Lichtblick sind journalistische Initiativen wie das Yemen Listening Project, das Jemenitinnen und Jemeniten zu den Auswirkungen des Kriegs auf ihr Leben befragt hat und so einen Resonanzraum für jemenitische Stimmen bietet.
Pathways for Reconciliation, eine unabhängige nationale Plattform, die vom European Institute of Peace unterstützt wird und im vergangenen Jahr ins Leben gerufen wurde, bietet der jemenitischen Bevölkerung die Möglichkeit, ihre Meinung zu artikulieren, ihren Einfluss geltend zu machen und Wege zu finden, ihre Forderungen durchzusetzen. Sie soll der Bevölkerung als Sprachrohr dienen, sie verstärkt in die Diskussion um Versöhnung und Frieden einbinden und sie ermutigen, die für sie wichtigen Probleme auf lokaler und nationaler Ebene zu diskutieren und sich für deren Lösung einzusetzen.
Klar ist: Die Menschen wollen reden. Es gibt reichlich Bedarf, Raum und Zeit für Konfliktlösungsansätze mit einer tatsächlichen Beteiligung der jemenitischen Bevölkerung zu schaffen, damit ein nachhaltiger und gerechter Frieden gesichert werden kann. Es sind durchaus Wege vorstellbar, die sich nicht darauf beschränken, einem oder zwei Vertreter:innen der Zivilgesellschaft einen Platz am runden Tisch zuzugestehen, damit die Ansichten der Jemenitinnen und Jemeniten gehört und angemessen vertreten werden.
Vergessen wir nicht das Potenzial lokaler Gemeinschaften. Es lohnt sich, dort in Dialoge zu investieren, die einen Weg zur Versöhnung aufzeigen können. Damit könnte ein wichtiger Schritt in Richtung Stärkung des beschädigten sozialen Gefüges im Jemen gemacht werden.
Doch wo soll man anfangen? Gehen wir auf die Jemenitinnen und Jemeniten zu und schenken ihnen Gehör, um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, was sie in den letzten neun Jahren durchgemacht haben. Helfen wir ihnen, ihre Prioritäten zu formulieren, und finden wir heraus, was sie sich für ein Friedensszenario wünschen.
Es muss dringend eine Möglichkeit geschaffen werden, die ungehörten Stimmen der jemenitischen Bevölkerung an die Entscheidungsträger in ihrem Land und an die internationale Gemeinschaft heranzutragen. Wir müssen für die Mitwirkung und Beteiligung der Bevölkerung im Sinne einer echten Partizipation sorgen; nur so kann der Friedensprozess neu definiert und umfassend, ganzheitlich und realitätsbezogen ausgestaltet werden.
Indem wir die Wissenskluft zwischen den Menschen vor Ort und der Elite überbrücken, können wir dazu beitragen, dass ein künftiges Friedensabkommen tatsächlich erfolgreich sein wird. Und das ist es letztendlich, was die Menschen im Jemen wirklich wollen.

Hisham al-Omeisy ist ein jemenitischer Konfliktanalytiker und Senior Advisor beim European Institute of Peace.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von «The New Humanitarian» veröffentlicht. Dieses Informationsportal stellt unabhängigen Qualitätsjournalismus in den Dienst der Millionen von Menschen, die weltweit von humanitären Krisen betroffen sind. Weitere Informationen finden Sie unter www.thenewhumanitarian.org. «The New Humanitarian» ist nicht für die Korrektheit der Übersetzung verantwortlich.
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
DIE SÜD-PERSPEKTIVE
Vom Bildschirm auf die Strasse
03.10.2024, Weitere Themen
Kann Online-Aktivismus in Offline-Konfliktmanagement umgemünzt werden? Digitale Technologien können nur dann zur Friedensförderung beitragen, wenn sie für die Konfliktparteien zugänglich, erschwinglich und nutzbar gemacht werden, sagt Medinat Malefakis.

Digitale Mobilisierung, analoge Menschenmassen: Diesen Juni kippten Proteste in Nairobi und ganz Kenia geplante Steuererhöhungen. © Keystone/AFP/Patrick Meinhardt
Seit einigen Jahren prägen digitale Technologien die Art und Weise, wie Menschen interagieren, Gesellschaften sich wandeln und Konflikte entstehen. Sie erlangten zentrale Bedeutung in der Organisation sozialer Bewegungen, geben den Ausschlag, in welche Richtung sich wie auch immer geartete Konflikte entwickeln, und werden von aufständischen Gruppen von ISIS bis Al-Qaida für «Terropreneuring»-Kampagnen genutzt. Für demokratische und politische Bewegungen sowie für zivilgesellschaftlichen Aktivismus sind sie unabdingbar geworden. Das zeigte sich im arabischen Frühling im Nahen Osten und in Nordafrika, in der Black-Lives-Matter-Bewegung gegen Polizeigewalt in den USA oder auch in der Sensibilisierung für die Menschenrechtsverletzungen durch Regierungstruppen in der anhaltenden anglophonen Krise in Kamerun. Weitere Beispiele sind die weltweiten Solidaritätsbekundungen für die Ukraine oder die Aktivitäten in Bezug auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas: Stets spielten die sozialen Medien eine entscheidende Rolle.
Ebenso wie deren Aufkommen und Verbreitung hat sich auch der Einsatzbereich digitaler Technologien gewandelt. Ihr Demokratisierungspotenzial, die Zugänglichkeit und einfache Funktion als Schnittstellentool – es reicht ein Mobiltelefon und ein X-, Facebook- oder Instagram-Konto – sowie die physische Anonymität – macht die sozialen Medien für vielseitige Nutzungsarten und -zwecke attraktiv. So forderte in Nigeria eine Protestbewegung mehr Rechenschaftspflicht in Regierungsbereichen, was im Januar 2012 dazu führte, dass auf die Streichung geplanter Treibstoffsubventionen verzichtet wurde. 2024 zwangen kenianische Demonstrierende, angetrieben von der Generation Z, mit einer Mobilisierungswelle in den sozialen Medien die Regierung, eine Steuererhöhung rückgängig zu machen.
Vielerorts sind digitale Technologien und Social-Media-Plattformen auch zu Schauplätzen staatlicher Repression geworden, gegen die sich Bürgerinnen und Bürger zur Wehr setzen und ihre verfassungsmässig garantierten Grundrechte einfordern. In Ländern wie Nigeria wird online und offline gegen Proteste vorgegangen (#EndSARS-Proteste im Jahr 2020 und #EndBadGovernance-Proteste im Jahr 2024); repressive Regierungen schalten soziale Mediennetzwerke ab, um ihre Bürgerinnen und Bürger weiter einzuschränken. So geschehen zum Beispiel in Myanmar, Sudan und dem Iran, wo das Internet allein im Jahr 2021 mindestens fünf Mal abgeschaltet wurde.
Konflikte frühzeitig erkennen
Die digitalen Technologien liefern Informationen über bisher unbekannte Aspekte der Konfliktdynamik. Während der #ENDSARS-Proteste in Nigeria konnten dank der sozialen Medien polizeiliche Übergriffe dokumentiert werden. Nachdem die Ordnungskräfte mit Gewalt und Tränengas gegen Demonstrierende vorgegangen waren, lieferten Videos und Fotos auf den sozialen Medien wertvolle Beweise gegen die Versuche der Regierung, die Öffentlichkeit zu manipulieren und die Angriffe zu leugnen. Die Friedensbewegung bezieht aus solchen Aufzeichnungen die Rhetorik des Konfliktkontexts und kann die Konfliktdynamik besser analysieren. Dadurch können auf unterschiedliche Dynamiken angepasste friedensfördernde Ansätze ausgearbeitet werden. In Konfliktregionen wie Nigeria ist dies ein wesentlicher Faktor, um ethnische, religiöse und multigesellschaftliche Identitäten in die Friedensförderung zu einzubeziehen. Die von den digitalen Technologien bereitgestellten Informationen sind auch wichtig, um zu eruieren, wie sich Konflikte anbahnen und welchen Verlauf sie nehmen. Auf dieser Grundlage kann der genaue Zeitpunkt analysiert werden, in dem sich ein Konflikt von einem Austausch im digitalen Raum zu einem gewalttätigen Ausbruch offline wandelt. Die Analyse von Echokammer-Trends und Hashtags ermöglicht es, Kipp-Punkte in Online-Diskussionen, Hassreden, Spannungen zwischen Gruppen und Gemeinschaften, erhöhte emotionale Anfälligkeit oder gar Fake News zu erkennen und deeskalierend einzugreifen, bevor ein Offline-Chaos ausbricht.
Konfliktparteien zusammenführen
Im Fall der Proteste in Kenia wurde die Plattform X genutzt, um die Konfliktparteien (Demonstrierende und Präsident Ruto) zusammenzubringen. Es entstand eine direkte Interaktion, die in einigen Fragen zu einer schnellen Lösung führte. Das Zusammenbringen der Beteiligten über soziale Medien und digitale Technologien gestaltet diese Phase der Friedenskonsolidierung transparent, demokratisch und offen. So entsteht ein Austausch «auf Augenhöhe»: Die verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure erhalten die Möglichkeit, ihre Narrative und Perspektiven auszutauschen, was Vertrauen und Zuversicht schafft.
In der Konfliktanalyse sind digitale Technologien neben dem Zusammenbringen von Akteur:innen auch für das Abbilden von Konversationen unerlässlich. Warum ist dies relevant? Im Konfliktkontext kommt es mitunter vor, dass Konversationen vom eigentlichen Konfliktthema abschweifen. In den sozialen Medien können «Peacebuilder» verfolgen, welcher Aspekt eines Konfliktkontexts bei den laufenden Konversationen im Vordergrund steht. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung von Twitter anlässlich der Massenentführung von Schülerinnen in Chibok (Nigeria). Damals wurde die Konversation über den Boko-Haram-Konflikt auf die «Bring-Back-Our-Girls»-Kampagne umgepolt. Ein weiteres Beispiel ist die Umlenkung der Diskussion über die Boko Haram auf Menschenrechtsverletzungen und aussergerichtliche Hinrichtungen durch das nigerianische Militär. Videoaufnahmen von Tötungen, Schlägen und Verstümmelungen, die von Sicherheitskräften an mutmasslichen Boko-Haram-Extremisten begangen wurden, verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken. Dies war von grosser Bedeutung, weil die aussergerichtlichen Tötungen in Gemeinschaften stattfanden, die direkt von Boko Haram betroffen sind und eine wichtige Interessengruppe in den nachfolgenden Vermittlungs- und Friedenskonsolidierungsprogrammen darstellten.
Wege hin zur Mediation
Um in den verschiedenen Phasen der Konfliktbearbeitung inklusive Gespräche zu ermöglichen, können Social-Media-Apps sehr hilfreich sein, zumal in den Gesprächsschleifen die Bereitschaft und Aufnahmefähigkeit der Konfliktparteien für Mediations- und Friedensprozesse erkennbar wird. Mediation und Friedenskonsolidierung mit Hilfe digitaler Technologien sind besonders in Konfliktregionen wichtig, in denen die Regierung in den Augen der Bevölkerung im digitalen Raum Hexenjagd betreibt oder in denen Internetabschaltungen weit verbreitet sind, wie in Myanmar, Äthiopien, Iran und Russland.
Friedenskonsolidierung mit Hilfe digitaler Technologien funktioniert aber nur dann, wenn diese Werkzeuge für die Konfliktakteure und Interessengruppen zugänglich, erschwinglich und nutzbar sind. Ausserdem müssen sich Mobilfunkbetreiber und Social-Media-Plattformen an den Grundsatz der Nichteinmischung halten und Microblogging-Anwendungen sensibel für die historischen Vorläufer von Konflikten sein.

Dr. Medinat Abdulazeez Malefakis ist Senior Lecturer am Zentrum für Entwicklung und Zusammenarbeit (NADEL) der ETH Zürich und Nigeria Country Lead für den Global Survivors Fund.
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Medienmitteilung
Mit vereinten Kräften Richtung nachhaltige Schweiz
25.09.2024, Agenda 2030
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Jugend, Sport, Kultur und Zivilgesellschaft rufen auf dem Bundesplatz dazu auf, gemeinsam die Umsetzung der Agenda 2030 zu beschleunigen. Die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) wurde heute vor neun Jahren von der UNO verabschiedet. Auch die Schweiz hat sie angenommen. Doch bei der Umsetzung sind wir nicht auf Kurs.

© Martin Bichsel
Medienmitteilung der Plattform Agenda 2030
Aufbauend auf dem bereits Erreichten versprechen die engagierten Persönlichkeiten, ihre Entscheidungen und ihr Handeln auch in Zukunft auf Nachhaltigkeit auszurichten. Sie stehen stellvertretend für die vielen tausend Menschen, die sich in Unternehmen, wissenschaftlichen und akademischen Einrichtungen und in der Zivilgesellschaft bereits heute für die Kreislaufwirtschaft, den Schutz der Biodiversität und den Abbau von Ungleichheiten im Besonderen einsetzen.
Am SDG Flag Day erinnern eine Jodel-Interpretation und ein Fahnenschwinger mit einer exklusiven SDG-Fahne in der Nähe des Bundeshauses daran, dass die Agenda 2030 in unserer Verfassung und in unseren lebendigen Traditionen verankert ist.
Unsere Kampagne
Der am 25. September veröffentlichte Aufruf verweist auf Erfolge und Rückschläge: In einigen Bereichen hat die Schweiz in den letzten Jahren Fortschritte erzielt, z. B. bei der Erhöhung des Anteils der biologischen Landwirtschaft oder beim Ausbau der erneuerbaren Energien. In anderen Bereichen stagniert die Entwicklung jedoch oder geht in die falsche Richtung: Die Armut wie die Ungleichheiten in der Schweiz nehmen zu, der Ausbau einer barrierefreien Mobilität verzögert sich, und die Artenvielfalt geht zurück. Die Schweiz ist Teil der Welt: Durch unsere Produktions- und Konsummuster exportieren wir einen Teil der Belastung für Umwelt, Klima und Menschenrechte: rund 2/3 unseres Fussabdrucks fallen im Ausland an.
Olmar Albers, Geschäftsleiter von öbu, dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften, stellt fest: « Unternehmen haben entscheidende Hebel in der Hand, um die nachhaltige Entwicklung aktiv zu gestalten. Diese Verantwortung wahrzunehmen, entscheidet über die Sicherung der planetaren und der eigenen Zukunftsfähigkeit. » Adina Rom, Geschäftsleiterin ETH for Development und Ökonomin ETH verspricht: « Ich möchte Brücken bauen zwischen Forschung und Praxis, zwischen Ländern, Organisationen und Menschen, damit die technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte möglichst vielen Menschen zu Gute kommen. » Eva Schmassmann, Geschäftsführerin der Plattform Agenda 2030 ergänzt: «Nachhaltige Entwicklung kann einzelne Akteure überfordern. Deshalb vernetzt die Plattform und fördert den Austausch, denn: Gemeinsam sind wir stärker».
Für weitere Informationen:
Eva Schmassmann, Geschäftsführerin Plattform Agenda 2030: 079 105 83 97
www.gemeinsam-fuer-die-sdgs.ch
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Interview
Zur Halbzeit enttäuschend
31.07.2024, Agenda 2030
In der UNO haben sich die Staaten der Welt 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung gesetzt, die sie bis 2030 erreichen sollen. Der Zwischenstand dieser Agenda 2030 wurde soeben in New York überprüft. Johann Aeschlimann sprach mit zwei Mitgliedern der Schweizer Delegation, Delegationsleiter Markus Reubi und Andreas Lustenberger von Caritas als Vertreter der Zivilgesellschaft.

Markus Reubi, Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030 (1. von links) und Andreas Lustenberger, Leiter Bereich Grundlagen und Politik Caritas Schweiz (2. von rechts) mit Mitgliedern der offiziellen Schweizer Delegation am HLPF in New York. © Caritas
Johann Aeschlimann schreibt regelmässig für die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA ASPE). Er war im diplomatischen Dienst der Schweiz und berichtete als Journalist aus Bern, Washington D.C., Brüssel und Bonn. Dieses Interview erschien zuerst bei der SGA ASPE.
Herr Reubi und Herr Lustenberger, warum ist die Agenda 2030 wichtig?
Markus Reubi: Sie ist der einzige globale Handlungsrahmen für nachhaltige Entwicklung. Alle 193 Staaten haben innerhalb der UNO zugestimmt. Es geht um soziale Standards, Gerechtigkeit, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, in 17 Ziele und 169 Unterziele gefasst. Klar, ambitioniert und umfassend.
Wie wird die Entwicklung gemessen und überprüft?
Reubi: Für jedes Ziel werden Indikatoren formuliert, die laufend verfeinert werden. Die Schweiz leistet da übrigens mit dem Bundesamt für Statistik einen gewichtigen Beitrag. Jedes Jahr treten die 193 UNO-Staaten in New York zum High Level Political Forum (HLPF) zusammen und besprechen den Zwischenstand, in vertiefter Form für eine Handvoll Ziele. In diesem Jahr ging es um Ziel 1 (Armut), Ziel 2 (Hunger), Ziel 13 (Klima) und Ziel 16 (friedliche und inklusive Gesellschaften mit starken Institutionen). Zudem können einzelne Länder freiwillig Bericht über ihre Umsetzung erstatten. Mit Ausnahme von zwei UNO-Mitgliedstaaten haben davon alle mindestens einmal Gebrauch gemacht, die Schweiz letztmals im Jahr 2022.
Wenn wir so weitermachen, erreichen wir gerade 17 Prozent der Ziele. Bei der Armutsbekämpfung gab es einen Rückschritt, ähnlich beim Hunger.
Andreas Lustenberger
Und was ist der Zwischenstand?
Andreas Lustenberger: Er ist ernüchternd. Wenn wir so weitermachen, erreichen wir gerade 17 Prozent der Ziele. Bei der Armutsbekämpfung gab es einen Rückschritt, jetzt stagnieren wir. Ähnlich beim Hunger.
Eine Folge von COVID?
Lustenberger: Nicht nur. Der Krieg gegen die Ukraine hat die weltweite Getreideversorgung beeinträchtigt und eine Teuerung der Lebensmittel verursacht, die gerade im Globalen Süden schwer eingeschlagen hat. Ebenfalls führt die andauernde Klimaerwärmung zu Ernteausfällen und wir erleben zurzeit leider eine Zunahme von Bürgerkriegen und Konflikten. Die Welt befindet sich in einer Mehrfachkrise.
Am Anfang des Kriegs war viel von den Getreidelieferungen über das Schwarze Meer die Rede, jetzt weniger. Ist das Problem verschwunden?
Lustenberger: In den betroffenen Ländern ist die Lage sicher nicht besser geworden. Die Inflation ist immer noch da, aber es wird nicht darüber gesprochen.
Reubi: Die Verbesserung der Ernährungssicherheit ist weiterhin ein Kernanliegen der Entwicklungsländer. Viele geben auch den westlichen Sanktionsmassnahmen die Schuld. Die Politisierung der Agenda 2030 hat in diesem Kontext leider zugenommen.
Wie hat sich das in New York niedergeschlagen?
Lustenberger: In der Abschlusserklärung haben die Entwicklungsländer, die G77, auf Antrag Nicaraguas durchgedrückt, dass Sanktionen als entwicklungshemmend verurteilt werden. Ich war erschrocken, dass die dafür eine Mehrheit fanden. Immerhin werden diese Sanktionen nicht grundlos ergriffen. Es geht um die Antwort auf Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn Länder wie Südafrika oder Chile das ausser Acht lassen, frage ich mich, wozu sie dann sonst noch bereit sind.
Wie hat die Schweiz gestimmt?
Reubi: Wir stimmten dagegen, vor allem auch aus prozeduralen Gründen. Der Antrag für einen Anhang in der lange vorher verhandelten Abschlusserklärung kam sehr spät. Er hat den Konsens gefährdet – und dieser ist wichtig, um die Vision einer nachhaltigen Entwicklung gemeinsam zu realisieren.
Lustenberger: Die EU hat sich enthalten, vielleicht, weil sie sich intern nicht einig war.
China propagiert “development first”. Das heisst wirtschaftliche Entwicklung zuerst, Menschenrechte und der Rest danach. War das in New York spürbar?
Reubi: China war sehr präsent und hat erstmals im Namen der «group of friends» seiner eigenen global development initiative eine Erklärung abgegeben. Das Narrativ ist verfänglich. Es ist schwer, dagegen zu sein. Was aber wichtig ist zu wissen: Menschenrechte, Gleichstellung, gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und andere zentrale Bestandteile der Agenda 2030 werden nicht erwähnt. Sollten Länder wie die Schweiz sich für diese Werte nicht mehr engagieren und die Umsetzung der Agenda 2030 in der Gesamtheit vernachlässigen, wird dieses Narrativ an Kraft gewinnen.
Lustenberger: China finanziert heute 20 Prozent des gesamten UNO-Systems, durch welches ein grosser Teil der öffentlichen Entwicklungsgelder fliesst. Das ist sehr viel und wird spürbar, wenn es darum geht, wer mitbestimmt, welche Werte mit diesen Organisationen vorangetrieben werden.
Wir haben es eben nicht mehr mit einer reinen Entwicklungsagenda zu tun, sondern mit nachhaltiger Entwicklung für die ganze Welt. So gesehen, ist die Schweiz auch ein Entwicklungsland.
Markus Reubi
Die einzelnen Länder können über den Stand ihrer Umsetzung der Agenda 2030 Bericht erstatten. Tun sie das? Tun sie es umfassend?
Lustenberger: Die einzigen, die noch nie berichtet haben, sind die USA und Nordkorea. Alle anderen haben mindestens einen Bericht abgeliefert.
Reubi: Die Schweiz macht es alle vier Jahre, zuletzt 2022, als nächstes 2026. Wir müssen uns auch anstrengen, um die Ziele der Agenda 2030 zu erfüllen. Zum Beispiel auch im Bereich von Ziel 2, Hunger. Bei uns gibt es zwar keinen extremen Hunger, aber andere Ernährungsprobleme, die anzugehen sind. Verschwendung. Überernährung und Übergewichtigkeit, nachhaltige Produktion und nachhaltiger Konsum. Wir haben es eben nicht mehr wie bei den vorangegangenen «Milleniumszielen» mit einer reinen Entwicklungsagenda zu tun, sondern mit nachhaltiger Entwicklung für die ganze Welt. So gesehen, ist die Schweiz auch ein Entwicklungsland.
Lustenberger: Na ja.
Reubi: Ein Entwicklungsland im Sinne der nachhaltigen Entwicklung.
Lustenberger: Länder wie Mexiko, Ecuador, Costa Rica oder Kenia haben Daten geliefert. Sie zeigen in ihren Armutsberichten auch, was schlechter geworden ist. Zum Ziel 16, gute Regierungsführung, Frieden, Kampf gegen Korruption, Inklusion, beantworten autoritäre Regierungen nicht überall alles, auch wo es zum Beispiel um die Mitsprache der Zivilgesellschaft geht.
Wir propagieren einen Schuldenschnitt. Die Schulden der Länder des Südens sind entwicklungshemmend.
Andreas Lustenberger
Die Länder des Südens fordern vor allem mehr Geld für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Ist Geld das Einzige, was fehlt?
Lustenberger: Das Problem ist in der Tat, dass das Geld nicht reicht, um die Ziele überall zu erreichen. Aber die Umsetzung der Agenda 2030 ist eine Aufgabe für alle. Wenn Regierungen, oft auch autokratische Regierungen, ihre Eigeninteressen in den Vordergrund stellen, wird Geld allein nicht reichen.
Reubi: Man wird oft auf die Entwicklungszusammenarbeit angesprochen. Aber noch viel mehr stört gerade afrikanische Länder, dass ihre Projekte so teuer sind. Ein Solarprojekt in Afrika kostet ein Vielfaches eines vergleichbaren Projekts in Europa, weil die hohen Risikoprämien verhindern, dass der Privatsektor dort investiert. Die Schweiz engagiert sich für die Verbesserung der Rahmenbedingungen vor Ort.
Lustenberger: Wir propagieren einen Schuldenschnitt. Die Schulden der Länder des Südens sind entwicklungshemmend. Eine Entschuldung würde einem Land wie der Schweiz nicht das Genick brechen.
Der politische Wind weht aus einer anderen Richtung. Das Parlament in Bern kürzt das Budget für Entwicklungszusammenarbeit, um Geld für die Ukrainehilfe freizumachen.
Lustenberger: Wir sehen das in anderen ähnlichen Ländern auch. Wir sind gegen jegliche Kürzungen und fordern eine Erhöhung der Budgets für Entwicklungszusammenarbeit. Ein bedeutender Teil dieser Gelder ist für die multilaterale Hilfe der UNO-Agenturen. Wird dort zurückgefahren, werden Länder wie China die Lücke füllen, die andere Prioritäten verfolgen. Unsere Anliegen werden geschwächt, gerade etwa im Bereich von Ziel 16. Unseren Politikern ist zu wenig bewusst, welche langfristigen Auswirkungen das hat. Ich bedaure, dass es aktuell an starken Persönlichkeiten im Parlament fehlt, die sich für eine vorausschauende Wirtschaftsaussenpolitik der Schweiz einsetzen.
Zieht die Wirtschaft mit?
Reubi: Wir sind im Dialog. Ich denke, die Wirtschaft hat die SDGs entdeckt. Man spricht dort eher von «ESG» (Environment, Social, Governance) Zielen. Im vergangenen Jahr mussten die grössten Unternehmen zum ersten Mal Nachhaltigkeitsberichte erstellen. Wir stellen fest, dass dies auch Unternehmen tun, die gar nicht verpflichtet wären. Die machen das, weil junge Angestellte, Kunden, Lieferanten oder auch an der Finanzierung beteiligte Banken danach fragen. Und weil Nachhaltigkeit Teil der Strategie geworden ist.
Was ist Ihr Fazit nach den Beratungen in New York?
Lustenberger: Für mich ist es ernüchternd und motivierend zugleich. Ernüchternd, weil wir nicht auf dem Weg sind, die Ziele zu erreichen. Motivierend, weil ich sehe, dass es nicht reicht, nur bilateral oder national zu handeln. Der multilaterale Weg gehört auch dazu. Die Schweiz leistet hier gute Arbeit, aber es darf nicht weniger werden.
Reubi: Für mich sind die Länderberichte eine zunehmend positive Erfahrung. Und das Engagement vieler einzelner Städte, die hier präsent waren und ihre Anliegen eingebracht haben.
Markus Reubi ist Diplomat im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA und Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030.
Andreas Lustenberger ist Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas und leitet dort den Bereich Grundlagen und Politik.
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Hinter den Schlagzeilen
Das vermeintliche Paradies
28.06.2024, Weitere Themen
Türkisfarbenes, kristallklares Wasser, weisser Sand und Palmen, keine Sandflöhe, dafür Stachel-, Adlerrochen und Ammenhaie, die elegant durchs Wasser gleiten: Cayo Albuquerque ist wunderschön, aber auch ein Umschlagplatz für Menschen und Kokain.

Auf zwei winzigen Inseln vor Nicaraguas Küste tummeln sich neben Fischern auch Küstenwache, kolumbianische Soldaten und Menschen auf der Flucht in den Norden. © Karin Wenger
Die Reise von Panama in die Bahamas dauert mit dem Segelboot ungefähr zehn Tage. Für uns ist sie nach 18 Stunden bereits zu Ende. Mitten in der Nacht, bei rauer See, entdecken wir, dass Meerwasser ins Boot eindringt. Wir müssen notankern, um das Leck zu finden und zu beheben. Das nächste Land liegt fast so weit weg wie Panama. Es ist ein winziges Atoll mit zwei Inseln und heisst Cayo Albuquerque. Auf den ersten Blick ein Paradies. Das Atoll ist kolumbianisches Staatsgebiet, obwohl es viel näher an Nicaragua als an Kolumbien liegt. Es gibt hier zwei Inseln, die so klein sind, dass man sie in zehn Minuten umrundet hat. Auf der einen Insel wohnen kolumbianische Soldaten. Sie kommen vom Festland, sind jung und manche sehen zum ersten Mal das Meer. Ihre Aufgabe ist es zu verhindern, dass Nicaraguaner:innen die Inseln erobern und dass die Inseln nicht zum Umschlagplatz für Menschen und Kokain werden. Bloss: Die Soldaten haben zwar Internet, Strom und Funk, aber kein Boot. Sie sind sozusagen Gefangene auf ihrer eigenen Insel. Vor der zweiten Insel liegen die kleinen Boote der Fischer. Diese kommen von der nahe gelegenen und grösseren Insel San Andrés und bleiben so lange im Atoll, bis sie mit genügend Thunfisch, Barracudas, Makrelen und Lobster zurückfahren können. Auf ihrer Insel gibt es weder Strom noch Wasser, doch Boote mit denen manche nicht nur Fisch transportieren.
Als wir zwischen den zwei Inseln Anker werfen, sind wir erschöpft und erleichtert. Wir haben es geschafft, sind nicht untergangen. Bald finden wir das Leck zwischen Anker- und Segelkasten und Kabine und flicken es. Doch dann sehen wir ein nächstes Problem: Das Wellenlager ist lose. Das Boot muss aus dem Wasser, den Motor sollten wir nicht mehr gebrauchen. Wir müssen zurück nach Panama segeln – bloss, Wind gibt es keinen, drei Wochen lang nicht. So liegen wir hier vor Anker und merken bald, dass dieser unbekannte Fleck Erde für uns ein Paradies sein mag, für andere ist er eine Zwischen¬station auf einem Höllenritt.
Frauen mit Kindern, Alte und Junge. Sie hatten nicht mehr dabei als die Kleider, die sie trugen. Natürlich haben wir geteilt.
Brinell Archbold, Fischer
«Hier und hier und hier sassen sie und warteten. Frauen mit Kindern, Alte und Junge. Sie hatten nicht mehr dabei als die Kleider, die sie trugen. Sie bettelten um Wasser und Nahrung. Natürlich haben wir geteilt», erzählt Brinell Archbold, einer der Fischer. Er zeigt auf das Palmenwäldchen, in dem leere Dosen und anderer Müll zwischen Gestrüpp liegt. Sie, das sind Flüchtlinge auf dem Weg in den Norden, Ziel: USA. Die meisten kommen aus Venezuela. Fast acht Millionen Venezolaner:innen haben seit 2014 auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Land verlassen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der UNO ist es der grösste Exodus in Südamerikas jüngster Geschichte und eine der schlimmsten Flüchtlingskrisen der Welt (siehe dazu global #90). Um den gefährlichen Darién-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama zu umgehen und Panama und Costa Rica zu überspringen, fliegen sie vom kolumbianischen Festland auf die Insel San Andrés. Hier werden sie von Fischern abgeholt und zum Cayo Albuquerque gebracht und dann von Nicaraguaner:innen weiter Richtung Norden transportiert. «Manche Schlepper versprechen den Flüchtlingen, dass sie sie nach Mexiko oder in die Bahamas bringen, doch dann transportieren sie sie nach Albuquerque, um Sprit zu sparen und lassen sie hier gestrandet zurück», sagt Daniel Acosta von der Küstenwache, als diese eines Tages im Atoll erscheint, um unser Boot zu durchsuchen. Später besuchen die Männer auch die Fischerinsel, finden illegale Nicaraguaner:innen, aber lassen sie ziehen. Ein Boot voller Kokain scheint sie mehr zu interessieren als eines mit Flüchtlingen. Es verstreichen nur wenige Tage und sie finden, wenige Meilen von Albuquerque entfernt, was sie suchen: ein schnelles, kleines Boot mit 3,3 Tonnen Kokain.
Ich weiss, was es bedeutet, auf der Flucht zu
sein. Ich bin selbst vor FARC und
Paramilitärs geflohen.Lokaler Fischer auf Cayo Albuquerque
«Ich weiss, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Ich bin selbst vor der FARC und den Paramilitärs geflohen», erzählt ein alter Fischer, mit dem ich einen Tag lang auf seinem wackeligen Boot auf dem Meer fischen gehe. Der Fischer war vor dreissig Jahren selbst geflohen, als die FARC und die Paramilitärs Dutzende von Männern in seinem Dorf im Hochland umgebracht hatten. Seither arbeitet er als Fischer, obwohl er nicht schwimmen kann. Überfischung habe die Fischbestände und sein Einkommen reduziert. «Früher haben wir in einem Tag so viel gefangen wie heute in einer Woche.» Deshalb suchte er nach einem Zusatzeinkommen und wurde Schlepper. Für einen Flüchtlingstransport von San Andrés nach Albuquerque bekam er 400 US-Dollar von den Auftraggebern. Mehrere Male ging alles gut; dann, als er 14 Venezolaner an Bord seines kleinen Bootes hatte, fiel der Motor aus und sprang nicht mehr an. «Wir hatten kein Essen und wenig Wasser dabei. Ich sagte: ‘Die Kinder haben Priorität, sie bekommen ein halbes Glas Wasser am Tag, wir Erwachsenen eine Verschlusskappe voll, um den Mund zu netzen.’» Fünf Tage trieben sie so dahin. Am Ende rettete sie die Strömung, die sie direkt auf die Küste Nicaraguas zutrieb. Dort verschwanden die Flüchtlinge und suchten sich ihren eigenen Weg. Andere haben weniger Glück. Im Oktober 2023 verschwand ein Flüchtlingsboot auf dem Weg von San Andrés nach Nicaragua. Von den 35 Venezolaner:innen fehlt bis heute jede Spur. Nachdem der Fischer in Nicaragua an den Strand gespült worden war, wurde er nach San Andrés zurückgebracht. Seither transportiert er keine Flüchtlinge mehr.

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.
Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
© Karin Wenger
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Südperspektive
Der Auserwählte untergräbt die grösste Demokratie der Welt
27.06.2024, Weitere Themen
Premierminister Narendra Modi wurde Anfang Juni für eine dritte Amtszeit wiedergewählt. Während er sich im Ausland als «Stimme des Globalen Südens» profilierte, rief er in Indien tiefe soziale Spannungen hervor.

Auf einem Tempel in Ayodhya prangen links Narendra Modi und rechts die hinduistische Gottheit Lord Ram.
© Biplov Bhuyan / IMAGO / SOPA Images
Gastbeitrag von CHARWAKA *
Vertreter:innen der Zivilgesellschaft haben grundlegende Fragen darüber aufgeworfen, wie der Wahlkampf geführt wurde und insbesondere zum anhaltenden Schweigen über Modis verunglimpfende Äusserungen über Muslime und Musliminnen. Mehr als 120 Nichtregierungsorganisationen äusserten am 21. Mai öffentlich ihre grosse Besorgnis darüber, dass es bei der Stimmenauszählung zu Manipulationen kommen könnte. «Wir haben ein ernsthaftes und begrenztes Ziel: dass sich der Wille des Volkes in den Wahlen widerspiegelt, wie auch immer diese ausfallen. Sollte dies nicht der Fall sein, muss die Zivilgesellschaft dagegen vorgehen, um die Bürgerrechte des Volkes durchzusetzen», sagte Prabhakar Parakala im Namen der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Durchgesetzt hat sich am Schluss aber wieder Modi, der die Wahlen allerdings weniger deutlich gewonnen hat als erwartet.
Unflätige Rhetorik
Nach der ersten Wahlphase am 19. April, die eine niedrige Wahlbeteiligung verzeichnete und als kleiner Rückschlag für die Wahlchancen der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) angesehen worden war, startete Modi eine der hasserfülltesten und Angst schürendsten Kampagnen gegen Muslime im unabhängigen Indien. Mit seinen Brandreden wollte Modi die Hindus, die 80 Prozent der 1,4 Milliarden Einwohner:innen Indiens ausmachen, hinter sich scharen. Er bezeichnete die 200 Millionen Muslime in Indien als «Eindringlinge». Er verglich das Manifest seines Erzrivalen und der wichtigsten Oppositionspartei, des Indischen Nationalkongresses, mit der historischen pro-pakistanischen Muslimliga.
Der Premierminister ist ein Anhänger der politischen Hindutva-Ideologie, die die kulturelle Rechtfertigung des Hindu-Nationalismus und den Glauben an die Errichtung einer hinduistischen Hegemonie in Indien umfasst. Unter normalen Umständen hätten Modis wiederholte Angriffe gegen Muslim:innen eine strenge Bestrafung nach sich gezogen, bis hin zum Ausschluss von den Wahlen. Doch die wichtigste Regulierungsbehörde des Landes, die Wahlkommission, schwieg.
Ihre ethischen Richtlinien besagen unmissverständlich: «Keine Partei und kein Kandidat darf sich an Aktivitäten beteiligen, die bestehende Differenzen verschärfen, gegenseitigen Hass erzeugen oder Spannungen zwischen verschiedenen Kasten und Gemeinschaften, religiöser oder sprachlicher Art, hervorrufen könnten.» Dennoch ignorierte die Wahlkommission zahlreiche Beschwerden gegen Modis spaltende Kampagne.
Angriffe auf die Zivilgesellschaft
Eine lebendige Zivilgesellschaft mit unabhängigen und unparteiischen Institutionen wie Medien, Justiz und unabhängigen Aufsichtsbehörden ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz einer Demokratie. Jedes Regime, das es sich zur Aufgabe macht, diese Institutionen zu untergraben, kann die Demokratie nur in eine autoritäre Autokratie verwandeln.
Die Entwicklungen in Indien in den letzten zehn Jahren der Modi-Regierung (2014-24) scheinen darauf hinzudeuten, dass das Land in allen wichtigen Bereichen der Regierungsführung Rückschritte gemacht hat. In seinem Demokratiebericht 2024 stufte das in Göteborg ansässige V-Dem-Institut, das die demokratischen Freiheiten in verschiedenen Ländern überwacht, Indien als «eine der schlimmsten Autokratien» ein.
Trotz einzelner wichtiger Urteile des Obersten Gerichtshofs scheint die unabhängige Funktionsweise der Justiz untergraben zu sein, so mehrere Rechtsexpert:innen. Noch nie in der jüngeren Geschichte Indiens wurden die Medien, insbesondere die unabhängigen Medien, die das Internet nutzen, so stark angegriffen. «Angesichts der Gewalt gegen Journalist:innen, der hohen Medienkonzentration und ihrer politischen Ausrichtung befindet sich die Pressefreiheit in der grössten Demokratie der Welt in einer Krise», heisst es in der neuesten Rangliste, die Reporter ohne Grenzen (RSF) im Mai veröffentlicht hat.
Indien rangiert nun auf Platz 159 von 180 Ländern, die von RSF untersucht wurden. Im Vorfeld der Wahlen gab es gemäss der Organisation Free Speech Collective von Januar bis April in Indien mindestens 134 Verstösse gegen die Meinungsfreiheit. Unter den Betroffenen waren Journalist:innen, Akademiker:innen, YouTuber und Studierende.
Auch Menschenrechts- und Umweltaktivist:innen waren in den letzten zehn Jahren ständigen Schikanen ausgesetzt, die auch zu mehrjährigen Haftstrafen führten. Bei einem der schlimmsten Übergriffe auf Menschenrechtsaktivisten hat die Modi-Regierung 16 Personen, darunter Medienschaffende, Dichter, Anwält:innen und einen Jesuitenpater, aufgrund der drakonischen Gesetze des Landes festgenommen.
Einkommensungleichheit auf dem höchsten Stand
Indiens wirtschaftliche Leistung ist ebenfalls kein Grund zum Jubeln, auch wenn das Land laut Internationalem Währungsfonds und Weltbank als die am schnellsten wachsende Wirtschaft gilt. In einer aktuellen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die steigende Arbeitslosigkeit in Indien wurde festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen in städtischen Gebieten markant höher war als in ländlichen Regionen und die jüngeren Jugendlichen (15-19 Jahre) öfters traf als die älteren Jugendlichen (20-29 Jahre). Die Arbeitslosenquote der Frauen war 2019 wesentlich höher als die der Männer, sank aber bis 2022 auf das gleiche Niveau.
Noch schlimmer ist, dass die Einkommensungleichheit in Indien während der Ära Modi auf den höchsten Stand unter den Ländern der Welt angestiegen ist. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht von Ökonomen, darunter Thomas Piketty, heisst es: «Zwischen 2014/15 und 2022/23 ist der Anstieg der Ungleichheit am oberen Ende der Skala besonders ausgeprägt, was die Vermögenskonzentration betrifft.» Somit ist klar: Die Bestätigung der Regierung von Narendra Modi für eine dritte Amtszeit von fünf Jahren wird noch weitere Rückschläge mit sich bringen und Indien in einen Abgrund sozialer, wirtschaftlicher und politischer Not stürzen.
* CHARWAKA: Der Autor dieses Artikels – ein Journalist aus Südasien, der aus der Schweiz berichtet – verwendet aus Sicherheitsgründen ein Pseudonym.
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Die mystische Welt von San Blas
22.03.2024, Weitere Themen
An Panamas Ostküste liegt ein Archipel, bestehend aus mehr als 350 Inseln. Es ist das autonome Gebiet der Gunas, einer indigenen Gemeinschaft, die zwischen Fluch und Segen der Moderne hin- und hergerissen ist. Von Karin Wenger

San Blas, ein Archipel an Panamas Ostküste, wird von den Gunas, ca. 50 000 Personen, bewohnt und als autonomes Gebiet Guna Yala verwaltet. © Karin Wenger
Wie eine mystische Märchenwelt wirkt das Inselparadies San Blas, als wir langsam an den winzigen Inselchen vorbeisegeln. Hunderte von kleinen Sandhaufen liegen hier verstreut im glasklaren, türkisfarbenen Wasser. Auf manchen stehen ein paar Kokospalmen, ein oder zwei Hütten mit Palmblattdächern, auf anderen leben nur Pelikane oder Sandflöhe. San Blas wird von den Gunas, ca. 50 000 Personen, bewohnt und als autonomes Gebiet Guna Yala verwaltet.
Vor der Insel Salardup werfen wir Anker. Es geht nicht lange und zwei Gunas, die Fische und Langusten zum Verkauf anbieten, paddeln vorbei. Wenig später tuckert ein weiteres Boot heran. Eine Frau hält eine Küchenschürze und einen Weinflaschenhalter aus bunten, übereinander gestickten Stoffen hoch, traditionelle Molas, Stickereien, die in alter Tradition die bösen Geister abhalten sollen. Die Frau ist im ganzen Archipel als Mola Lisa bekannt. Als sie vor 62 Jahren zur Welt kam, war sie kein Mädchen, sondern ein Junge. «Als ich sechs Jahre alt war, merkte meine Mutter, dass ich anders bin, einzigartig. Sie lehrte mich, Molas zu fertigen, erklärte mir die mystische Bedeutung der verschiedenen Stickereien und kleidete mich in Mädchenkleider. Mädchen und Frauen sind bei uns die Hüterinnen von Tradition und Wissen, und wenn ein Junge ein Mädchen sein will, wird das willkommen geheissen.»
Mola Lisa ist eine «Omeggid», was in der Sprache der Gunas «wie eine Frau» bedeutet. Mola Lisa ist zwar nicht verheiratet, aber sie hat die Erziehung ihrer Nichte und ihres Neffen übernommen, nachdem deren Vater die Familie verlassen hat. Sie verrichtet die gleichen Arbeiten wie andere Frauen und hat auf ihrer Insel die Stellung einer Frau. Das bringt in einer Gemeinschaft wie jener der Gunas viel Ansehen. Bei den Gunas haben bis heute die Frauen das Sagen, auch wenn die meisten offiziellen Posten von Männern besetzt werden. Doch es sind die Frauen, die das Geld und den Besitz verwalten und wichtige Entscheide in der Familie fällen. Nach der Hochzeit ziehen die Ehemänner zu den Familien ihrer Bräute. Die wichtigsten Feiern, wie beispielsweise der Übertritt in die Pubertät, werden für Frauen abgehalten. «Noch heute pflegen wir unsere Traditionen. Sie sind es, die uns Zusammenhalt geben und schützen», sagt Mola Lisa.
Smartphones, Segelboote und Strassen
Schützen vor was? Vor den Veränderungen. Tourist:innen und moderne Kommunikationsmittel haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Einzug auf dem Archipel gehalten. «Als ich vor 16 Jahren mit meinem Segelboot hier angekommen bin, musste ich Ersatzteile per Schiff oder mit einem winzigen Propellerflugzeug einfliegen lassen, weil es noch keine Strasse durch den Dschungel gab. Telefonverbindungen existierten nicht, Internet auch nicht», erinnert sich die 82-jährige Amerikanerin Susan Richter, die den Archipel zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. Jetzt gibt es eine geteerte Strasse durch den Dschungel, die direkt von San Blas nach Panama Stadt führt. Seit die Regierung einen Mobilfunkmasten auf einer Insel errichtet habe, seien auch die Gunas über ihre Smartphones, die ebenfalls die Inseln erobert hätten, mit der Welt verbunden. Susan war eine der ersten Segler:innen, die sich mit ihrem Schiff hier niedergelassen hat, doch längst wurde das Archipel von Charter-Anbietern und anderen Seglern als Geheimtipp entdeckt. Mit den ausländischen Gästen kamen die Dollars.

Traditionalist:innen machen den Tourismus für das wachsende Abfallproblem verantwortlich.
© Karin Wenger

Zwischen Tradition und Moderne: Seit die Regierung einen Mobilfunkmasten errichtet habe, seien auch die Gunas mit der Welt verbunden, sagt Mola Lisa. © Karin Wenger
«Früher waren Kokosnüsse unsere Währung, heute dreht sich alles ums Geld. Jeder von uns will es haben», sagt der 73-jährige Guna Victor Morris. Er lebt mit seiner Frau und vier weiteren Familien auf einer Insel neben einem besonders beliebten Ankerplatz. Hier schwimmen Stachelrochen und Ammenhaie an den Booten vorbei, doch Fische sieht man kaum noch. Die Langusten, die die Gunas aus ihren Kanus feilbieten, sind meist noch klein und jung. Selbst in der Schonzeit von März bis Mai würden sie gejagt und zum Verkauf angeboten, sagt die Seglerin Richter. Auch Mola Lisa spricht von Überfischung: «Als ich Kind war, fischten wir mit Leinen aus Holzkanus. Heute sind die meisten unserer Boote motorisiert und wir haben Schleppnetze. Früher fischten wir dreissig, vierzig Fische am Tag und verteilten sie unter allen Dorfbewohner:innen. Heute gibt es viel weniger Fischer und was wir fangen, verkaufen wir an die Tourist:innen.»
Wenn wir lernen, unsere Traditionen zu schützen, und gleichzeitig unser Wissen über moderne Zusammenhänge erweitern, werden Tourismus, Geld und Öffnung ein Segen sein. Wenn nicht, sind sie ein Fluch.
Während die Traditionalist:innen in den Dörfern die Tourist:innen für den Fischmangel und auch das wachsende Abfallproblem verantwortlich machen, sagt Mola Lisa: «Nicht die Tourist:innen sind schuld, wir sind es. Wir haben die Tourist:innen willkommen geheissen, weil wir ihr Geld wollten. Wir fangen zu viele Langusten und Fische, weil wir nicht verstehen, dass wir uns damit unsere Lebensgrundlage zerstören.» Eigentlich gäbe es Regeln, aber das Archipel ist so gross, und Regeln durchzusetzen, wo jemand sie brechen wolle, sei schwierig. Das Einzige, was helfen würde, sei Ausbildung, das Verständnis für Zusammenhänge, Verantwortung, sagt Mola Lisa, die ihre Nichte und ihren Neffen deshalb nach Panama zur höheren Ausbildung geschickt hat. Dann verabschiedet sie sich.

Laut Mola Lisa wurde früher mit Leinen in Holzkanus gefischt. Heute werde mit motorisierten Booten, Schleppnetzen und dem erhöhten Bedarf durch den Tourismus Überfischung zunehmend ein Problem.
© Karin Wenger
Auf ihrer Insel hat eben ein grosser Kongress der «Sailas», der Amtsträger des Archipels, begonnen. Vier Tage lang werden sie altes Wissen ihrer Gemeinschaft an die Jungen weitergeben. Tourist:innen haben in dieser Zeit keinen Zutritt zu ihrer Insel. «Wenn wir lernen, unsere alten Traditionen zu schützen, und gleichzeitig unser Wissen über die modernen Zusammenhänge erweitern, werden Tourismus, Geld, Öffnung ein Segen sein. Wenn nicht, sind sie ein Fluch», sagt Mola Lisa, startet den Motor ihres Boots und fährt davon.

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.
Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
© Karin Wenger
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Meinung
Der Globale Süden darf nicht von der Bildfläche verschwinden
01.02.2024, Weitere Themen
Bundesrat Albert Rösti will die Radio- und Fernsehabgabe deutlich senken. Ein solcher Schritt würde die Berichterstattung über vergessene Länder und Krisen weiter schwächen – und dadurch auch das Verständnis für globale Zusammenhänge und die Rolle der Schweiz.

Geografische Verteilung der Sendezeit in der Schweizer Tagesschau im Jahr 2022.
© Ladislaus Ludescher
Die vorgesehene Änderung der Radio- und Fernsehverordnung umfasst eine schrittweise Senkung der Abgabe von 335 auf 300 Franken pro Haushalt bis zum Jahr 2029 und die Befreiung weiterer Unternehmen von der Abgabepflicht. Seit 2019 zahlen Betriebe mit einem jährlichen mehrwertsteuerpflichtigen Gesamtumsatz bis 500'000 Franken keine Abgabe mehr. Neu soll diese Limite auf 1.2 Millionen Franken Jahresumsatz erhöht werden.
Durch diesen Kompromissvorschlag soll der Volksinitiative «200 Franken sind genug!» («SRG-Initiative») Wind aus den Segeln genommen werden. Dadurch legitimiert der Bundesrat aber auch einen Abbau, der verheerende Folgen für die umfassende Informiertheit der Bevölkerung haben würde.
Für die aussenpolitische Information der Bevölkerung ist nämlich der Leistungsauftrag der SRG zentral, wie auch Bundesrat Ignazio Cassis kürzlich in der Fragestunde des Parlaments betont hat. Laut Art. 6 der Konzession für die SRG SSR soll diese in ihren Informationsangeboten für eine umfassende, vielfältige und sachgerechte Berichterstattung sorgen. Sie soll insbesondere über politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und soziale Zusammenhänge informieren und den Schwerpunkt auf die Darstellung und Erklärung des Geschehens auf internationaler, nationaler und sprachregionaler Ebene legen.
Bei entwicklungspolitischen Themen haben immer weniger Medien die nötigen Ressourcen, um dies zu tun. Gemäss Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich (fög) nehmen die Auslandberichterstattung und deren geographische Vielfalt in der Schweiz seit Jahren zunehmend ab. Auch die SRG beschränkt sich laut einer Studie immer mehr auf einzelne Regionen und Krisen, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Dies, obwohl laut einer Umfrage der ETH 46% der Befragten im Jahr 2022 angegeben haben, dass sie gerne mehr über die Lebensumstände an anderen Orten der Welt erfahren würden.
Das Aussendepartement hat leider schon mehrmals gezeigt, dass es dieses Anliegen sträflich ignoriert: Es hat den NGOs verboten, Programmbeiträge des Bundes für die Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit im Inland zu verwenden. Zudem hat es seine eigene Zeitschrift «Eine Welt» und die Finanzierung für die Medienförderung der Vereine «real21» und «En Quête d’Ailleurs» eingestellt.
Eine Senkung der Abgabe würde die Informationsangebote und insbesondere die Ausland-berichterstattung über den Globalen Süden zusätzlich schwächen. Dies ganz besonders in der lateinischen Schweiz, da die Auslandberichterstattung kosten- und ressourcenintensiv ist. In seinem letzten Buch hat auch der kürzlich verstorbene Tessiner Politiker Dick Marty auf blinde Flecken in der Medienberichterstattung hingewiesen und dafür plädiert, dass uns die Lage im Jemen oder in Äthiopien nicht egal sein darf.
Das Verständnis der Bevölkerung für globale Zusammenhänge und die Aufmerksamkeit für vergessene Krisen und komplexere entwicklungspolitische Themen ist eine Voraussetzung für die informierte Meinungsbildung in einer international stark vernetzten Schweiz. Im Zeitalter der Desinformation und der Finanzierungskrise des Journalismus ist ein gewichtiger, unnötiger Abbau des medialen Service public deshalb auch ein Angriff auf die Demokratie.
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