Artikel, Global

NKP der OECD: Wenn Dialog an Grenzen stösst

09.10.2017, Konzernverantwortung

Die Wirtschaftsverbände wehren sich gegen eine zivilrechtliche Haftung für Unternehmen wie sie die Konzernverantwortungsinitiative zum Schutz von Mensch und Umwelt vorsieht. Umso lieber betonen sie die Vorzüge des Nationalen Kontaktpunkts (NKP).

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

NKP der OECD: Wenn Dialog an Grenzen stösst

Wo Menschen neben Maschinen ganz klein sind. Bild: In der zum Glencore-Konzern gehörenden Mopani-Kupfermine in Sambia werden täglich rund 4000 Tonnen Kupfererz an die Erdoberfläche gefördert.
© Meinrad Schade

Auch die Schweiz gehört zu den Staaten, welche sich den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen verpflichtet und dafür einen Nationalen Kontaktpunkt (NKP) als außergerichtlichen Beschwerdemechanismus eingerichtet hat.

Die Ausgestaltung der nationalen Kontaktpunkte variiert von Land zu Land. Erste Aufgabe eines NKP ist es, für die Verbreitung der OECD-Leitsätze zu sorgen und bei deren Verletzung durch Unternehmen als Anlaufstelle für Beschwerden zu dienen.  In der Schweiz werden die Aufgaben und Pflichten des NKP durch eine Verordnung des Bundesrats geregelt, die festhält, dass der NKP »Eingaben über mögliche Verstösse von Unternehmen gegen die OECD-Leitsätze entgegen nimmt und zwischen den Beteiligten vermittelt.» Die «Eingaben» können von Einzelpersonen oder einer Gruppe beim NKP eingereicht werden. Zuständig ist der NKP auch für Beschwerden, die die Aktivitäten einer Schweizer Firma ausserhalb der OECD-Staaten betrifft, namentlich in Entwicklungsländern. Institutionell ist der Schweizer Kontaktpunkt beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) angegliedert. Unterstützt wird er seit 2013 von einer beratenden Kommission aus 14 Mitgliedern, in der sich VertreterInnen aus der Verwaltung, der Arbeitgeber und Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften und NGOs – darunter Alliance Sud – sowie der Wissenschaft treffen. Die Verfahrensanleitung präzisiert, dass der NKP eine «Plattform für Dialog/Vermittlung zwischen den beteiligten Parteien anbietet, um sie so bei der Lösung des Konflikts zu unterstützen.» Springender Punkt ist, dass «die Teilnahme an diesem Dialog auf Freiwilligkeit beruht».

Mängel und Schwächen des NKP [1]

Der NKP kann keine Verletzung der OECD-Leitsätze durch ein multinationales Unternehmen festhalten; die (einzige) Aufgabe des NKP ist es, «den Dialog zwischen den Parteien zu erleichtern und ein Diskussionsforum anzubieten» und nicht die Feststellung eines möglichen Verstosses gegen die OECD-Leitsätze.

In seiner aktuellen Form, beschränkt sich der NKP also darauf, eine Dialogplattform zu sein für Parteien, die sich in einem Konflikt befinden. Die Teilnahme an diesem Dialog ist allerdings weder obligatorisch noch hat der NKP die rechtlichen Mittel, um Streitparteien zum Dialog aufzufordern oder dazu zu verpflichten. Es handelt sich also um eine Form der freiwilligen Mediation, die ganz vom guten Willen der Unternehmen abhängig ist, sich diesem Prozess zu stellen. Es liegt in der Natur der Mediation, dass sie auf einem beiderseitigen Konsens der Streitparteien basiert, sich aussergerichtlich im Dialog zu einigen. 

Die wichtigsten Schwächen in Sachen Effektivität und Wirksamkeit des NKP sind:

  • Der Schweizer NKP wird vom Seco administriert, es fehlt ihm darum an institutioneller Unabhängigkeit. Andernorts – etwa in Norwegen – ist der NKP verwaltungsunabhängig und mit vier unabhängigen ExpertInnen besetzt.
  • Die hohen Anforderungen an die Vertraulichkeit verhindern, dass die Öffentlichkeit transparent über die Arbeit des NKP informiert wird.[2]
  • Fehlende Mittel verhindern, dass Betroffene vor allem aus Entwicklungsländern – etwa durch Übernahme von Reisespesen und Übersetzungskosten – am Mediationsprozess teilnehmen können.
  • Der NKP kann in den «abschliessenden Erklärungen» keine Verletzung der OECD-Leitsätze feststellen, und entsprechend können keine klaren Massnahmen angeordnet werden, die ein Unternehmen treffen soll, um den Leitsätzen in Zukunft gerecht zu werden.
  • Das Fehlen eines Organs, das den NKP mit Weisungsbefugnis überwacht. Die beratende Kommission hat dafür ein zu vages Mandat.
  • Das Fehlen jeglicher Sanktion für Unternehmen, die sich dem NKP verweigern oder dessen Arbeit behindern. Der NKP in Kanada kann seine Unterstützung für betroffene Firmen aussetzen oder bei der Vergabe von Exportkrediten mitreden.

Wo sich NKP und Zugang zur zivilen Justiz ergänzen

Eine Plattform für Dialog und Austausch kann das Recht auf Wiedergutmachung im Falle erlittener Menschenrechtsverletzungen nicht garantieren, so wie es der dritte Pfeiler der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte vorsieht. Dort heisst es, die «Staaten sollten als Teil eines umfassenden, staatlich getragenen Systems der Abhilfe bei mit Unternehmen zusammenhängenden Menschenrechtsverletzungen neben gerichtlichen Mechanismen wirksame und geeignete aussergerichtliche Beschwerdemechanismen bereitstellen.» (UNGP, 27). Diese Komplementarität streicht auch die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats [CM/Rec(2016)3] heraus, die in ihrem Kapitel über die zivile Verantwortung bei Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen verlangt, dass die Mitgliedstaaten die notwendigen Mittel ergreifen müssen um sicherzustellen, dass Verletzungen von Menschenrechten durch Unternehmen zivilrechtlich verfolgt werden können (§32). Es schlägt vor, Zivilklagen gegen Tochterfirmen von Unternehmen zuzulassen, die ihren Sitz innerhalb der Gerichtsbarkeit des Mitgliedstaates haben, auch wenn diese Töchter ihr Geschäft in Drittstaaten betreiben (§ 35).

In diesem Bereich unterstreicht selbst der Bundesrat in seinem Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte vom Dezember 2016 die Bedeutung effizienter nationaler Jurisdiktion um Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen zu sanktionieren bzw. für Wiedergutmachung zu sorgen.

Der Mechanismus bei «möglichen Verstössen» wie ihn der Schweizer NKP vorsieht beschränkt sich auf einen freiwilligen Mediationsprozess. Für den Fall, dass die OECD-Leitsätze verletzt werden, sieht er keine Sanktionsmöglichkeit vor, die eine wirksame Einklagbarkeit von Vergehen vor Gericht ersetzen würde. Nur dies böte die Möglichkeit, Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen festzustellen und diese zu einer echten Wiedergutmachung zu verpflichten, wie es die Konzernverantwortungsinitiative zum Schutz von Mensch und Umwelt vorsieht.

 

[1] 2015 hat OECD-Watch eine detaillierte vergleichende Analyse zum Funktionieren, zu den Mängeln und Schwächen der verschiedenen NKP vorgelegt. Die Untersuchung von 250 zwischen 2001 und 2015 eingebrachten Klagen hat gezeigt, das nur in einem (!) Prozent der Fälle die Bedingungen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen direkt verbessert wurden und keine einzige Klage zu einer Wiedergutmachung für die erlittenen Schäden geführt hat. Siehe Remedy Remains Rare : An analysis of 15 years of NCP cases and their contribution to improve access to remedy for victims of corporate misconduct. OECD Watch, 2015

[2] Während des Mediationsprozesses bleiben die Aktivitäten des NKP vertraulich. Die involvierten Parteien dürfen keine Information öffentlich machen (NKP Verfahrensanleitung, Punkt 3.5.). In Norwegen dagegen sind alle Informationen zu laufenden Prozessen zugänglich, so wie es der Norwegian Freedom of Information Act vorsieht.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Medienmitteilung

Die Agenda 2030 ins Zentrum rücken

20.08.2019, Internationale Zusammenarbeit, Agenda 2030

Alliance Sud, die Denkfabrik der Schweizer Entwicklungsorganisationen, kritisiert in ihrer Vernehmlassung die Pläne des EDA und des WBF zur Neuausrichtung der Internationa­len Zusammenarbeit (IZA) 2021-24. Die Ziele der IZA sollten konsequent an der Agenda 2030 der UNO ausgerichtet werden.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

+41 31 390 93 40 kristina.lanz@alliancesud.ch
Die Agenda 2030 ins Zentrum rücken

Das Aussendepartement (EDA) und das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) stellen drei Kriterien – Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung, Interessen der Schweiz und Mehrwert der Schweizer IZA – ins Zentrum ihres IZA-Berichts, lassen dabei aber die zentrale Frage offen: Welche Art von Entwicklung will die Schweiz fördern? Für Alliance Sud ist klar, dass sich die IZA an der Uno-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung orientieren muss; die Schweizer Politik soll generell und konsequent unter das Leitprinzip der Transformation von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in Richtung soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhal­tigkeit gestellt werden. Die Ziele und Schwerpunkte der IZA-Botschaft müssen dringend in diesem Sinn ergänzt werden.

Transformationsprozesse setzen ein gesamtheitliches Verständnis von Politik voraus. Damit nachhaltige Entwicklung kein leeres Schlagwort bleibt, muss die Schweizer Politik ihre Kohä­renz über alle Departemente hinweg verbessern, wie das auch der OECD-Entwicklungsaus­schuss DAC von der Schweiz fordert.[1] Besonders in der Pflicht stehen hier die Handelspolitik und die Steuer- und Finanzpolitik der Schweiz. Die Botschaft zur IZA 2021-2024 sollte diese Politikfelder und die notwendigen Anstrengungen explizit benennen.

Aus Sicht von Alliance Sud sind die im erläuternden Bericht zur IZA vorgesehenen Mittel klar ungenügend: Mit dem vorgesehenen Finanzrahmen kann die Schweiz ihren internationalen Verpflichtungen nicht nachkommen. Für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (aide publique au développement, APD) wird für 2021-2024 eine Quote von 0.45% des Bruttonatio­naleinkommens (BNE) anvisiert. Zieht man davon die Asylkosten im Inland ab, sind es sogar nur 0.40%. Dieses Ziel widerspricht dem international wiederholt gegebenen Versprechen, die APD-Quote auf 0.7% des BNE zu erhöhen. Das ist umso stossender als der Bund in seiner Rechnung seit 2015 wiederholt Milliardenüberschüsse ausweist, im Durchschnitt waren es 2.7 Milliarden CHF pro Jahr. Da auch für das laufende Jahr mit einem Überschuss von 2.8 Mil­liarden CHF gerechnet wird, ist eine schrittweise Erhöhung der APD auf 0.7% des BNE über­fällig.

Zu den im Vernehmlassungsverfahren gestellten Fragen – sind die vorgeschlagenen Ziele, die gesetzten Schwerpunkte und die geografische Fokussierung der IZA richtig? – sagt Alliance Sud drei Mal nein. Die Ziele und Schwerpunkte sind im jetzigen Botschaftsentwurf zu vage formuliert und erwecken den Eindruck, dass die Interessen der Schweiz höher gewertet werden als die Interessen der betroffenen Bevölkerung und die Armutsreduktion. Diese ist gemäss Bundesverfassung ein Grundauftrag der IZA, sie wird im erläuternden Bericht jedoch kaum erwähnt. Vor allem bei der anvisierten Fokussierung auf die Zusammenarbeit mit dem Privat­sektor muss der Akzent auf der Schaffung von menschenwürdigen Arbeitsplätzen sowie auf der Unterstützung lokaler KMU in den Partnerländern liegen. Die Zusammenarbeit mit dem Schwei­zer Privatsektor und international tätigen Firmen muss abhängig gemacht werden von wirksa­men Prozessen der Sorgfaltsprüfung bezüglich Menschenrechten, Umweltrisiken und Steuer­praktiken und darf auf keinen Fall zu einer Verdrängung oder Konkurrenzierung von lokalen Firmen führen.

Download der Vernehmlassungsantwort von Alliance Sud.

Für weitere Informationen:
Kristina Lanz, Fachverantwortliche Entwicklungspolitik, Alliance Sud, Tel. +4178 913 15 00

 

[1] Siehe: OECD Development Co-operation Directorate (2019). Review of the Development Co-operation policies and programmes of Switzerland. The DAC’s main findings and recommendations. S. 3

Medienmitteilung

Covid-19: Offener Brief an die Schweizer Politik

06.05.2020, Agenda 2030

Über 25 Organisationen der Schweizer Zivilgesellschaft, darunter Alliance Sud, fordern die offizielle Schweiz dazu auf, sich international für die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und ihrer Folgen, insbesondere in den ärmsten Ländern, einzusetzen.

Covid-19: Offener Brief an die Schweizer Politik

Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich auf Initiative der Gesellschaft Schweiz-UNO und des Forum Suisse de Politique Internationale zusammenschliessen, fordern die Schweiz und insbesondere den Bund dazu auf, sich international für die kurz- und mittelfristige Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und ihrer sozioökonomischen und ökologischen Folgen, insbesondere in den ärmsten Ländern, einzusetzen. In diesem Sinne muss die Schweiz rasch auf die Initiativen und Spendenaufrufe der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft reagieren, wie z.B. die des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für einen globalen humanitären Interventionsplan Covid-19, der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung oder der WHO.

Forderungen:

Der Wohlstand der Schweiz und die Kohärenz ihrer humanitären und demokratischen Werte stehen auf dem Spiel! Die Schweiz braucht mehr denn je eine gesündere Welt, sozial, ökologisch und wirtschaftlich. Und auch die Welt braucht die Schweiz mehr denn je. Als Mitglied der Vereinten Nationen, als Gastgeberin der wichtigsten internationalen Organisationen, einschliesslich der WHO, und als eines der reichsten Länder der Welt muss die Schweiz eine erneuerte Solidarität zeigen, die ihren Mitteln angemessen ist.

In dieser aussergewöhnlichen Zeit reichen wir vier sich ergänzende Forderungen ein:

  1. Angesichts der aktuellen globalen Gesundheitsnotlage muss die Schweiz zusätzliche finanzielle Mittel für die humanitäre Hilfe zugunsten der ärmsten Länder und der schwächsten Bevölkerungsgruppen, einschliesslich der Migranten und Flüchtlinge, mobilisieren.
  2. In Übereinstimmung mit der Agenda 2030 und dem Aktionsplan von Addis Abeba, der 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, fordern wir den Bund auf, 0,7% seines BNE für die öffentliche Entwicklungshilfe aufzuwenden. Bundesrat und Parlament müssen alle notwendigen Massnahmen ergreifen, um dieses grundlegende Ziel zu erreichen. Ohne die notwendigen und ausreichenden finanziellen Mittel wird die gegenwärtige Krise die bereits bestehende Verwundbarkeit der fragilsten Länder nur noch verstärken und die direkten und indirekten Auswirkungen der Pandemie für die Welt, aber auch für die Schweiz verschärfen.
  3. Im Geiste der von der Schweiz mitinitiierten Resolution 74/270 der UNO-Generalversammlung zur globalen Solidarität bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und der gemeinsamen Ministererklärung der Allianz für Multilateralismus vom 16. April 2020, der sich Bundesrat Ignazio Cassis anschloss, fordern wir, dass dieses internationale Engagement mit der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltigen Entwicklung in Einklang steht. Der Kampf gegen die Pandemie und ihre Auswirkungen ist eine zusätzliche Herausforderung und sollte die Ziele der nachhaltigen Entwicklung nicht ersetzen. Die Agenda 2030 strebt die Entwicklung von Gesellschaften an, die widerstandsfähiger gegen die Auswirkungen des Klimawandels, den Verlust der biologischen Vielfalt und Gesundheitsbedrohungen sind.
  4. Darüber hinaus fordern wir die Schweiz auf, sich dafür einzusetzen, dass die ärmsten Länder von einem Moratorium oder sogar von einem Erlass der Schulden profitieren, wie von der UNCTAD/UNO verlangt.

Die Unterzeichnenden

Gesellschaft Schweiz-UNO | Association Suisse-ONU | Associazione Svizzera – ONU
Forum Suisse de Politique Internationale
Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik | Association suisse de politique étrangère | Associazione svizzera di politica estera
Plattform Agenda 2030 | Plateforme Agenda 2030
Fastenopfer | Action de Carême
Schweizerischer Friedensrat, Zürich | Conseil Suisse de la paix, Zurich
PBI Schweiz
Gesellschaft für bedrohte Völker, Schweiz | Société pour les peuples menacés, Suisse
Caritas Schweiz | Caritas Suisse | Caritas Svizzera
Alliance Sud
SWISSAID
FOSIT - Federazione delle ONG della Svizzera italiana
Brot für alle | Pain pour le prochain
Frauen für den Frieden Schweiz
Evangelischen Frauen Schweiz EFS | Femmes protestantes en Suisse FPS
terre des hommes schweiz
Schweizerische Helsinki Vereinigung
FriedensFrauen Weltweit | PeaceWomen Across the Globe
Schweizer Plattform für Friedensförderung KOFF | Plateforme Suisse de Promotion de la Paix
KOFF
fair unterwegs – arbeitskreis tourismus & entwicklung
Fédération vaudoise de coopération (fedevaco)
humanrights.ch
Fondation Terre des hommes
Terre des Hommes Suisse

Medienmitteilung

Rio+20: Schweiz auf Konfrontationskurs

03.05.2012, Agenda 2030

Die Vorverhandlungen in New York im April 2012 zum Uno-Nachhaltigkeitsgipfel Rio+20 sind durch einen scharfen Nord-Süd-Konflikt geprägt.

Rio+20: Schweiz auf Konfrontationskurs

Medienmitteilung von Plattform Agenda 2030

Wo kein Wille ist, da ist kein Weg

24.01.2024, Agenda 2030

Der Bundesrat verabschiedete heute seinen Aktionsplan zur Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030. Einleitend stellt er fest, dass die Umsetzung dieser Strategie zu langsam verläuft. Anstatt konkrete Massnahmen vorzuschlagen, die den notwendigen Wandel beschleunigen, verliert sich der Aktionsplan in weiteren Grundlagenarbeiten. Für die Zivilgesellschaftliche Plattform Agenda 2030 ist klar: wir wissen genug, um handeln zu können!

Wo kein Wille ist, da ist kein Weg

Die bundesrätlichen Berichte der letzten Jahre wiederholen sich: Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz verschlechtert sich, die Armut steigt seit Jahren wieder an, unser Ressourcenverbrauch übersteigt die planetaren Grenzen. Der heute publizierte Zwischenbericht zur Umsetzung der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 bestätigt diese Analysen ein weiteres Mal. Und spricht Klartext: Bei vielen Zielen werden die Ziele bis 2030 nicht erreicht werden. Handlungsbedarf wird insbesondere in den Bereichen Armutsreduktion und Gleichstellung, Förderung der Kreislaufwirtschaft, in der Klimapolitik sowie beim Schutz der Biodiversität identifiziert.

Der Zwischenbericht weist auf konkrete Massnahmen hin, die fehlen. So zählt er in den genannten Bereichen Massnahmen zur Verlängerung der Produktnutzungsdauer durch Ökodesign und Fördern von Reparierbarkeit auf, erwähnt die negativen Auswirkungen biodiversitätsschädigender Subventionen, und sieht Handlungsbedarf, um den Energieverbrauch im Bereich Bauen und Mobilität zu senken.

Wer nun erwartet, dass diese Massnahmen Teil des zeitgleich verabschiedeten Aktionsplans 2024-2027 sind, der die Umsetzung der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 in den nächsten vier Jahren voranbringen soll, wird enttäuscht. «Die Verwaltung weiss genau, wo Handlungsbedarf besteht. Bloss fehlt im Bundesrat der politische Wille, in diesen Bereichen wirksame Massnahmen zu ergreifen», so das Fazit von Eva Schmassmann, Geschäftsführerin der Plattform Agenda 2030.

In einem Bereich adressiert der Aktionsplan eine Schwachstelle des Zwischenberichts. «Der bundesrätliche Bericht fokussiert zu stark auf unseren ökologischen Fussabdruck in der Schweiz. Dabei ist unser Fussabdruck im Ausland bereits grösser als der im Inland», so Schmassmann. Eine Massnahme des Aktionsplans will den Auswirkungen unseres Konsums oder unserer Ernährung im Ausland nachgehen, und Vorschläge erarbeiten, um diese sogenannten negativen Spillovers zu reduzieren. Darüber hinaus unterstützt die Plattform die Schaffung eines Netzwerks für soziale, kulturelle und politische Partizipation, das den sozialen Zusammenhalt und partizipative Prozesse fördern will.

Positiv bewertet die Plattform Agenda 2030, ein Zusammenschluss von mehr als 50 Organisationen der Zivilgesellschaft, dass der Zwischenbericht auch Publikationen von bundesexternen Akteurinnen und Akteuren in die Analyse einbezieht, und die Massnahmen des Aktionsplans jeweils auch die Zusammenarbeit mit Kantonen, Gemeinden und Akteur:innen der Zivilgesellschaft betonen. Nachhaltige Entwicklung ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die einzelne Akteur:innen nicht alleine bewältigen können.

Süd-Perspektive

Übergangsjustiz als Ultima Ratio

12.12.2023, Weitere Themen

Der Prozess zur Entschädigung der «Genocost»-Opfer in der Demokratischen Republik Kongo geht nur schleppend voran. Einige Fortschritte sind jedoch zu verzeichnen.

Übergangsjustiz als Ultima Ratio

Eine Frau wartet an einer Registrierungsstelle für Binnenvertriebene, die vor dem Konflikt in der Provinz Kasai fliehen, 2017 in Gungu, Demokratische Republik Kongo.

© John Wessels / AFP

von Caleb Kazadi, Korrespondent von Justice Info in Kinshasa (RDC)

Nach drei Jahrzehnten der Gewalt steht fest: Die Zahl der Opfer in den verschiedenen Regionen der riesigen Demokratischen Republik Kongo (DRK) ist schier unermesslich, jedoch schwer quantifizierbar. Einige offizielle Schätzungen gehen von bis zu 10 Millionen Toten aus, welche dieser «Genocost» (der Begriff steht für Verbrechen aus Profitgier) gefordert hat. Mehrere zehntausend Frauen wurden über die Dauer des Konflikts in vielen der betroffenen Regionen der DRK Opfer sexueller Gewalt. Im Jahr 2020 betonte der Ministerrat unter dem Vorsitz des kongolesischen Präsidenten Tshisekedi, wie wichtig die Unterstützung des Prozesses und der Mechanismen der Übergangsjustiz sei, um Verantwortlichkeiten zu klären, Gerechtigkeit zu schaffen und Versöhnung zu ermöglichen. Drei Jahre später warten die Opfer immer noch auf den Beginn der Wiedergutmachung.

Mimie Witenkate, ein Gründungsmitglied der Congolese Action Youth Platform (CAYP), fordert die Regierung auf, die Empfehlungen des Mapping-Berichts der UNO umzusetzen, der die Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo zwischen 1993 und 2003 dokumentiert. Der Bericht sieht insbesondere drei Nachbarländer in der Verantwortung: Burundi, Ruanda und Uganda. Die Aktivistin betont anlässlich des Gedenktages des kongolesischen Völkermords dass «ohne Gerechtigkeit keine Wiedergutmachung möglich ist. Frauen, die vergewaltigt wurden, erhalten einen kleinen Geldbetrag. Doch was ist danach? Ein paar Meter weiter wohnen Menschen, die Frauen und ihre Familienmitglieder verbrannt haben. Wie ist so ein Zusammenleben möglich?».

Ein neues Gesetz und ein Fonds zur Wiedergutmachung

Einige Fortschritte sind jedoch zu verzeichnen. Zum einen hat das Land im Dezember 2022 ein neues Gesetz verabschiedet, das den Schutz und die Wiedergutmachung für Opfer sexueller Gewalt in Verbindung mit Konflikten, Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschen zum Gegenstand hat. Das Gesetz soll es ermöglichen, « Gewalt zu vermeiden und unsere Bevölkerung ein für alle Mal vor dem Wiederaufflammen solcher Gräueltaten zu schützen», so die Schirmherrin des Gesetzes, First Lady Denise Nyakeru Tshisekedi.

Ferner hat die DR Kongo zwei öffentliche Fonds für die Entschädigung von Opfern schwerer Verbrechen eingerichtet. Dabei handelt es sich um den Sonderfonds für die Entschädigung der Opfer der illegalen Aktivitäten Ugandas in der Demokratischen Republik Kongo, FRIVAO, und den nationalen Fonds für die Entschädigung der Opfer konfliktbedingter sexueller Gewalt und der Opfer von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschen, FONAREV. Der FRIVAO, der im Mai 2023 geschaffen wurde, ist für die Opfer des Sechstagekrieges von 2000 in Kisangani im Nordosten der DRK bestimmt, an dem ugandische Streitkräfte beteiligt waren. Der zweite Fonds wurde für die Opfer anderer schwerer Verbrechen eingerichtet, die seit 1993 begangen wurden.

Träger Entschädigungsprozess

Der Fall des FRIVAO steht symbolisch für die Trägheit, mit der dieser Prozess vonstattengeht. Im September 2022 überwies Uganda die erste Rate der Reparationszahlungen für die seinem kongolesischen Nachbarn zugefügten Schäden in Höhe von 65 Millionen US-Dollar, basierend auf einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs. Fast ein Jahr später ist noch immer nichts davon an die Opfer ausgezahlt worden. Obwohl der Sitz von FRIVAO eigentlich in Kisangani geplant war, begnügt sich die Einrichtung derzeit mit einem Verbindungsbüro in den Räumlichkeiten des Justizgebäudes in Kinshasa.

Der Fonds ist mit keinen zweckgebundenen betrieblichen Mitteln ausgestattet, um sein Funktionieren zu gewährleisten. Laut einer mit dem Fall vertrauten Quelle ist der gesamte ugandische Geldbetrag ausschliesslich für die Opfer bestimmt, sodass kein Cent für andere Zwecke zur Verfügung steht. Im Protokoll des Ministerrats vom 18. August heisst es jedoch, die Zuweisung der ersten Zahlung von 65 Mio. USD, die Uganda im September 2022 geleistet hatte und die sich auf einem Übergangskonto befand, sei soeben ausgelöst worden. Aktuell wird an der Ausarbeitung eines strategischen Plans für die Übergangsjustiz gearbeitet. Dieses Dokument soll als Kompass für alle Massnahmen der Übergangsjustiz dienen, erklärt Joseph Khasa, Berater des Menschenrechtsministers, der für Fragen der Übergangsjustiz zuständig ist.

Schürfgebühren für die Opferentschädigung

Der Nationale Fonds für die Entschädigung von Opfern sexueller Gewalt (FONAREV) steht hingegen vor einem anderen Finanzierungsproblem. Für diese öffentliche Einrichtung waren ursprünglich 100 Millionen US-Dollar vorgesehen, die jedoch gegenwärtig nicht verfügbar sind. Gemäss dem Gesetz zur Einrichtung des FONAREV muss seine Finanzierung unter anderem aus Schürfgebühren oder externen Beiträgen – von Geldgebern, internationalen und philanthropischen Organisationen –  stammen. Der Fonds hält sich zwar bezüglich dieser externen Beiträge wie auch zu seinem Budget im Allgemeinen bedeckt, doch erliess die Regierung Mitte August ein Dekret, das die Modalitäten für die Erhebung und Verteilung der Schürfgebühren festlegt. Der Text bestätigt den prozentualen Anteil von 11% der Schürfgebühren zugunsten des FONAREV. Dabei dürfte es sich um eine beträchtliche Summe handeln, spülen diese Gebühren doch jährlich mehrere hundert Millionen US-Dollar in die Staatskasse.
 

Justice Info

Justice Info ist ein Medium der Fondation Hirondelle, das über aktuelle Gerechtigkeitsinitiativen in Ländern berichtet, die mit schwersten Gewalttaten wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Völkermord konfrontiert sind. Die vielgestaltige und sich ständig weiterentwickelnde Übergangsjustiz (transitional justice) ist eine grosse Chance für den Wiederaufbau eines Volkes. Das Leitmotiv der Chefredaktion von Justice Info, die sich aus Fachjournalist:innen von unbestrittener internationaler Glaubwürdigkeit zusammensetzt, lautet: «Damit Gerechtigkeit geschaffen werden kann, muss sie auch sichtbar sein». Die Aufgabe von Justice Info besteht darin, all diese Prozesse zugänglich und verständlich darzustellen. Es geht darum, die Übergangsjustiz zu demokratisieren, sie in ihrer Lesart im weitesten Sinne populär zu machen und so einen Dialog zwischen ihren Akteuren und ihren Begünstigten zu ermöglichen.

Hinter den Schlagzeilen

Mit der Pistole auf dem Jetski

12.12.2023, Weitere Themen

Als Bernardo Arévalo im vergangenen August in Guatemala die Präsidentschaftswahl gewinnt, ist das eine Sensation und eine grosse Überraschung. Arévalo ist der Hoffnungsträger der Unterdrückten, Armen und Indigenen. Doch die Hoffnung hält nicht lange an.

Mit der Pistole auf dem Jetski

© Karin Wenger

von Karin Wenger

An die Waffen gewöhnen wir uns nur mit Mühe. Selbst in der Werft am Rio Dulce, in der wir seit Anfang August unser Segelboot auf den Pazifik vorbereiten, sehen wir sie überall. Die Reichen, die hier ihre Schnellboote unterbringen und am Wochenende für Spritztouren auf dem See in Helikoptern angeflogen kommen, tragen ihre Pistolen in Halftern über der Badehose. Selbst wenn sie auf ihre Jetskis steigen, legen sie die Waffen nicht ab. Einmal gibt es eine Schiesserei im Städtchen und bei einem Volksfest mit Rodeo, das zu Ehren eines Heiligen abgehalten wird, tragen die Männer ihre Waffen spazieren wie die Frauen ihre Handtaschen.

Was ist das für ein Land, in dem Gewaltbereitschaft so natürlich zur Schau gestellt wird? Eines mit einer gewaltsamen Vergangenheit. Dabei hätte Guatemalas Geschichte auch ganz anders verlaufen können, denn 1945 war der Beginn eines kurzen demokratischen Frühlings. Juan José Arévalo wurde in den ersten freien Wahlen des Landes zum Präsidenten gewählt. Er versprach Landreformen, mehr soziale Gerechtigkeit, ein Ende der halbfeudalen Strukturen und dass er Guatemala zu einem unabhängigen Land machen werde. Guatemala war damals faktisch eine US-amerikanische Kolonie unter der Kontrolle der United Fruit Company. Diese besass unter anderem riesige Ländereien, auf denen sie Bananen anpflanzte. Das Land war eine «Bananenrepublik» im wahrsten Sinne des Wortes und so sollte es auch bleiben. Arévalos Regierung konnte zwar mehrere Putschversuche abwehren, doch am 18. Juni 1954 putschte eine kleine Exilarmee mit Hilfe der CIA Arévalos Nachfolger weg. Arévalo floh ins Exil. In Guatemala folgte darauf eine Militärdiktatur auf die nächste. Die USA lebte gut mit ihnen und schaute zu, als guatemaltekische Regierungstruppen im Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 schätzungsweise 250'000 Guatemaltek:innen, die meisten von ihnen Indigene, ermorden oder verschwinden liessen.

Der Bürgerkrieg ist zwar längst vorbei, aber noch heute gehört Guatemala zu den Ländern mit den meisten politischen Morden. Indigene, Menschenrechtler:innen, Umweltaktivist:innen und Journalist:innen müssen weiterhin um ihr Leben fürchten, wenn sie Kritik üben. Der 41-jährige Journalist Carlos Ernesto Choc, ein Indigener der Maya Q’eqchi, spürt diese Repression am eigenen Leib, seit er 2017 einen Umweltskandal am Izabal-See aufgedeckt hat. Damals färbte sich der See rot, verschmutzt durch Abwasser der Fénix Nickelmine. Die Mine gehört einem Tochterunternehmen der Solway Group, die in Zug registriert ist. Als die Fischer gegen die Minenbetreiber zu protestieren begannen, schickte die Regierung die Polizei. Als diese den demonstrierenden Fischer Carlos Maaz tötete, war Choc da und publizierte die Fotos und die Geschichte. Seither wird er von der Polizei drangsaliert und von der Regierung kriminalisiert und mit Verleumdungsklagen eingedeckt. Über ein Jahr lebte er im Untergrund, um einer Verhaftung zu entgehen. Wir treffen uns in Rio Dulce, in der Nähe seines Heimatdorfs El Estor am Izabal-See. «Während der Militärdiktatur haben sie uns Angst eingeimpft. Uns Indigenen haben sie gesagt, ihr seid Wilde und eigentlich existiert ihr gar nicht. Sie, die korrupte Elite unseres Landes, hat nicht damit gerechnet, dass wir überleben und uns wehren werden gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und ihren Raubbau an der Natur.»

Guatemala hat ungefähr 17 Millionen Einwohner:innen, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Armut und Indigene werden bis heute als Bürger:innen zweiter Klasse behandelt. Korruption ist so weit verbreitet, dass Guatemala auf dem Korruptionsindex von Transparency International jüngst auf den 150. von 180 Plätzen zurückfiel. Es erstaunt nicht, dass die Mächtigen im Land, die seit Jahrzehnten die Fäden in Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei und Armee ziehen, den Übernamen «Pakt der Korrupten» tragen.

Als Bernardo Arévalo im vergangenen August die Stichwahl um das Präsidentenamt gewinnt, sind es die Angehörigen dieses Paktes, die besonders erbost darüber sind, denn sie müssen nun um ihre Pfründe fürchten. Der 64-Jährige ist der Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten und verspricht, wie einst sein Vater, Korruption zu bekämpfen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Während die Amerikaner Juan José Arévalo vor achtzig Jahren noch bekämpft hatten, heissen sie nun seinen Sohn willkommen. Sie hoffen, dass er Arbeitsplätze schaffen und damit den Strom der Migrant:innen in die USA stoppen wird. In der Politik geht es immer um Eigeninteressen. Diese sieht die Elite Guatemalas nun in Gefahr und versuchte deshalb mit Hilfe des Justizapparats, Arévalos Sieg zu annullieren, so dass er im Januar 2024 sein Amt nicht antreten kann. Doch der Druck aus dem Ausland und aus den Dörfern ist gross, und so schaffte es das politische Establishment bislang nur, mit Hilfe der Staatsanwaltschaft Arévalos Partei Movimiento Semilla (Samenkorn-Bewegung) zu suspendieren. Arévalo spricht von einem Staatsstreich, der «Schritt für Schritt» durchgeführt werde. Er weiss, wie wütend die Bevölkerung darüber ist.

Seit Anfang Oktober bauen Indigene, Arbeiter:innen, Gewerkschaftsführer:innen und jene, die sich ihrer Stimme beraubt fühlen, überall im Land Strassensperren auf. Sie fordern, dass die korrupten Staatsanwälte abtreten, dass ihre Hoffnung auf mehr Rechte und Gerechtigkeit nicht im Keim erstickt wird. Auch die Hauptzufahrtsbrücke zu Rio Dulce wird gesperrt. «Wir haben es satt, arm zu sein», singt einer auf der Brücke. «Weg mit den Korrupten» steht in grossen Lettern auf einem Plakat. Nach wenigen Tagen gibt es keine Früchte, kein Gemüse, Mehl oder Zucker mehr in den Supermärkten und an Marktständen. Die Bankomaten sind leer, die Tankstellen auch. Die Lebensmittelpreise steigen. Am 16. Oktober wird der erste Demonstrant erschossen. Niemand scheint das zu erstaunen. Als ob sich alle längst an die Gewalt gewöhnt hätten.

Der indigene Journalist Carlos Ernesto Choc aber fokussiert nicht auf die Gewalt, sondern auf die Hoffnung: «Das ist ein historischer Moment. Zum ersten Mal sind wir, die verschiedenen indigenen Gruppen, die Mestizen, Aktivist:innen und Gewerkschaften vereint gegen die Regierung. Wir alle haben genug von ihrem korrupten, diskriminierenden System.» Deshalb bleiben viele Strassensperren wochenlang bestehen und deshalb demonstrieren die Menschen weiter. «Nur so werden sie uns endlich zuhören und nicht mehr sagen können, dass wir nicht existieren, dass unsere Stimmen nichts zählen. Sie können uns nicht länger ignorieren.»

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© Karin Wenger

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

Medienmitteilung der Koalition für Konzernverantwortung

Engagement für Konzernverantwortung geht weiter

16.06.2021, Konzernverantwortung

In wenigen Wochen haben sich tausende Einzelpersonen dazu bereit erklärt, die politische Arbeit für ein Konzernverantwortungsgesetz in der Schweiz weiterhin finanziell zu unterstützen. Nachdem immer mehr Staaten in Europa – zuletzt letzte Woche Deutschland und Norwegen - ihre Konzerne dazu verpflichten, die Menschenrechte einzuhalten, muss jetzt auch die Schweiz nachziehen.

Engagement für Konzernverantwortung geht weiter

© Verein Konzernverantwortung Glencore-Mine in Kolumbien.

Mitte März beschloss der Verein Konzernverantwortungsinitiative in einem Grundsatzentscheid, sich weiterhin für ein griffiges Konzernverantwortungsgesetz in der Schweiz einzusetzen. Nach erfolgreichem Crowdfunding hat der Verein seine Transformationsphase gestern beendet und den Grundstein für die Weiterarbeit gelegt. So wurden die Statuten angepasst, der Name in «Verein Konzernverantwortung» geändert und der Vorstand neu bestellt. Dieser besteht zur Hälfte aus Vertreter:innen von Mitgliedorganisationen und zur Hälfte aus unabhängigen Persönlichkeiten, die verschiedene Bereiche der Zivilgesellschaft abdecken:

Chantal Peyer (Brot für alle), Laurent Matile (Alliance Sud), Sylvia Valentin (terre des hommes schweiz) und Annina Aeberli (Bruno Manser Fonds) als Vertreter:innen der Mitgliedorganisationen sowie der alt Ständerat Dick Marty, der Alt Nationalrat Dominique de Buman, die Kommunikationsexpertin Isabelle Bamert und der Unternehmer Dietrich Pestalozzi als Vertreter:innen der Zivilgesellschaft.

Grosser Handlungsbedarf

«Es ist gewissermassen paradox», sagt Dick Marty. «Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung in der Schweiz sich für die Konzernverantwortungsinitiative ausgesprochen hat und obwohl die Länder in Europa reihenweise Gesetze einführen, um die Konzerne zur Respektierung der Menschenrechte zu verpflichten, folgt der Bundesrat weiterhin blind den Konzerninteressen.» Marty spricht damit die bundesrätliche Verordnung zum Gegenvorschlag an, zu der sich der Verein Konzernverantwortung in Kürze vernehmen lassen wird.

«Es ist inakzeptabel, dass Konzerne wie Glencore von der Schweiz aus weiterhin ohne Konsequenzen Menschen vertreiben oder ganze Landstriche vergiften können», kommentiert Sylvia Valentin. «Dank der enormen Unterstützung aus der Bevölkerung können wir auch nach der Abstimmung den Druck auf die Politik aufrecht erhalten.»

Hier geht es zu den Zielen des neuen Vereins Konzernverantwortung: https://konzern-initiative.ch/ziele/

Medienmitteilung

Konzernverantwortung: wirkungslose Verordnung

01.07.2021, Konzernverantwortung

40 Organisationen reichen diese Tage ihre Stellungnahmen zur Verordnung über den indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative ein. Gemeinsam kritisieren sie den Vorschlag des Bundesrates als wirkungslos. Der Geltungsbereich des bereits vielfach kritisierten Gegenvorschlags wird in der Verordnung dermassen eingeschränkt, dass das schwache Gesetz endgültig zur Farce verkommt.

Konzernverantwortung: wirkungslose Verordnung

© Konzernverantwortungsinitiative

2019 griff der Bundesrat zu einem ungewöhnlichen Manöver: In einer kurzfristigen Aktion lancierte die zuständige Justizministerin mitten in der bereits seit 2 Jahren laufenden parlamentarischen Debatte zur Konzernverantwortungsinitiative einen verspäteten Gegenvorschlag. Das Ziel war, einen griffigen Kompromiss im Parlament zu verhindern und der Bevölkerung vorzugaukeln, die Initiative brauche es nicht.

Rahel Ruch, Geschäftsleiterin der Koalition für Konzernverantwortung, kritisiert im Namen von 40 Organisationen: «Der Bundesrat plant derart exzessive Ausnahmeregelungen und Einschränkungen, dass praktisch kein Unternehmen mehr die Sorgfaltspflichten in den Bereichen Kinderarbeit und Konfliktmineralien erfüllen muss. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Stimmberechtigten, welche die Konzernverantwortungsinitiative mehrheitlich angenommen haben.»

Folgende Punkte sind aus Sicht der unterzeichnenden Organisationen besonders problematisch:

Konfliktmineralien: Dubiose Kleinsthändler werden belohnt

  1. Im Bereich Konfliktmineralien sieht die Verordnung viel zu hohe Schwellenwerte vor. Damit wird ein relevanter Teil der in die Schweiz importierten Konfliktmineralien nicht unter die Sorgfaltsprüfungspflicht fallen. Oliver Classen von Public Eye konstatiert: «Dubiose Kleinsthändler werden vom Bundesrat belohnt, obwohl sie z.B. bei der Goldeinfuhr ein grosses Problem darstellen.»
  2. Gleichzeitig werden Unternehmen, die mit rezyklierten Metallen handeln, a priori ausgenommen. Dies, obwohl dazu gar keine gesetzliche Grundlage besteht. «Mit dieser Einschränkung fördert der Bundesrat Umgehungs-Tricks, die heute schon gang und gäbe sind, um Gold von zweifelhafter Herkunft einzuführen.» kommentiert Classen.

Kinderarbeit: Anleitung zum Wegschauen

Im Bereich Kinderarbeit können sich noch mehr Unternehmen aus der Verantwortung befreien:

  1. KMU werden vom Bundesrat ungeachtet ihrer Risiken komplett ausgenommen. Von dem versprochenen, risikobasierten Ansatz kann keine Rede mehr sein – obwohl die Gesetzgebung dies vorsieht.
  2. Weiter werden Grossunternehmen ausgenommen, wenn die Endfertigung ihrer Produkte in einem Land ohne grössere Risiken für Kinderarbeit geschieht. Vertreibt ein Schweizer Konzern einen Schuh «Made in Germany» (nur Endmontage in Deutschland), muss er keine Sorgfaltsprüfungspflicht erfüllen, obwohl die Bestandteile des Schuhs in einem Drittstaat mit Kinderarbeit produziert sein können. Damit werden Sinn und Zweck der Bestimmung völlig ausgehebelt.
  3. Hat sich ein Grossunternehmen bis dahin noch nicht aus der Sorgfaltspflicht in Bezug auf Kinderarbeit befreien können, sieht die Verordnung noch eine dritte Möglichkeit vor: Wenn kein «begründeter Verdacht» auf Kinderarbeit in Bezug auf ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung besteht, muss auch keine Sorgfaltsprüfung durchgeführt werden. Das ist ein klassischer Fehlanreiz: Unternehmen, welche die Augen vor möglicher Kinderarbeit in ihrer Lieferkette verschliessen, werden darin bestärkt. Nur wer hinschaut, ist dem Gesetz unterstellt – und das sind klassischerweise jene wenigen Unternehmen, die bereits freiwillig gegen Kinderarbeit vorgehen.

International abgehängt

Gegner der Konzernverantwortungsinitiative wurden nicht müde, zu behaupten, dass der Gegenvorschlag international besser abgestimmt sei. Fakt ist: Das ganze Gesetz mit seinen massiven Konstruktionsfehlern, angefangen bei der willkürlichen Beschränkung auf wenige Themen und bis hin zum kompletten Verzicht auf Kontrollen und Sanktionen ist im internationalen Vergleich rückständig und überholt. Der Richtlinien-Entwurf des EU-Parlaments, das deutsche Lieferkettengesetz, das französische Loi de Vigilance, das neue norwegische Gesetz und die konkreten Projekte aus Belgien und den Niederlanden gehen alle viel weiter und sehen behördliche Kontrolle, Haftung oder sogar strafrechtliche Sanktionen vor. «Die Schweiz hinkt hinterher und zementiert die Straflosigkeit für jene Konzerne, welche Menschenrechte oder Umwelt verletzen.» hält Danièle Gosteli Hauser von Amnesty International Schweiz fest.

Die unterzeichnenden Organisationen fordern den Bundesrat auf, die Verordnung nachzubessern und haben konkrete Anträge eingereicht. Doch darüber hinaus ist für sie klar, dass auch die beste Verordnung aus dem Alibi-Gesetz keine international anschlussfähige Regelung macht. Deshalb wird sich die Koalition hinter der Konzernverantwortungsinitiative weiterhin für ein griffiges Gesetz einsetzen, das Konzerne wirklich in die Verantwortung nimmt.

Die ausführliche Vernehmlassungsantwort der Koalition für Konzernverantwortung finden Sie hier: https://konzern-initiative.ch/wp-content/uploads/2021/06/2021_vernehmlassungsantwort-vsotr_kvi-koalition_de_def.pdf

 

Folgende Organisationen tragen diese Medienmitteilung mit:
Alliance Sud
Amnesty International Schweiz
Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien
Associazione consumatrici e consumatori della Svizzera italiana
Brot für alle
Brücke - Le Pont
Bruno Manser Fonds
Campax
Demokratische JuristInnen Schweiz
EcoSolidar
Evangelische Frauen Schweiz
Fastenopfer
Fédération romande des consommateurs
FIAN Schweiz
Gebana
Gesellschaft für bedrohte Völker
Greenpeace
GSoA
Guatemalanetz Bern
Helvetas Swiss Intercooperation
humanrights.ch
Justitia et Pax
medico international schweiz
OeME-Kommission der Evangelisch-reformierten Gesamtkirchgemeinde Bern
Pain pour le prochain
Pro Natura
Public Eye
Save the Children
Schweizerisch Katholischer Frauenbund
Schweizerischer Gewerkschaftsbund
Solidar Suisse
Solifonds
StopArmut 2015 / Interaction

Medienmitteilung

Petition für griffige Konzernverantwortung

20.08.2022, Konzernverantwortung

Während in den Nachbarstaaten und der EU wirksame Gesetze erlassen werden, droht die Schweiz das einzige Land ohne Konzernverantwortung zu werden. Die Koalition für Konzernverantwortung lanciert deshalb heute eine grosse Petition.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

+41 22 901 14 81 laurent.matile@alliancesud.ch
Petition für griffige Konzernverantwortung

© Koalition für Konzernverantwortung

Medienmitteilung der Koalition für Konzernverantwortung vom 20. August 2022

Verschmutzte Flüsse, hochgiftige Minenabfälle und zerstörter Regenwald: Manche Schweizer Konzerne sind immer wieder in Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung verwickelt. Während in den Nachbarstaaten und der EU wirksame Gesetze dagegen erlassen werden, droht die Schweiz das einzige Land ohne Konzernverantwortung zu werden. Die Koalition für Konzernverantwortung lanciert deshalb heute eine grosse Petition für ein griffiges Gesetz und fordert den Bundesrat auf, die Versprechen aus der Abstimmungskampagne einzuhalten.

Seit der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative haben nach Frankreich (2017) auch Deutschland und Norwegen Gesetze erlassen und letzten Februar präsentierte die EU-Kommission ihren Richtlinienentwurf, der teilweise weiter geht als die Initiative – so erstreckt sich die Haftung auch auf Zulieferer  und eine Aufsichtsbehörde soll bei Verstössen hohe Bussen verhängen dürfen. Darüber hinaus müssen die Konzerne aufzeigen, wie sie den Zielen des Pariser Klimaabkommens entsprechen.

Dick Marty, alt Ständerat und Vorstandsmitglied der Koalition für Konzernverantwortung kommentiert wie folgt: «Der Bundesrat hat im Abstimmungskampf vor zwei Jahren immer und immer wieder versprochen, dass er ein «international abgestimmtes» Vorgehen möchte. Nun muss er dieses Versprechen auch einlösen und ein Konzernverantwortungsgesetz erarbeiten. Konzerne, die auf Zwangsarbeit setzen oder ganze Landstriche zerstören, sollen auch hierzulande dafür geradestehen.»

100'000 Unterschriften in 100 Tagen
Die Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, in 100 Tagen 100'000 Unterschriften für ihre Petition zu sammeln, um ein klares Zeichen an Bundesrat und Parlament zu senden. Heute Samstag haben hunderte Freiwillige in der ganzen Schweiz rund 100 Standaktionen geplant, um Unterschriften zu sammeln. Gleichzeitig startet eine Informationskampagne mit Plakaten und Informationsvideos, um die Bevölkerung über die europäische Entwicklung zu informieren. Unterstützt wird die Petition darüber hinaus von rund 30 prominenten Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichnern: https://konzernverantwortung.ch/petition/#h-erstunterzeichner-innen

Umfrage zeigt: Bevölkerung will nicht, dass die Schweiz das einzige Land in Europa ohne Konzernverantwortungsgesetz ist
Eine neue Umfrage zeigt, dass heute 70 Prozent der Bevölkerung für ein Konzernverantwortungsgesetz stimmen würde. Über ein Drittel jener, die 2020 Nein gestimmt haben, haben angesichts der europäischen Entwicklungen ihre Meinung geändert.