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Meinung
Freie Meinungsäusserung als grösster Trumpf
21.03.2022,
Bundespräsident Ignazio Cassis hat am letzten Jahrestreffen den Entwicklungsorganisationen seine drei wichtigsten Qualitätsmerkmale der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz genannt: Verlässlichkeit, Vertrauen und Voraussehbarkeit... Bingo!
Markus Allemann, Präsident Alliance Sud und Geschäftsleiter SWISSAID
© SWISSAID
von Markus Allemann, Präsident Alliance Sud
Die Alliance Sud der Zukunft ist auf Spur.
Verlässlichkeit: Alliance Sud ist seit Januar um zwei weitere renommierte Namen der zivilgesellschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit stärker geworden: Wir begrüssen Solidar Suisse und Terre des hommes als neue Mitglieder! Zusammen mit Helvetas, Heks, Fastenaktion, Caritas und Swissaid stellt Alliance Sud die verlässlichste Ansprechpartnerin der Zivilgesellschaft dar, wenn es um die nachhaltige Gestaltung positiver Rahmenbedingungen für die Bevölkerung im globalen Süden geht. Um weiter geordnet wachsen zu können, sind wir seit diesem Jahr in einem Verein zusammengeschlossen und bieten eine zweite Mitgliedschaftskategorie: Nichtregierungsorganisationen, auch aus dem Menschenrechts- und Umweltbereich, können assoziierte Mitglieder werden und unsere Arbeit so unterstützen. Wir sind dankbar, dass das Schweizerische Rote Kreuz mit gutem Beispiel voran geht und bereits das erste assoziierte Mitglied geworden ist.
Vertrauen: Dieses Qualitätsmerkmal ist weniger einfach zu erlangen. Vertrauen bedingt Verlässlichkeit und entsteht erst über Zeit. Alliance Sud ist seit 50 Jahren gegenüber Parlament, Regierung und Verwaltung eine verlässliche – und kompetente − Akteurin. Mit beneidenswertem politischem Spielraum! Im Unterschied zu ihren Mitgliedorganisationen erhält Alliance Sud keine Unterstützung vom Staat und ist somit auch nicht an eine vertragliche Verschwiegenheitsklausel gebunden, die den Informationsaustausch mit dem Aussendepartement sowie mit anderen Ämtern der Bundesverwaltung umfasst. Alliance Sud darf also jederzeit ihre Expertise spielen lassen und den Mund aufmachen. Die freie Meinungsäusserung ist ihr grösster Trumpf.
Voraussehbarkeit: Was Bundespräsident Cassis damit meinte: «Die Schweiz tut, was sie sagt, und sagt, was sie tut.» Voraussehbar ist, dass Alliance Sud kompromisslos, aber auch konstruktiv aufzeigen wird, dass die Schweiz nicht immer tut, was sie sagt. Politikkohärenz ist unser Kerngeschäft, die Nachhaltigkeitsziele sind unser Orientierungsrahmen. Konflikte sind in diesem Aushandlungsprozess voraussehbar, greift die offizielle Schweiz doch nicht selten zu anderen Prinzipien.
Verlässlichkeit, Vertrauen, Voraussehbarkeit: Wir schätzen uns glücklich, dass wir für die Spitze von Alliance Sud Andreas Missbach gewinnen konnten, der seit Januar neuer Geschäftsleiter ist. Zusammen mit Andreas starten das Alliance-Sud-Team und die Mitglieder nach 50 Jahren einen starken Neuanfang.
Meinung
Ein deutliches «Ja» für mehr Klimagerechtigkeit
19.06.2023, Klimagerechtigkeit
Die Argumente für ein «Ja» zum Klimaschutz-Gesetz waren so vielfältig wie die Schweiz. Die Stimmbevölkerung hat mit 59.1% Zustimmung dem Bundesrat den klaren Auftrag gegeben, mehr Verantwortung für die Umsetzung des Pariser Abkommens zu übernehmen.
© Verein Klimaschutz Schweiz
Endlich! Am Abstimmungssonntag kam auch bei Alliance Sud grosse Erleichterung auf, als klar wurde, dass in der Schweizer Stimmbevölkerung ein starker Klimaschutz mehrheitsfähig ist – trotz einer aggressiven Gegenkampagne. Der indirekte Gegenvorschlag der Gletscher-Initiative vermochte zu überzeugen, weil es für eine breite Mehrheit der Bevölkerung längst überfällig ist, dass die Schweiz mehr Verantwortung im Klimaschutz übernimmt – sowohl in ihrer internationalen Rolle als reiches Land wie auch gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung. So regelt das Gesetz nicht nur die Schweizer Verpflichtungen für Emissionsreduktionen, sondern auch die Verantwortung von Bund und Kantonen, für die Anpassung an den Klimawandel zu sorgen.
Die hohe Zustimmung zum Klimaschutz-Gesetz gibt Bundesrat und Parlament den klaren Auftrag, nun geeignete Massnahmen für eine rasche Absenkung der Schweizer Emissionen zu beschliessen, insbesondere mittels Anpassungen im CO2-Gesetz. Bereits das Emissionshalbierungsziel bis 2030 erfordert zusätzliche Anstrengungen und ist gleichzeitig eine zentrale Voraussetzung zur Erreichung des Ziels des Pariser Abkommens, die globale Erderwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen. Das Klimaschutz-Gesetz gibt vor, dass diese Emissionsreduktionen «soweit möglich» in der Schweiz erreicht werden müssen. Die Möglichkeiten der Schweizer Klimapolitik sind bei weitem nicht ausgeschöpft und gehen weit über das erklärte Ziel von Bundesrat Rösti hinaus, für genügend einheimischen Strom zu sorgen. Der erste wichtige Schritt wird eine rasche Verabschiedung der Verordnung zum Klimaschutzgesetz durch den Bundesrat sein.
Die rasche Reduktion der Emissionen ist nur ein Teil der Schweizer Verantwortung für Klimagerechtigkeit. Im Gesetz ebenfalls eingefordert wird die Klimaverträglichkeit der Finanzflüsse. Der Bund muss dafür sorgen, dass der Schweizer Finanzplatz seinen Beitrag zum globalen Klimaschutz leistet. Hier besteht ein wesentlicher Nachholbedarf und gleichzeitig eine riesige Chance, die Schweizer Hebel für globalen Klimaschutz zu nutzen.
Mit dem klaren «Ja» der Stimmbevölkerung sollte die Schweiz jetzt den Schwung nutzen, das Pariser Abkommen gemäss ihrer Verantwortung und der hohen finanziellen Flexibilität, welche sie als reiches Land hat, umzusetzen. Zu den Verpflichtungen gehört auch ein fairer Beitrag der Schweiz zur internationalen Klimafinanzierung, der nicht auf Kosten der internationalen Zusammenarbeit anderswo geht. Die Schweiz muss künftig mit verursachergerechten Finanzierungsinstrumenten für eine zusätzliche Finanzierung zugunsten des Globalen Südens sorgen.
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Global, Meinung
«Konflikte mit China werden zunehmen»
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
China stellt die Dominanz westlicher Werte infrage und wird die Globalisierung verändern, sagt Professor Patrick Ziltener. Interne Stabilität und eine Weltordnung, in der China weiter aufsteigen könne, seien dabei das überragende Ziel.
Patrick Ziltener, Titularprofessor an der Universität Zürich, ist Soziologe und Ostasienspezialist. Er macht «Forschung mit Gebrauchswert» und bedauert, dass es an den Schweizer Universitäten so wenig Chinakompetenz gibt: «Wir haben keine Ahnung, wie stark China die Welt verändert.»
Viele sehen gegenwärtig das Ende der Globalisierung angebrochen: China ist seit den Neunzigerjahren rasant gewachsen. Erwarten Sie, dass China in Zukunft weniger auf die Globalisierung − verstanden als Weltmarktdynamik − zählen kann?
Patrick Ziltener: Alles deutet darauf hin, dass die Globalisierung fortgesetzt wird, aber nicht eins zu eins wie der Globalisierungsschub der letzten 40 Jahre. China macht auch explizit deutlich, dass es an einer Fortsetzung der Globalisierung interessiert ist, aber sie wird stärker chinesisch geprägt sein. Chinesische Regeln, Standards und Methoden werden verbreiteter sein und es wird nicht so sein, dass der Westen die Regeln weiterhin diktiert. Bei uns ist nicht auf dem Radar, dass Ostasien die Globalisierung fortgesetzt hat, als sie im Westen schon stagnierte: China hat das pazifische Projekt der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) vorangetrieben, während Donald Trump die westlich dominierte Transpacific Partnership (TPP) beerdigt hat.
Das heisst, wir haben nicht mehr eine globale Globalisierung, sondern eine geteilte Globalisierung, wobei sich die Einflusssphären in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität globalisieren.
Ja, und zwar Vertiefung und Liberalisierung im Pazifischen Raum – und nichts im Westen. Die WTO ist weiterhin blockiert und China sieht das nicht als Hauptarena, sondern fokussiert auf die regionale Integration und natürlich auf die Neue Seidenstrasse. Früher war China ein «rule taker», jetzt ist China ein «rule maker». Aber wir dürfen nicht vergessen, dass China auf dem Weltmarkt überall kompetitiv schon drin ist. Wenn die Weltbank eine Ausschreibung macht für irgendwelche Projekte, dann gewinnen in 40% der Fälle chinesische Akteure.
China hat jedoch bei seinem Wachstum gerade nicht auf die Rezepte der Globalisierer, verkörpert durch den «Davos-Mann» und den Konsens von Washington, gesetzt. Was waren die Erfolgsfaktoren für den Aufstieg Chinas?
China hat alles studiert, es hat studiert wie Japan, Südkorea, Taiwan oder Singapur aufgestiegen sind und hat daraus gelernt, dass Weltmarktintegration möglich ist und eine sehr starke Dynamik entfalten kann, dass aber das Ganze gesteuert werden muss. Es werden Anreize gesetzt und Räume geöffnet, aber immer schrittweise und nie als «Big Bang» durch eine ideologische Wirtschaftspolitik, sondern ganz pragmatisch. Das fing an mit diesen Sonderwirtschaftszonen Shenzhen und in der Provinz Fujian, dann hat man diese Erfahrungen ausgewertet, man hat Gesetzgebung und Regulierungen angepasst und schrittweise auf andere Branchen ausgedehnt. Diese Kombination von Marktelementen und Steuerungselementen hat eine unglaubliche Dynamik angefacht, die vorbereitet und begleitet wurde durch eine staatliche Infrastrukturpolitik. Das Ganze war nie von der Idee der vollständigen Liberalisierung geleitet.
Und China hat auch den ausländischen Unternehmen nicht einfach freie Hand gegeben.
Es gibt immer rote Linien irgendwo am Horizont und der Spielraum der Unternehmen hängt ganz davon ab, wie sie in die chinesische Agenda passen: Entweder wird ihnen der rote Teppich ausgerollt oder sie sind dazu aufgefordert zu gehen. Deshalb sind die Erfahrungen von UnternehmerInnen so widersprüchlich. Eine Zeit lang sah es auch so aus, als würde der Einfluss der Staatsunternehmen schrittweise abgebaut und verschwinden. Das ist aber nicht mehr der Fall und es ist ganz klar, dass der staatlich kontrollierte Sektor eines der Standbeine ist und immer bleiben wird. Die autoritären Tendenzen zeigen sich auch in der Wirtschaft: In jedem Unternehmen müssen Parteigruppen gebildet werden, auch in ausländischen Unternehmen. Walmart in China hat also eine kommunistische Parteigruppe. In den meisten Fällen haben diese keinen direkten Einfluss auf die operative Tätigkeit der Unternehmen, aber sie sind eine Art Rückversicherung: Wenn irgendetwas nicht in die richtige Richtung läuft, dann gibt es dieses Instrument für Korrekturen im Sinne der Führung.
Wie definiert sich denn die richtige Richtung? Hat sich etwas geändert oder geht es einfach immer um Wachstum und wirtschaftliche Stärke?
Das absolut überragende Ziel ist politische Stabilität, also was man auf Englisch «regime survival» nennt. Danach kommt Wirtschaftswachstum, aber nicht einfach Wirtschaftswachstum, sondern die Herausbildung von weltmarkkonkurrenzfähigen chinesischen Unternehmen, so wie Huawei. Die Politik kommuniziert ganz offen, in welchen Bereichen die Prioritäten liegen, sei es in der Luftfahrt, in der Agrartechnik oder in der Robotik. Da wird es irgendwann Weltmarktkonkurrenz durch einige sehr grosse chinesische Unternehmen geben, die unserer ABB und unserer Novartis und irgendwann auch Nestlé das Fürchten lehren werden.
Zurück zur unmittelbaren Aktualität: Die chinesische Führung ist angesichts des Kriegs in der Ukraine in einem Dilemma: Einerseits möchte sie eine «eurasische» Allianz mit Russland gegen die USA, andererseits ist der Westen für die chinesische Wirtschaft viel wichtiger. Teilen Sie diese Einschätzung? Falls ja, wie wird die chinesische Führung in dieser Situation navigieren?
Das Ganze ist eine äusserst unangenehme Situation für China, das hat man auch in der ersten Pressekonferenz gesehen, als die Sprecherin des Aussenministeriums lavieren musste. Einerseits besteht China auf dem Prinzip der Nichteinmischung und des Nichteinsatzes kriegerischer Mittel. Andererseits, und das gilt auch für die Bevölkerung, gibt man weitgehend dem Westen die Schuld, mit dem Argument, dass die Osterweiterung der Nato und das Eindämmen von Russland die Hauptursachen für den Krieg seien. Eigentlich billigt China also das Verhalten Russlands nicht und das ist aus meiner Sicht die gute Nachricht: China wird aus grundsätzlicher Sicht nie zu einem solchen Mittel greifen, es wird zum Beispiel nie Taiwan ins Mutterland eingliedern, wie Russland das mit der Krim gemacht hat. Das wird hingegen ein strategisches Spiel werden, das bereits begann, als Xi Jinping sagte hat, das Problem Taiwan werde nicht an zukünftige Generationen übergeben.
Aber wie wird das denn ohne militärische Mittel gehen, wenn es Taiwan nicht so toll findet, Teil Chinas zu werden?
Ich halte ein Szenario für am wahrscheinlichsten, das langfristig angelegt ist und schrittweise ein Eingrenzen und ein Abschnüren von Taiwan beinhaltet. Ein erster Zug könnte sein, dass China sagt, es halte die Versorgung Taiwans und den Schiffsverkehr nicht mehr für sicher. Was das an der Börse in Taiwan bewirken würde, ist völlig klar. Dank solchen Methoden, also indem Taiwan das Wasser abgegraben wird, soll es dann irgendwann China wie eine reife Frucht in den Schoss fallen.
Sie haben zur Neuen Seidenstrasse und zum Einfluss Chinas auf Afrika geforscht. Stimmt der oft gehörte Vorwurf, China sei einfach nur eine weitere koloniale Macht?
Meine Definition von Kolonialismus beinhaltet Zwangsmassnahmen, die unter Gewalteinsatz oder unter Androhung von Gewalt durchgesetzt werden. Das ist die berühmte Kanonenbootpolitik, die ich bei China nicht sehe. Jetzt kann man natürlich den Begriff des Neokolonialismus verwenden, also Dominanz und Manipulation durch nicht-militärische Mittel. Das findet teilweise statt, aber vor allem in der frühen Phase der Neuen Seidenstrasse sind die Chinesen gekommen und haben gefragt: «Was wollt ihr»? Und wenn der Präsident eines afrikanischen Landes gesagt hat, er wolle eine Autobahn, die in seine Heimatstadt oder sein Heimatdorf führt, dann wurde diese gebaut, und zwar ohne wirtschaftliche Überlegungen. Das hat sich ein bisschen geändert, die Projekte werden besser ausgesucht und umgesetzt. Das ist für mich sowieso das Bemerkenswerte: Das Ganze ist ein lernender Organismus, es wird ausgewertet, da werden Erfahrungen geteilt und dann werden neue Standards gesetzt, und zwar ständig.
Die Bevölkerung sieht das aber oft anders.
Es gibt erste Forschungsergebnisse, die zeigen, dass durch erfolgreiche Projekte, zum Beispiel eine neuen Eisenbahnlinie in Nigeria, die Haltung gegenüber China positiv beeinflusst wird. Aber in den meisten Ländern, die ich angeschaut habe, ist das Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber der eigenen Regierung sehr gross und genauso gegenüber China. Was die dann zusammen unter nicht transparenten Bedingungen machen, stösst erst Recht auf grosses Misstrauen, im Sinne von «unsere korrupte Elite macht mit China gemeinsame Sache und fischt unsere Rohstoffe ab».
Also doch primär Rohstoffe, wie in der klassischen kolonialen Arbeitsteilung?
China ist interessiert an einer ununterbrochenen Zufuhr von Rohstoffen, die zentral sind für die chinesische Industrie, und zwar für fortgeschrittene Bereiche wie Informatik und Kommunikationstechnologien. Natürlich gibt es das grosse Wettrennen um Rohstoffe, zum Beispiel im Kongo oder in Sambia, und China ist da ebenfalls tätig, als ein Akteur unter anderen; gerade in der Schweiz beherbergen wir ja auch solche zentralen Akteure. Die Forschung zeigt aber einen Unterschied: Chinesische Unternehmen sind an der stetigen Zufuhr dieser Ressourcen nach China interessiert, unabhängig vom Weltmarktpreis, während westliche Unternehmen auf den Weltmarktpreis reagieren und dann die Förderung ausbauen oder zurückfahren, Leute einstellen oder feuern. China macht auch mit diesen Ressourcen sogenannte «Swap Deals», also bietet die Möglichkeit an, dass Infrastrukturprojekte mit Rohstoffen bezahlt werden können. Das ist nicht neu, das gab es schon lange vor China, und China hat das selber auch erlebt: Es gab japanische Infrastrukturprojekte in China, die mit chinesischen Ressourcen bezahlt wurden. China macht aber auch sehr viel mehr, als nur die Rohstoffprojekte zu sichern, nämlich Infrastrukturprojekte wie Staudämme, Sportstadien, Parlamentsgebäude oder das Hauptquartier der Afrikanischen Union. China verkauft das nicht als Entwicklungshilfe, sondern sieht es als «win-win» und ist dabei ganz selbstbewusst der Ansicht, es mache es besser als der Westen.
Und wo liegt hier tatsächlich der Unterschied zu vom Westen finanzierten Infrastrukturprojekten?
Es gibt keine Umweltverträglichkeitsprüfung, keine Sozialverträglichkeitsprüfungen, keine Bedingungen werden daran geknüpft; das macht es natürlich attraktiv für afrikanische PolitikerInnen. Es gibt auch keine Transparenzbestimmungen oder Korruptionsbekämpfung. Der zweite grosse Vorteil für afrikanische Regierungen ist das Tempo. China schafft es in zwei, drei oder vier Jahren, einen Flughafen hinzustellen und gerade dort, wo Wahlen gewonnen werden müssen, spielt das eine sehr grosse Rolle.
Also schwächt China die Demokratie in Afrika – auch so ein Topos – oder trägt sogar zu Autoritarismus bei?
Die selbst erklärte Absicht Chinas, sich nicht in innere Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, ist durchaus glaubwürdig. Der Regimetyp spielt im Prinzip keine Rolle. Ob autoritäre Herrschaft, Diktatur oder Demokratie: Wenn es ein geeignetes Projekt gibt, dann machen sie das. Zweitens strebt China tatsächlich keinen Regime-Export an. China fördert aber die Stabilität dieser verschiedenen Regime, zumindest stellenweise durch Entwicklungserfolge, aber dann gibt es die autoritäre Seite. Was mir dabei besonders bedenklich erscheint: China exportiert auch Methoden zur Stabilisierung von Regimen in Form von Beeinflussung der Öffentlichkeit und durch Überwachungstechnologien. China bildet etwa Experten aus in Manipulationstechniken, die es selber anwendet, zum Beispiel auf den sozialen Medien. Hier liegt also schon die Gefahr des Autoritarismus und auch der Verstärkung autoritärer Tendenzen von Regierungen, die demokratisch an die Macht gekommen sind.
Noch zu einem letzten Topos: China treibt mit seinen Investitionen und mit seinen Projekten Afrika in die Schuldknechtschaft.
Ja, das ist ein Trend, den es gab. Das hängt einerseits damit zusammen, dass China noch nicht so viel Erfahrung mit dem Schuldenmanagement hat und gerade jetzt erlebt, dass Überschuldung zu einem Problem werden kann. Die Forschung konnte aber nicht nachweisen, dass China eine aktive Verschuldungsstrategie verfolgt, damit Länder abhängig werden, ihre Schulden nicht mehr bedienen können und man dann irgendwelche Bedingungen diktieren kann. Es gibt einige wenige Länder, bei denen der Anteil der Schulden gegenüber China so dramatisch ist, dass man sagen muss, diese Länder sind faktisch abhängig von China, zum Beispiel Dschibuti. Die meisten Länder haben aber mehrere Standbeine.
China hat völlig andere wirtschaftliche und politische Ordnungsvorstellungen. Wenn es Alternativen zu den neoliberalen Rezepten des «Washington Consensus» formuliert, kann das positiv sein, aber was geschieht mit dem UNO-System, den Werten, die uns lieb sind: Menschenrechte, Minderheitenrechte, politische Partizipation der Zivilgesellschaft und so weiter?
Hier sollten bei uns die Alarmglocken läuten: China hat auch da ganz offensiv eine Ansage gemacht: «Wir werden dieses System verändern, es wird weniger westlich geprägt sein und es wird stärker asiatische und insbesondere chinesische Eigenschaften haben.» Was aus chinesischer Sicht eine Überbetonung individueller Freiheitsrechte ist, wird relativiert zugunsten von wirtschaftlichen und sozialen Rechten auf Entwicklung und Recht auf Sicherheit; das bedeutet dann eben aus unserer Sicht mehr autoritäre Elemente. Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges formuliert ein Akteur offen eine offensive Agenda, was die Dominanz westlicher Institutionen und westlicher Werte in Frage stellt. Das ist äusserst ernst zu nehmen. Was wir bis jetzt gesehen haben, sind symbolische Aktionen: Zum Beispiel mobilisiert China gegen den Vorwurf der Verschlechterung der Menschenrechtslage seine befreundeten Staaten. China macht dann in der UNO eine Show und sagt, okay, es sind 24 westliche Länder, die uns kritisieren, aber es sind 50 UNO-Mitglieder, die sich dagegen verwahren und sagen «das ist nicht gerechtfertigt». Solche Konflikte werden zunehmen, nicht nur auf symbolischer Ebene. Die UNO wird in vielerlei Hinsicht, und zwar bei den Massnahmen, die der Westen durchgesetzt hat, etwa Sanktionen oder Interventionen zum Schutz der Menschenrechte, weniger handlungsfähig werden.
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Meinung
Stimmen an Rande der Globalisierung
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Globales Dorf hin oder her – am Ende sind es die Menschen aus dem globalen Süden, die das wahre und janusköpfige Gesicht der Globalisierung am besten kennen. Ihre Geschichten gehen in der westlichen Medienflut oft unter, weil die rund um die Uhr produzierenden News-Fabriken keinen Platz und keine Zeit finden für den Alltag der Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Kein Zufall, haben auch Schweizer Medien trotz Globalisierung in den letzten Jahren immer weniger über Auslandthemen berichtet.
Umso willkommener sind die qualitativ hochstehenden Ausnahmen: Die Journalistin Karin Wenger hat immer wieder für Radio SRF die unsichtbaren Geschichten hörbar gemacht und diesen Frühling drei facettenreiche und lesenswerte Bücher veröffentlicht, die sich am Rande (und dennoch im Herzen) der globalen Gesellschaft abspielen. Wir wollten wissen: Was bewegt die unsichtbaren Gesichter der Globalisierung? Und welche Konsequenzen spüren sie überhaupt?
«Viele spüren die Globalisierung direkt oder indirekt, indem sie zum Spielball der geopolitischen Mächte und Querelen werden», sagt Karin Wenger als Antwort auf unsere Fragen. Zum Beispiel die Konsequenzen der Megaprojekte im Rahmen der neuen Seidenstrasse Chinas in Laos oder Kambodscha oder der Abzug westlicher Gelder aus Afghanistan – eine Folge des schwindenden Interesses des Westens. Ganz direkt wirkt sich die Globalisierung auf die Arbeitsbedingungen beispielsweise von Arbeiterinnen in Textilfabriken in Bangladesch oder Vietnam aus, ganz nach dem Motto: möglichst billig muss es sein. Diese Arbeitsbedingungen sind immer wieder ein konkretes Thema in ihren Büchern.
Der lange Atem der Journalistin
Im Jahr 1979, als Karin Wenger geboren wurde, marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Sie blieben ein Jahrzehnt und zerschlugen alle Träume, so wie später auch die Taliban. Karin Wenger hat in den letzten Jahren immer wieder über den zermürbenden Krieg und den globalen Kampf gegen Terrorismus in Afghanistan berichtet und dort Mina getroffen, eine mutige und von konservativen Männern verfolgte Sängerin, deren Geschichte im Buch «Verbotene Lieder» (Stämpfli Verlag) erzählt wird. Es ist eine beeindruckende und bedrückende Geschichte, ohne «Happy End», aber trotzdem nicht ganz aussichtslos wie viele andere, die Karin Wenger erzählt («Bis zum nächsten Monsun», Stämpfli Verlag; «Jacob der Gefangene. Eine Reise durch das indische Justizsystem», Matthes & Seitz Berlin).
Es sind Lebenswelten und Extremsituationen, die nur ein Buch und eine Journalistin mit langem Atem und Fingerspitzengefühl wie Karin Wenger erzählen kann. Über Jahre hinweg trifft sie ihre ProtagonistInnen, hört ihre Erfahrungen, spricht mit ihren Verwandten und wird sogar Teil ihrer Geschichte, indem sie zum Beispiel Mina beim Antrag für ein humanitäres Visum beim Schweizer Generalkonsulat in Istanbul unterstützt. Erfolglos. Es sei ein Todesurteil, sagt Mina nach dem negativen Entscheid: «Wir haben keine Papiere, keine Identität, mein Kind kann nicht zur Schule. Das Recht, Mensch zu sein, wurde uns genommen».
Auch Rozina, eine Näherin aus Bangladesch, deren Geschichte Karin Wenger in «Bis zum nächsten Monsun» erzählt, durchlebte eine dramatische Situation: Sie arbeitete im Rana-Plaza-Gebäude, wo internationale Modeketten ihre Kleider produzieren lassen, als dieses am 24. April 2013 einstürzte. 1134 Menschen starben, mehr als 2500 wurden verletzt. Dabei liebte Rozina ihre Arbeit in der Fabrik, obwohl sie im Zuge des Zusammensturzes ihre Schwester und ihren Arm verlor. «Für arme Frauen wie mich ist die Fabrikarbeit ein Geschenk des Himmels», sagt Rozina. Die Arbeit habe sie frei gemacht, weil sie ihr eigenes Geld verdienen konnte.
Die Kraft der Menschen
«Immer wieder», schreibt Karin Wenger im Vorwort ihres Buches «Bis zum nächsten Monsun», «traf ich auf Menschen, die Schreckliches überlebt hatten, und jedes Mal fragte ich mich: Wie lebt jemand nach einer so extremen Grenzerfahrung weiter? Woher nehmen Menschen die Kraft weiterzugehen, ohne zu zerbrechen – weder physisch noch psychisch –, obwohl sie grausame Erfahrungen gemacht haben?»
Die Sehnsucht nach mehr Tiefe und Komplexität sowie der Wunsch, Menschen länger zu begleiten, statt sie nur in News-Flashs zu Wort kommen zu lassen, haben Karin Wenger dazu bewogen, ihre ProtagonistInnen in den Jahren nach den ersten Begegnungen immer wieder aufzusuchen und schliesslich darüber zu schreiben. Entstanden sind drei pulsierende und exzellent geschriebene Bücher, die mehr verraten über die leeren Versprechungen und die Widersprüche der Globalisierung als viele wissenschaftliche Aufsätze, die nur mit Zahlen und Theorien operieren.
Karin Wenger
Karin Wenger studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalistik und Politologie. Während des Studiums arbeitete sie als Friedensbeobachterin in Chiapas und recherchierte zum Nordirlandkonflikt in Belfast. Ihr letztes Studienjahr verbrachte sie an der Universität Birseit im Westjordanland. Für das Schweizer Radio SRF berichtete sie seit 2009 unter anderem über den Krieg in Afghanistan, Naturkatstrophen in Pakistan und Nepal, die vielschichte Demokratie Indiens oder den Militärputsch in Myanmar.
Wer mehr über die Bücher und Karin Wenger erfahren möchte, findet Angaben dazu auf www.karinwenger.ch
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Meinung
Der Schweizer Beitrag zur Rettung der UNO
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Der Krieg in der Ukraine hat eine Wertekrise verschärft, die mit der politischen Instrumentalisierung der UNO zusammenhängt. Neutrale Länder wie die Schweiz sollten sich stärker für eine bessere Welt einsetzen, sagt El Hadji Gorgui Wade Ndoye.
Die grosse Krise, in der sich die Vereinten Nationen aktuell befinden, ist im Grunde eine Identitätskrise: Die universellen Werte, die die Nationen vereint haben, bekommen Risse unter dem Druck einer kriegerischen Logik, die die Werte des Friedens und der Menschenrechte vernachlässigt. Der Krieg in der Ukraine macht dies deutlich: Auf der einen Seite gibt es einen Staat, der ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ist und mitten im 21. Jahrhundert einen anderen Staat unter dem Vorwand der Entnazifizierung angreift. Auf der anderen Seite steht ein westlicher Block, der sich verbal überbietet und sich entschlossen dazu verpflichtet, den betroffenen Staat zu bewaffnen.
Abgesehen von der Klimakatastrophe, die vom IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) angekündigt und im Bericht der Weltorganisation für Meteorologie vom 18. Mai bekräftigt wurde, und den humanitären und Nahrungsmittelkrisen, die von einer finanziell schwachen UNO so gut wie möglich bewältigt werden, hat der Krieg in der Ukraine vor allem eine Wertekrise verschärft, die mit der politischen Instrumentalisierung der Weltorganisation zusammenhängt. Auch der Menschenrechtsrat, Erbe der gleichnamigen Kommission mit Sitz in Genf, entgeht dieser Instrumentalisierung nicht immer – obwohl die Vereinten Nationen im Jahr 1945 nicht auf der Asche des Völkerbundes mit einer manichäischen Vision von «Pro» und «Contra» gegründet worden waren.
Makane Moïse Mbengue, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf und Mitglied des Instituts für Internationales Recht, schlägt eine «rhetorische Neuausrichtung auf die Werte, Ziele und Gründungsprinzipien der Vereinten Nationen» vor. In diesem Rahmen kommt dem afrikanischen Kontinent eine wichtige Rolle zu, einem Kontinent, auf dem sich bis vor kurzem fast 70% des Interventionsvolumens der Vereinten Nationen konzentrierten. Der erste Kontinent, der sich keinem Ost-West-Block zugehörig fühlt und angesichts des Wiederaufflammens des Kalten Krieges erneut Zeuge einer Konfrontation ist, könnte der internationalen Gemeinschaft als ältester Sohn der Erde eine «zusätzliche Seele» verleihen. Ebenso sollten sich historisch neutrale Länder stärker für eine bessere Welt einsetzen. Dies gilt insbesondere auch für die Schweiz, umso mehr, wenn sie einem der wichtigsten der sechs Organe der Vereinten Nationen beitreten wird: dem Sicherheitsrat. Wie der Schweizer Soziologe Jean Ziegler gesagt hat: «Die UNO ist der letzte Graben vor dem Chaos.»
Welche Rolle für die Schweiz?
Der Juni 2022 ist ein historisches Datum für die Schweiz, da sie von der Liste der 62 Länder, die noch nie im Sicherheitsrat Einsitz nahm, gestrichen wird. Die Schweizerische Eidgenossenschaft, die 2002 Mitglied der UNO wurde, könnte mit dem neuen Vertrauen, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen in sie setzt, einen frischen Wind in die Beziehungen zwischen den fünfzehn Mitgliedstaaten und insbesondere den fünf ständigen Mitgliedern (China, Frankreich, Vereinigte Staaten, Russische Föderation und Grossbritannien) spielen. Trotz der Sanktionen gegen Russland, an denen sie sich beteiligt, können die Glaubwürdigkeit und die Neutralität der Schweiz weiterhin dazu dienen, Brücken zwischen den Nationen zu bauen. So könnte die Eidgenossenschaft zusammen mit anderen Ländern aus dem afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent auf eine Neuausrichtung der Rhetorik im Sicherheitsrat hinwirken, damit diese stärker mit den Idealen der Charta der Vereinten Nationen übereinstimmt.
Die Schweiz kann sich im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Vermittlerin präsentieren, da sie weder Mitglied der NATO noch der Europäischen Union ist. Dafür muss sie in den zwei Jahren, in denen sie im Rat vertreten sein wird, diesem mächtigen Gremium ihre Werte des Friedens und der partizipativen Demokratie näherbringen. Es wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Vetorecht zu beseitigen, das den fünf ständigen Mitgliedern aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der Gründung der Organisation gewährt wurde. Die Schweiz könnte sich jedoch gemeinsam mit anderen Staaten an der Resolution orientieren, die am 26. April 2022 von der Generalversammlung im Konsens verabschiedet wurde: Jeder Einsatz eines Vetos wird künftig eine Sitzung der Generalversammlung auslösen, in der alle UN-Mitgliedstaaten das Veto prüfen und kommentieren können. Die Resolution «Ständiges Mandat für eine Debatte in der Generalversammlung, wenn im Sicherheitsrat ein Veto eingelegt wird», die ohne Abstimmung angenommen wurde, folgte auf Russlands Gebrauch seines Vetorechts im Rat einen Tag nach seiner Invasion in die Ukraine und forderte dessen bedingungslosen Rückzug aus dem Land. Damit ist ein neues Druckmittel entstanden, das nach einer grösseren Verantwortung der Vetostaaten verlangt. Die Mitgliedstaaten haben dem Rat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen und sind übereingekommen, dass dieser, wenn er in ihrem Namen handelt, jederzeit das grösstmögliche Verantwortungsbewusstsein für die Realisierung «der Ziele und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen» an den Tag legen sollte.
Ist die Neutralität mit dem Sicherheitsrat vereinbar?
Die Schweiz ist den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Idealen verpflichtet. Folgerichtig muss ihre Präsenz im Sicherheitsrat ihr Engagement für Frieden und Sicherheit in der Welt und innerhalb der Weltorganisation zum Ausdruck bringen. Das grundlegende Ziel der schweizerischen Neutralität ist insofern vergleichbar mit dem Bestreben der UNO, als diese ein auf dem Recht basierendes System setzt, um «künftige Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren». Tatsächlich kann man feststellen, dass Staaten, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Bezug auf einen Konflikt garantiert ist und die keine direkten nationalen Interessen oder eine versteckte Agenda bei der Konfliktlösung haben, prädestiniert dafür sind, die Rolle des ehrlichen Vermittlers («honest broker») zu übernehmen. Der Sitz im Sicherheitsrat eröffnet der Schweiz neue Möglichkeiten, um zu Frieden, Sicherheit und einer gerechten internationalen Ordnung beizutragen. Auch wenn die UNO bisher nicht alle ihre Aufgaben erfolgreich erfüllt hat, bleibt sie doch «der letzte Graben vor dem Chaos», um es mit den Worten von Jean Ziegler zu sagen.
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Ein Sommertag im Süden – und der Krieg geht weiter
05.07.2022, Internationale Zusammenarbeit
Eins muss man ihm zugestehen: Ignazio Cassis hat sich für «seine» Konferenz in Lugano richtig ins Zeug gelegt. Höchste Zeit, dass der Bundespräsident die gleiche Energie zur Bekämpfung der globalen Hungerkrise und für die Agenda 2030 an den Tag legt.
Nach dem ganzen Brimborium anlässlich der Ukraine-Konferenz in Lugano werden sich die Schweizer DiplomatInnen wohl gegenseitig auf die Schultern klopfen – auch wenn die grossen Namen der Weltpolitik schlussendlich fehlten. Kein Wunder, hat doch auch der Schweizer Aussenminister die globale Konferenz gegen die Hungerkrise in Berlin geschwänzt. Trotzdem hat die «Lugano-Deklaration» zumindest ein Ziel erreicht und die politischen Voraussetzungen festgelegt für den demokratischen Wiederaufbau in der Ukraine, wobei die internationale und lokale Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen wird.
Das Ende des Krieges scheint aber noch in weiter Ferne und bis dann kann der Wiederaufbau nicht umfassend und nachhaltig in Angriff genommen werden. Es gilt weiterhin, die dramatischen Folgen so gut wie möglich zu lindern: in der Ukraine wie global. Und auch in der Schweiz gibt es viel zu tun, da ihr Finanzplatz und Rohstoffhandel die Kriegsführung und die Korruption anderswo oft erst ermöglichen. Gerade auch in Lugano, was Cassis in den letzten zwei Tagen strahlend ausgeblendet hat.
Die Bevölkerung will mehr globale Zusammenarbeit
Die Schweizer Bevölkerung hat für die Ukraine eine grosse Solidarität an den Tag gelegt: Fast 300 Millionen Schweizer Franken hat sie via Spenden an Hilfsorganisationen bisher bereitgestellt. Die offizielle Schweiz hat in Lugano zwar angekündigt, dass sie die bilaterale Zusammenarbeit auf 100 Millionen verdoppeln wird; unverständlich ist jedoch die Absicht, dass dieses Geld aus dem aktuellen Budget der internationalen Zusammenarbeit kommen soll.
Für die eigene Armee will das Schweizer Parlament ab 2030 zwei zusätzliche Milliarden pro Jahr einsetzen; für eine umfassende Friedenspolitik auf der ganzen Welt, wie sie eine Mehrheit der Bevölkerung will, ist die Politik aber nicht bereit, tief in die Tasche zu greifen. So wichtig die Unterstützung des Wiederaufbaus und der Zivilbevölkerung in der Ukraine ist – 50 zusätzliche «Milliönchen» sind dabei sicher nicht genug –, so zentral ist es, dass dieses Geld zusätzlich gesprochen wird und nicht auf Kosten der ebenso dringlichen Aufgaben in anderen Ländern geht.
Agenda zu voll für die Agenda 2030?
In New York beginnt heute das High-Level Political Forum zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030). Leider wird der Bundespräsident an diesem wichtigen Anlass nicht vor Ort sein, weil scheinbar Wichtigeres auf ihn wartet. Hoffentlich denkt er in dieser Zeit über eine umfassende Friedenspolitik der Schweiz nach und geniesst ein paar Sommertage in seiner Wohngemeinde Collina d’Oro, wo einst auch der Nobelpreisträger für Literatur Hermann Hesse lebte und kurz nach dem ersten Weltkrieg schrieb:
«Im Frieden, als unser Reichgewordenen Landsleute noch unbehindert reisen konnten, da traf man im Sommer keinen von ihnen im Süden an. Im Sommer war der Süden, einem dunklen Gerücht zufolge, unerträglich heiss und von phantastischen Plagen erfüllt, und man zog es vor, in Nordland zu sitzen oder in einem Alpenhotel auf zweitausend Meter Höhe den Sommer durchzufrieren. Jetzt ist das anders, und wer einmal das Glück gehabt hat, seine Person und seine Kriegsgewinne nach dem Süden zu exportieren, der bleibt da und geniesst, unter Gottes allesduldender Sonne, die Segnungen dieses Sommers mit. Wir alte Auslandsdeutsche treten sehr in den Hintergrund, sind auch mit unsren sorgenvollen Gesichtern und Fransen an unsern Hosen nicht recht präsentabel. Dafür wird unser Volk glanzvoll durch eben jene Herrschaften vertreten, die sich hier mit Hilfe der rechtzeitig weggeschmuggelten Gelder Häuser, Gärten, und Bürgerrecht gekauft haben.» (Aus: Sommertag im Süden, Tessin, 1919).
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Die Zeit ist reif für eine Veränderung
03.10.2022, Internationale Zusammenarbeit
Lateinamerika hat genug von der Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Korruption rechter Regierungen, die die eigentlichen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung ignorieren, schreibt die guatemaltekische Journalistin Mariela Castañón.
In den letzten Jahren konnten in Ländern wie Mexiko, Bolivien, Peru, Honduras, Chile und Kolumbien linke Regierungen die Wahl für sich entscheiden. Darin widerspiegelt sich die unmissverständliche Forderung der Bevölkerung, die Sozialpolitik zu priorisieren. Es ist eine augenfällige Verdrossenheit gegenüber den rechten Regierungen spürbar, die ihren Bevölkerungen nicht nur nichts hinterlassen haben, sondern im Gegenteil die Staatskassen plünderten, um sich selbst zu bereichern. Obwohl jedes Land seine eigenen Gründe für die Wahl einer neuen Regierung hat, sind die Probleme, die uns plagen, ähnlich. Sie heissen Armut, extreme Armut und Ungleichheit.
Die Corona-Pandemie hat die Probleme noch verschärft, mit denen wir uns in Lateinamerika seit Jahrzehnten herumschlagen. Der Zusammenbruch der Gesundheits- und Bildungssysteme, die Arbeitslosigkeit, der Mangel an menschenwürdigen Unterkünften und die Lebensmittelknappheit – all dies verdeutlicht, warum jetzt linke Regierungen den Wandel herbeiführen sollen.
Mit traumwandlerischer Regelmässigkeit bandelt die politische Rechte mit der privilegierten und korrupten Elite an, die sich nicht für das Wohl der ärmsten Bevölkerungsschichten einsetzt, sondern sich vielmehr der Anhäufung von Vermögen und Verteidigung ihrer eigenen Interessen und der ihrer engsten Vertrauten verschrieben hat. Nun muss dafür gesorgt werden, dass es zu Veränderungen kommt, die diesen Namen verdienen, und dass den Reden linker RegierungsvertreterInnen Taten zum Wohl der Bevölkerung folgen – und nicht Populismus, Demagogie und Autoritarismus, wie wir es ebenfalls erlebt haben.
Nicaragua ist ein Beispiel jener autoritär regierten Länder, die Kritik mit brutaler Willkür begegnen. Heute ist Nicaragua kein Paradebeispiel für eine Identifikation mit der Linken mehr, wie dies einmal der Fall war. Aktuell sitzen unzählige Menschen in Nicaragua im Gefängnis, weil sie sich gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo aufgelehnt haben; andere wurden ins Exil gezwungen. Die Unterdrückung und Gewalt, der unsere mittelamerikanischen Brüder und Schwestern ausgesetzt sind, ist schier grenzenlos. Es erfüllt uns mit Schmerz, sie so leiden zu sehen. Auch in vielen anderen Ländern wurde ein ähnlicher Weg eingeschlagen.
Zwischen Zweifel und Hoffnung
Es ist schwer vorherzusagen, was die lateinamerikanische Linke generell bewirken kann, denn obwohl ein Wandel angestrebt wird, ist die Politik nicht gefeit vor unerwarteten Ereignissen. Es liegt an uns, die von uns gewählten Regierenden zu beobachten und als engagierte und verantwortungsvolle BürgerInnen zu handeln. Selbstverständlich ist es nicht einfach, sich als Bürgerin, sozialer Aktivist oder Journalistin in Ländern zu engagieren, in denen Unterdrückung und Gewalt an der Tagesordnung sind und in denen unsere Menschenrechte und Verfassungsgarantien missachtet werden.
In meinem Heimatland Guatemala zum Beispiel, einem mittelamerikanischen Land mit über 17 Millionen EinwohnerInnen, ist die Angst unsere ständige Begleiterin, wenn wir das Wort gegen die korrupten Machthaber erheben oder uns für die Lebensräume und die Rechte der indigenen Gemeinschaften einsetzen.
Im März 2022 erfuhren wir von «Mining Secrets», einem Projekt, das vom Netzwerk «Forbidden Stories» in Zusammenarbeit mit 40 JournalistInnen aus der ganzen Welt koordiniert wurde und Umweltskandale von Bergbauunternehmen aufdeckte. JournalistInnen, die über Proteste der Bevölkerung gegen ein lokales Bergbauunternehmen, eine Tochtergesellschaft der in der Schweiz ansässigen und von russischen und estnischen Staatsangehörigen betriebenen Solway Group, informierten, wurden von den guatemaltekischen Behörden und Personen, die mit dem Unternehmen in Verbindung stehen, bedrängt.
«Forbidden Stories» wurden von einem Hackerkollektiv, das sich nach einer einheimischen Papageienart «Red Macaw» nennt, Hunderte von Dokumenten zugespielt. Die Unterlagen stammten offenbar von der Tochtergesellschaft der Solway Group und enthüllten, wie Journalistinnen und Journalisten, die über das Bergbauunternehmen berichteten, von den Sicherheitsdiensten des Unternehmens erfasst, überwacht und sogar verfolgt wurden.
Es stellte sich heraus, dass das Unternehmen einen Betrag für die Drohnenüberwachung der lokalen Bevölkerung und der JournalistInnen budgetiert hatte. Diese durchgesickerten Informationen zeichnen ein Bild von Strafffreiheit und Täterschutz. Die Missbräuche gegen die Presse, die Umwelt und die guatemaltekische Bevölkerung blieben ohne Folgen.
«Mining Secrets» enthüllte auch wissenschaftliche Studien und durch «grosszügige» Spenden des Unternehmens «gekaufte Freundschaften». Darüber hinaus wurde publik, welche Strategien die Mine anwandte, um Familien zu vertreiben und zu stigmatisieren, um sich so Zugang zu den Ferronickelvorkommen zu verschaffen, die sich unter deren Häusern befinden.
Zweifellos zwingen uns die Umweltkrise und die globale Erwärmung, unsere Lebensweise zu ändern und die Industriepolitik zu stoppen, welche die Umwelt und das Leben der Bevölkerung schädigt, die dadurch Risiken ausgesetzt ist. In Guatemala scheint man sich dieser Schäden jedoch noch nicht bewusst zu sein, und die Regierungen erteilen Lizenzen für die Fortsetzung unkontrollierter Bergbauaktivitäten, die früher oder später einen hohen Tribut fordern werden.
Die Integrität und das Leben von sozialen AktivistInnen, engagierten BürgerInnen und JournalistInnen sind ständig in Gefahr, weil öffentliches Anprangern, Aktivismus und wahrheitsgemässe und aktuelle Informationen das Vorgehen mächtiger Unternehmen aufdecken, die oft genug vom Staat selbst geschützt werden. Die Folge sind Überwachung und Drohgebärden, und nicht selten bezahlen diese Menschen ihr Engagement auch mit dem Leben.
Ein echter Wandel
Als BügerInnen des Globalen Südens haben wir die Kraft, weiter für unsere Anliegen zu kämpfen, und geben die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages Regierungen an der Macht sind, bei deren Sozialpolitik der Mensch im Mittelpunkt steht. Der Wechsel hin zu linken Regierungen spiegelt die Dringlichkeit und den Wunsch wider, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu überwinden, die rechte Regierungen, die für ihre Untätigkeit und Korruption berüchtigt sind, uns beschert haben.
Es bleibt zu hoffen, dass die linken Regierungen die von ihren Vorgängern geführte Politik umkehren werden, andernfalls ist eine weitere Enttäuschung für Millionen von Menschen auf dem Kontinent vorprogrammiert. Lateinamerika braucht fähige Machthaber mit transparenten und legitimen Strategien zur Transformation der Gesundheits-, Bildungs-, Ernährungs-, Sicherheits- und weiterer Systeme, damit sich die Veränderung auszahlt.
© Mariela Castañón
Die guatemaltekische Journalistin Mariela Castañón ist Professorin für Deontologie der Kommunikation an der Universität Rafael Landívar. Diesen Sommer war sie in der Schweiz und hat am Austauschprogramm von «En Quête d’Ailleurs (EQDA)» teilgenommen.
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Meinung
Sri Lankas «Kaiser ohne Kleider»
04.10.2022, Internationale Zusammenarbeit
Mitte Juli floh Präsident Gotabaya Rajapaksa wie ein gejagter Hund aus Sri Lanka, Anfang September ist er wieder zurückgekehrt. Über fast zwei Jahrzehnte haben er und seine Brüder die Geschicke im Land mit eiserner Faust bestimmt. Von Karin Wenger
Protestierende im Swimming Pool des Präsidentenpalastes in Colombo, nachdem sie diesen im Juli 2022 gestürmt hatten.
© KEYSTONE-SDA/EPA/CHAMILA KARUNARATHNE
Es sind Szenen der Wut und des Triumphs, die sich am 9. Juli 2022 in der Residenz von Sri Lankas Präsident Gotabaya Rajapaksa abspielen: Im Swimming Pool plantschen Menschen, andere tanzen auf dem Rasen vor der Villa oder machen Mittagsschlaf in Rajapaksas Himmelbett. Tausende sind in die Residenz eingedrungen und fordern lautstark den Rücktritt des Präsidenten. Ihn und seine Familie machen sie dafür verantwortlich, dass sich Sri Lanka in der schwersten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit von 1948 befindet.
Im Mai wurde das hochverschuldete Land erstmals zahlungsunfähig. Als Folge konnte die Regierung wichtige Importe wie Treibstoff, Medikamente und Kochgas nicht mehr bezahlen. Die Menschen mussten mit Holz kochen und sich stundenlang anstellen, um Treibstoff oder lebenswichtige Medikamente zu kaufen – falls sie welche fanden. Zehntausende strömten auf die Strasse, um gegen die Regierung zu protestieren und die Residenz von Gotabaya Rajapaksa zu stürmen. Der Präsident floh kurz darauf Hals über Kopf mit einer Armeemaschine auf die Malediven, dann nach Singapur, wo er seinen Rücktritt verkündete. Es war die Flucht eines Mannes und der Sturz einer Herrscherfamilie, die Sri Lanka für fast zwanzig Jahre wie ein Familienunternehmen regiert haben.
Kein Widerspruch geduldet
Die Arroganz der Rajapaksas erlebte ich 2010 am eigenen Leib. Damals war Gotabaya noch Verteidigungsminister mit Hang zu Wutausbrüchen und sein Bruder Mahinda seit 2005 Präsident, weitere Brüder besetzten wichtige Positionen in der Regierung. Mit grösster Brutalität hatten die Rajapaksas die Tamil Tigers im Mai 2009 vernichten lassen. Dabei töteten Regierungstruppen in den letzten Kriegsmonaten laut UNO schätzungsweise 40 000 tamilische ZivilistInnen. Die singhalesische Bevölkerungsmehrheit jedoch verehrte Präsident Mahinda und seinen Bruder Gotabaya weiterhin, schliesslich hatten sie den 26 Jahre dauernden Bürgerkrieg beendet, alles andere schien unwichtig.
Damals, im Januar 2010, war ich als Südasien-Korrespondentin von Radio SRF zu den Präsidentschaftswahlen nach Sri Lanka gereist.
Die Wiederwahl von Mahinda Rajapaksa stand so gut wie fest; trotzdem liess er alle, die ihn kritisierten, mundtot machen: Das Hotel, in dem sich sein politischer Herausforderer Sarath Fonseka befand, wurde mit Militär umstellt; kritische JournalistInnen verschwanden; Verteidigungsminister Gotabaya drohte, das Gebäude der Oppositionszeitung «Lanka» niederzubrennen. Als ich an einer Regierungspressekonferenz zwei kritische Fragen stellte, überreichte mir ein Hotelangestellter am gleichen Abend einen Brief der Regierung: Ich wurde des Landes verwiesen. Nur dank dem Druck internationaler Medien, die über die Ausweisung berichteten, machte die Regierung schliesslich eine Kehrtwende. Mahinda Rajapaksa höchstpersönlich lud mich zum Mittagessen ein.
So sass ich kurz nach den Wahlen mit dem wiedergewählten Präsidenten Mahinda Rajapaksa an einem langen, weiss gedeckten Tisch. Rajapaksa schlürfte seine Suppe und schmatzte seine Antworten ins Mikrophon. Fragen nach Menschenrechtsverbrechen seiner Regierung lachte er jovial weg und sagte stattdessen: «Ich will die Entwicklung meines Landes vorantreiben, das hat oberste Priorität. Ich habe alle Länder aufgefordert, in Sri Lanka zu investieren und ich will den Tourismus fördern.» Doch viele westliche Länder waren skeptisch und knüpften ihre Zusagen daran, dass die sri-lankische Regierung Menschenrechten endlich Achtung verschaffe. Solche Forderungen stellte China nicht und wurde so in den vergangenen Jahren zu einem der wichtigsten Kreditgeber des Landes. Mit chinesischen Krediten wurden teure Projekte finanziert, die dem Land wenig, dem Ego der Rajapaksas jedoch viel brachten.
Schlecht für Sri Lanka, gut für China
Mit einem chinesischen Darlehen von mehr als einer Milliarde US-Dollar liess die Regierung beispielsweise in Hambantota, der Heimatstadt der Rajapaksas im Süden des Landes, einen gigantischen Hochseehafen bauen. Westliche Mächte und Indien sorgten sich, dass China damit nicht nur seine wirtschaftliche, sondern auch seine militärische Macht im indischen Ozean ausbauen werde. Eine Sorge, die sich bewahrheitete: 2017 musste Sri Lanka den Hafen an China verpachten, weil die Regierung das milliardenschwere Darlehen nicht zurückzahlen konnte. Damals war Mahinda Rajapaksa bereits nicht mehr Präsident, er hatte die Wahlen 2015 verloren. Doch 2019 feierte die Rajapaksa-Familie ein politisches Comeback: Gotabaya wurde Präsident, sein Bruder Mahinda Premierminister. Im August, Wochen nachdem Gotabaya Rajakapsa aus dem Land geflohen war, legte die «Yuang Wang 5», ein militärisches Überwachungsschiff aus China, im Hafen Hambantota an. Für China hatte sich der Kredit ausgezahlt, für Sri Lanka nicht.
Die Entwicklung Sri Lankas, die Mahinda Rajapaksa bei unserem Mittagessen vor zwölf Jahren zu seiner höchsten Priorität erklärt hatte, erweist sich im Rückblick als Ausverkauf des Landes und Plünderungszug der Rajapaksa-Familie. Sie waren keine Herrscher für alle, sondern Kaiser ohne Kleider.
Karin Wenger war von 2009 bis 2016 Südasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu-Delhi und von 2016 bis 2022 Südostasien-Korrespondentin mit Sitz in Bangkok. Im Frühling hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. In den kommenden Monaten schreibt sie für «global» Kommentare über vergessene Konflikte und Ereignisse im Globalen Süden. www.karinwenger.ch
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Meinung
Wenn die Forschung koloniale Züge annimmt
05.12.2022, Internationale Zusammenarbeit
Im Rahmen der Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit werden die Länder des Südens mehrheitlich mit Forschungsgeldern und -konzepten aus dem Norden erforscht. Die Dekolonisation erfordert eine Korrektur der unausgewogenen Machtverhältnisse.
Die aktuellen globalen Herausforderungen im Zusammenhang mit der nachhaltigen Entwicklung bedürfen globaler Partnerschaften. Forschungszusammenarbeit, insbesondere Nord-Süd-Kooperationen, stellen Strategien und Politiken zur Bewältigung dieser Herausforderungen bereit. Durch diese Kooperationen können vielfältige Ressourcen und Netzwerke gebündelt werden, wodurch auf verschiedene Wissenssysteme zugegriffen werden kann. In der gängigen Praxis der Nord-Süd-Forschungskooperationen wird diese Vielfalt jedoch oft ignoriert. Dies schränkt die ForscherInnen bei der Suche nach angemessenen Lösungen für die globalen Herausforderungen ein.
Zusammenarbeit als kolonialer Akt
Nord-Süd-Forschungskollaborationen können dann koloniale Ausprägungen haben, wenn dadurch eine Abhängigkeit von den MitarbeiterInnen aus dem Norden entsteht. Diese Abhängigkeit, die oft mit unausgewogenen Machtverhältnissen einhergeht, beginnt mit der Herkunft und der Verwaltung der Mittel und setzt sich bei der Festlegung der Themen und der Ausarbeitung der Projektdokumente durch den Norden fort.
In dieser Zusammenarbeit kommt die Tendenz zur Unsichtbarkeit von ForscherInnen aus dem Süden und zu Wissensformen, die nicht dem gängigen Ansatz entsprechen, bisweilen einer Form der Kolonialisierung gleich. Die massgeblichen wissenschaftlichen Wissensformen und -praktiken sind a priori diejenigen, die im Norden entstehen und als universell akzeptabel gelten.
Wie können Forschungskooperationen dekolonisiert werden?
Die Dekolonisation der Forschungszusammenarbeit ist ein fortlaufender Prozess, der sowohl die Zusammenarbeit als auch die Wissensproduktion betrifft. Dekolonisation bedeutet, dass alle Arten von Diskriminierung beseitigt werden, indem verschiedene Perspektiven berücksichtigt und Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden – beginnend damit, die vergangenen und aktuellen Praktiken der Kolonisierung zu verstehen. Zweitens setzt eine dekolonisierte Zusammenarbeit voraus, dass mit den MitarbeiterInnen eine Kultur des Zuhörens, der Selbstreflexion und der Chancengleichheit gepflegt wird. Schliesslich erfordert die Dekolonisation eine Neuausrichtung der Zusammenarbeit in der Zukunft.
Sich der Privilegien und Hürden bewusst werden
Die WissenschaftlerInnen einer Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit müssen sich ihrer Privilegien und der bestehenden Hürden bewusst werden. Unausgewogene Machtverhältnisse herrschen insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen, der Gleichberechtigung und der Wissensproduktion. Die ForscherInnen aus dem Norden sind näher an der Quelle und der Verwaltung von Forschungsgeldern sowie an den Entscheidungsgremien. Im Rahmen der meisten Nord-Süd-Forschungskooperationen erforschen gemischte Teams aus dem Norden und Süden die Länder des Südens. Die ForscherInnen aus dem Norden haben somit das Privileg, im und über den Süden forschen zu können.
Die Forschung im und über den Norden zu Themen, die den Süden betreffen, ist jedoch hauptsächlich ForscherInnen aus dem Norden vorbehalten. Aus diesen Projekten wird die Zusammenarbeit mit WissenschaftlerInnen aus dem Süden mehrheitlich ausgeklammert. Selbst ForscherInnen aus dem Süden, die im Norden arbeiten, haben kaum Zugang zu leitenden Forschungsfunktionen.
Eine Bewusstseinsbildung über diese Privilegien ermöglicht es, diese hinter sich zu lassen und die strukturellen Hindernisse für Chancengleichheit, Ressourcenzugang und Entscheidungsfindung abzubauen. Auch wenn die MitarbeiterInnen unterschiedliche Ausgangslagen haben, sollte sich niemand in die Rolle des Bittstellers gedrängt fühlen; jeder und jede sollte Verantwortung übernehmen dürfen. Verhandelte Lösungen, Mitbestimmung auf allen Ebenen sowie Leidenschaft bilden die Grundlage für eine echte und bedeutungsvolle Zusammenarbeit für ForscherInnen aus beiden Weltregionen.
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Meinung
Würzige Weltpolitik auf der Karibikinsel Grenada
16.01.2023, Internationale Zusammenarbeit
Gewürzinsel wird die kleine Karibikinsel Grenada auch genannt. Früher kämpften Franzosen und Engländer gleichermassen um die Insel. Heute streiten sich andere Mächte darum, mehr Einfluss auf Grenada und damit in der Welt zu bekommen. Von Karin Wenger
Carib’s Leap oder Leapers Hill heisst die Klippe im Norden von Grenada, von der sich die Caribs, die letzten verbleibenden UreinwohnerInnen, 1651 in den Ozean stürzten. Wo damals Dschungel und Busch gewesen sein muss, steht heute eine Kirche und eine Gedenktafel. Cutty, ein lokaler Tourguide, hat mich hergeführt. Jetzt zeigt er auf das tosende Meer weit unter uns und sagt: «Die Caribs bevorzugten den sicheren Tod vor der Gefangennahme und Unterjochung durch die französischen Kolonialherren.»
Wie es zum fatalen Sprung kam, ist schnell erzählt: Während Christopher Columbus 1498 noch an Grenada vorbeigesegelt war, erkannten die Franzosen die Schätze der Insel und wollten sie ihr Eigen nennen. Für ein paar Messer, Glasperlen und Schnaps kauften sie den Caribs Land ab. Doch die InselbewohnerInnen bereuten das Geschäft kurz darauf, griffen das französische Fort mit Pfeilen und Bogen an und versuchten die Franzosen von ihrer Insel zu vertreiben. Die Franzosen, ausgestattet mit Kanonen und Feuerkraft, trieben die Caribs zurück und drängten sie bis in den Norden, bis an den Rand der Klippe, in den Tod.
Koloniale Vergangenheit
Die kleine Karibikinsel Grenada ist heute für viele BesucherInnen nicht mehr als ein Tagesausflug auf einer Kreuzfahrt – Wasserfälle werden besichtigt, Muskatnuss, Vanille, Zimt und Rum gekauft und dann geht es zur nächsten Sonnendestination. Vergessen ist die koloniale Vergangenheit von Grenada und den anderen Karibikinseln. Vergessen das blutige Erbe der Europäer, die damals noch Grossmächte waren und sich die Welt untereinander aufteilten. So wechselten sich auf Grenada Franzosen und Briten an der Macht ab. Im späten 18. Jahrhundert schafften die Briten eine grosse Zahl von SklavInnen aus Afrika nach Grenada und zwangen sie, auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Heute sind über 80 Prozent der Bevölkerung direkte Nachfahren dieser SklavInnen. Es waren auch britische Handelsleute, die Mitte des 19. Jahrhunderts Muskatnüsse aus Indonesien nach Grenada brachten und sie hier anzupflanzen begannen.
Grenada produziert heute zwanzig Prozent aller Muskatnüsse weltweit und ist damit nach Indonesien der weltweit zweitwichtigste Muskatnussproduzent. «Die EuropäerInnen kommen heute wegen unserer Gewürze, unserer Muskatnüsse. Die europäische Kolonialherrschaft ist längst vorbei, heute sind es andere, die um uns kämpfen und uns zu kolonialisieren versuchen», sagt Cutty und zeigt auf das Cricket-Stadion, bei dem wir inzwischen angekommen sind und das chinesische Arbeiter mit chinesischem Geld 2005 zu bauen begannen. «Wir nennen das chinesisches Schmiergeld. Von China finanzierte Projekte, damit wir bei den Vereinten Nationen für China und gegen Taiwan stimmen.»
Kalter Krieg
Heute wie gestern und vorgestern steht Grenada im Zentrum des geopolitischen Gezänks, wird als Spielball von den Grossmächten hin und her gekickt. Nicht mehr Frankreich und England stehen dabei in den Stürmer-Positionen, sondern China und die USA. China wagt sich bei diesem Spiel immer mehr in den amerikanischen Hinterhof, zu dem mehrere der Karibikstaaten gehören, auch Grenada. Noch heute erinnern zwei Flugzeugswracks auf dem alten Flughafen daran, wie wichtig Grenada im Kalten Krieg für die USA war. Damals, am 25. Oktober 1983, eine Woche nach einem Militärputsch auf der Insel, schickte Ronald Reagan 8’000 amerikanische Soldaten nach Grenada. Offiziell sollten sie die amerikanischen Studierenden an der St. George’s University schützen, aber eigentlich ging es schon damals um etwas anderes. Es war Kalter Krieg, Reagan fürchtete, dass die Putschisten sich auf die Seite Kubas schlagen würden, deshalb setzten die US-Soldaten die Putschisten ab und eine zivile, US-freundliche Regierung übernahm die Macht.
Verkauf an China
China schickt nicht Soldaten, sondern Geld und Arbeiter und versteckte Diplomaten. Das Cricket-Stadion wurde 2007 fertig gebaut. Zur Einweihung reiste der chinesische Botschafter an, doch statt der chinesischen Nationalhymne spielte das Polizei-Orchester von Grenada die taiwanesische Nationalhymne… ein Irrtum und politischer Fehltritt, der dem Chef des Orchesters den Posten kostete. Trotz kurzer politischer Verschnupftheit folgten auf den Stadion-Bau weitere chinesische Projekte: Wohnsiedlungen, Landwirtschaftshilfe und zurzeit baut Grenada mit einem chinesischen Kredit von mehr als 60 Millionen US-Dollar den neuen Flughafen aus. Tourguide Cutty ist besorgt, dass China sich einfach Land oder den Flughafen aneignen wird, falls Grenada den Kredit nicht zurückzahlen kann – denn reich ist die Inselnation nicht.
Diplomat in fremden Diensten
Verkauft sich Grenada gerade selbst? Zumindest sah es bis vor kurzem so aus. So verkauft Grenada auch Staatsbürgerschaften. Durch das Programm «Grenada Citizenship by Investment» können sich AusländerInnen seit 2016 für mindestens 150'000 US-Dollar legal die grenadische Staatsbürgerschaft kaufen und damit beispielsweise visumsfrei in den Schengenraum einreisen. So ist auch der Chinese Yuchen (Justin) Sun grenadischer Staatsbürger geworden – und mehr. Der weltbekannte chinesischstämmige Krypto- und Blockchain-Unternehmer wurde im vergangenen Dezember von Grenada zum Botschafter und Ständigen Vertreter des Landes bei der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf ernannt. Dass dabei nie ganz klar ist, welche Interessen – seine persönlichen Geschäftsinteressen, chinesische oder grenadische Staatsinteressen – er vertritt, schien die Regierung von Grenada nicht zu stören. Auch nicht, dass in den USA diverse Klagen gegen Sun hängig sind, unter anderem wegen Geldwäscherei, Verstoss gegen Vorschriften der Börsenaufsicht und der Steuerbehörden. Die Schweiz verweigert Sun seit seiner Ernennung zum Vertreter Grenadas bei der WTO die Legitimationskarte, da er private Geschäfte mit Diplomatie vermenge. Damit entfallen seine diplomatische Immunität, das Aufenthaltsrecht in der Schweiz und auch ein möglicher Hauskauf in der Schweiz. Dabei ist Sun in der Diplomatenwelt Grenadas kein Einzelfall: Dutzende von Chinesen reisen als Diplomaten des kleinen Inselstaates durch die Welt – laut verschiedenen Medienberichten haben sie alle ihre Diplomatenpässe gekauft. Grenada zeigt sich im Gegenzug China-freundlich, verpflichtete sich zur Ein-China-Politik und brach die Beziehungen zu Taiwan ab.
Neue Regierung, neue Hoffnung
In Grenada scheinen viele keine Lust mehr zu haben, dass die eigene Regierung ihren kleinen Karibikstaat verkauft, damit die Grossmächte ihre geopolitischen Spiele mit der Insel treiben können. Wohl auch deshalb wurde bei den Wahlen Ende Juni 2022 Premierminister Keith Mitchell abgewählt. Der 75-jährige Politiker sass 23 Jahre lang an den Schalthebeln der Macht und hatte Grenada zunehmend wie ein Familienunternehmen regiert. Es scheint ein universelles Prinzip zu sein, dass, wer zu lange an der Macht ist, gierig wird. Der neue Premierminister, Dickon Mitchell, versprach, Korruption zu bekämpfen und kündigte an, den Verkauf von Diplomatenpässen an AusländerInnen zu unterbinden. Touristenführer Cutty sagt: «Mitchell ist unser Hoffnungsträger und der beste Anwalt der Insel.» Der 44-Jährige will sich nun für die Interessen seiner Heimat und aller BewohnerInnen einsetzen. Bereits hat er angekündigt, er werde alle Botschafter abberufen und neue politische Akzente setzen. Bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im September setzte er einen ersten Fokus: Klimawandel. Die chinesischen Diplomaten, die bislang im Dienste Grenadas zu stehen vorgaben, müssen sich nun wohl nach einer neuen Aufgabe umsehen.
Karin Wenger
Die Autorin: Karin Wenger
Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu-Delhi und Bangkok. Im Frühling hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit Sommer segelt sie über die Weltmeere und schreibt über vergessene politische Ereignisse und Konflikte im globalen Süden. Mehr Informationen finden Sie hier www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
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