Meinung

Unternehmen statt NGOs

03.07.2019, Entwicklungsfinanzierung

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA senkt die Bundesbeiträge an einzelne bisherige Partnerorganisationen deutlich. Ein weiterer Mosaikstein beim Umbau der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit.

Unternehmen statt NGOs

Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit soll ab 2021 mehr Partnerschaften mit Schweizer Unternehmen eingehen. Darunter leiden die bewährten Partnerschaften mit Schweizer Hilfswerken. Anfang Juli hat die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA bekannt gegeben, dass die Bundesbeiträge an einzelne bisherige Partnerorganisationen deutlich gesenkt werden sollen.

Bundesrat und Verwaltung streben eine Neuausrichtung der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe an. In der laufenden Vernehmlassung zur internationalen Zusammenarbeit ab 2021 schlagen sie eine engere Verknüpfung mit innenpolitischen und aussenwirtschaftlichen Interessen vor. Vorgesehen ist vor allem auch ein Ausbau der Partnerschaften der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA mit Schweizer Unternehmen und anderen Wirtschaftsakteuren.

Die bewährten DEZA-Partnerschaften mit Schweizer Hilfswerken sollen nach 2021 ebenfalls weitergeführt werden. Hier ist allerdings kein Ausbau geplant. Im Gegenteil: Wie die DEZA Anfang Juli mitgeteilt hat, sollen die Programmbeiträge an Schweizer NGOs eingeschränkt und neuverteilt werden. Konkret will die DEZA die Bundesbeiträge an die internationalen Entwicklungsprogramme der Schweizer Hilfswerke deutlich senken – von aktuell 50% auf neu 30% (für Einzelorganisationen) bzw. 40% (für Allianzen und Dachorganisationen). Zudem will sie eine neue Obergrenze von 8 Millionen Franken einführen.

Für viele betroffenen Organisationen bedeutet dieser Entscheid, dass sie auf verschiedene Entwicklungsprojekte in benachteiligten Ländern verzichten und sich teilweise sogar vollständig aus bisherigen Partnerländern zurückziehen müssen. Das ist umso bedauerlicher, als dass die betroffenen Organisationen mit ihrer langjährigen Expertise erwiesenermassen einen massgeblichen Beitrag zur Armutsbekämpfung und zur globalen nachhaltigen Entwicklung leisten.

Erfreulich ist, dass die DEZA auch in Zukunft nur mit solchen NGOs Partnerschaften eingehen will, die allerhöchste Qualitätskriterien erfüllen und das ZEWO-Zertifikat vorweisen können. An welchen Kriterien sich die geplanten neuen DEZA-Partnerschaften mit Unternehmen und anderen Wirtschaftsakteuren messen lassen sollen, ist hingegen noch offen. Die Vernehmlassungsunterlagen zur internationalen Zusammenarbeit des Bundes ab 2021 machen hierzu leider keine verbindlichen Angaben.

Meinung

Noble Absichten, verkürzte Sicht

09.12.2019, Internationale Zusammenarbeit

Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer, die diesjährigen TrägerInnen des Wirtschaftsnobelpreises, entbinden mit ihren Konzepten die Industrieländer von jeglicher politischen Verantwortung.

Noble Absichten, verkürzte Sicht

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Dieses Jahr teilen sich Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer den prestigeträchtigen Wirtschaftsnobelpreis. Ihre Forschung zeigt, dass gut gemachte Entwicklungszusammenarbeit Armut und Not erfolgreich zu bekämpfen vermag. Banerjee und Duflo betonen in ihrem bekannten Buch “Poor Economics”, dass es dafür keine abstrakten Theorien und erst recht keine vermeintlich allgemeingültigen Patentrezepte braucht. Verlangt ist vielmehr eine genaue Kenntnis der konkreten Lebenssituation und der kulturell geprägten Präferenzen der Armutsbetroffenen.

Richtig und wichtig ist die Forderung der drei PreisträgerInnen, die Entwicklungszusammenarbeit müsse ihre Aktivitäten immer wieder kritisch überprüfen und kontinuierlich verbessern. Ihre Präferenz für experimentelle Wirkungsanalysen ist allerdings moralisch problematisch. Werden zufällig ausgewählte Kontrollgruppen miteinander verglichen (randomized controlled trials, RCT), so schliesst man die zufällig ausgewählten Personen bewusst von Entwicklungsprojekten aus und misst, ob es ihnen nach der Testphase schlechter geht. Ausserdem ist methodologisch umstritten, ob sich die Ergebnisse solcher Experimente beliebig auf andere gesellschaftliche Kontexte übertragen lassen. Die Gefahr ist, dass Geld, das sonst direkt der Armutsbekämpfung zugutekäme, in aufwändige Vergleichsstudien fliesst, deren Befunde anderswo dann doch nicht gelten.

Auf die Frage, wie die langfristige gesellschaftliche und politische Wirkung von Entwicklungsprogrammen gemessen werden kann, die zur Selbstermächtigung der Partner beitragen, geben die sogenannten „Randomistas“ keine befriedigende Antwort. Sie konzentrieren sich in ihrer Forschung auf Projekte, die rasche Resultate produzieren oder bestenfalls mittelfristig wirken. Dauerhafte systemische Veränderungen, die überhaupt erst die Bezeichnung „Entwicklung“ verdienen, kommen darin klar zu kurz.

Vor allem aber entbinden die drei ForscherInnen die Industrieländer von jeglicher politischen Verantwortung. Sie suggerieren, effiziente Entwicklungszusammenarbeit könnte ohne weiteres Zutun die Welt retten. Eine nachhaltige globale Entwicklung im Sinne der UNO-Agenda 2030 verlangt aber von den Industrieländern nicht nur wirksame und ausreichend finanzierte Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch eine gerechte Handelspolitik, beherzte Schritte gegen den Klimawandel und griffige Massnahmen gegen die Gewinnverschiebungen und Steuervermeidungspraktiken multinationaler Konzerne.

Meinung

Alliance Sud, Kuba und der Privatsektor

29.04.2020, Internationale Zusammenarbeit

Unsere Analyse zu den Entwicklungsfolgen der Covid-19-Pandemie ist auf Zustimmung und breites Interesse gestossen. Und hat eine harsche Kritik provoziert. Eine Klärung.

Alliance Sud, Kuba und der Privatsektor

Franklin Frederick moniert in einem auf verschiedenen internationalen Webseiten in mehreren Sprachen veröffentlichten Beitrag, Alliance Sud habe es in ihrer Analyse verpasst, auf die wichtigen internationalen Solidaritätsleistungen Kubas hinzuweisen. Frederick wertet das als krasse – politische motivierte – Fehlleistung. Das kann nicht unwidersprochen bleiben, denn weder die Leistungen noch die Versäumnisse einzelner Staaten in der Coronakrise waren das Thema unseres Beitrags.

Unverständlich ist Fredericks Behauptung, für Alliance Sud verdiene «Kuba offensichtlich keine Schweizer Solidarität». Das ist falsch. Oder müssten wir umgekehrt aus Fredericks Artikel schliessen, dass ihm die notleidenden Bevölkerungen in Bangladesch, Haiti oder den ärmsten afrikanischen Entwicklungsländer egal sind, weil er sie seinerseits nicht erwähnt hat? Davon gehen wir nicht aus, schon gar nicht, ohne uns vorgängig direkt bei ihm zu erkundigen.  

Noch dreister sind die Behauptungen, Alliance Sud erwarte – im Gleichschritt mit den Schweizer Banken und der Deza – vom Privatsektor angemessene Lösungen auf die Pandemie und werde eine konstruktive Diskussion zur Rolle des öffentlichen Sektors in der gesellschaftlichen Entwicklung zu verhindern versuchen. Das sind derart krasse Fake News, dass sie fast sprachlos machen.

Alliance Sud setzt sich für eine nachhaltige globale Entwicklung ein, die selbstverständlich nicht auf dem hyperglobalisierten fossilen Entwicklungsmodell beruhen kann, das der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und zahlreiche andere Handlanger des Neoliberalismus den Entwicklungsländern über Jahrzehnte hinweg diktiert haben. Sie trägt die Konzernverantwortungsinitiative mit und kämpft gegen die Steuerflucht multinationaler Konzerne, die den Entwicklungsländern essentielle Mittel für die Finanzierung der öffentlichen Bildungs- und Gesundheitsversorgung entzieht. Sie wehrt sich gegen ein Freihandelsregime, das die Menschenrechte und die Ökologie vernachlässigt und Konzernen mehr Rechte einräumt als den betroffenen Bevölkerungen.

Wer sich für die tatsächliche Haltung von Alliance Sud zu diesen Themen interessiert, ist herzlich eingeladen, unsere Website zu besuchen. Aufschlussreich ist beispielsweise dieser kritische Artikel zur Rolle des Privatsektors in der gesellschaftlichen Entwicklung und der internationalen Zusammenarbeit. Für einen kritischen Dialog zu den politischen Positionen von Alliance Sud sind wir offen; denunziatorische Polemik, die Fehlinformationen über unsere Organisation verbreitet, ist einer solidarischen Politik im Interesse der Ärmsten jedoch nicht zuträglich.

Meinung

Die Schweiz braucht eine starke Zivilgesellschaft

24.03.2021, Internationale Zusammenarbeit

Mehr denn je braucht es heute eine starke Zivilgesellschaft − für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit, für entwicklungsfördernde Spielregeln in der Weltwirtschaft und für eine lebendige Demokratie.

Die Schweiz braucht eine starke Zivilgesellschaft
Hochwertige Bildung und Architektur an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Seit 2004 befindet sich die Bibliothek an der Rämistrasse 74 in dem vom spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava umgestalteten Innenhof.
© Marc Latzel / 13 Photo

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Kurz vor der Frühlingssession kam sie doch noch, die Liebeserklärung des Bundesrats an die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In seiner ablehnenden Antwort auf eine Motion von FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann, die dem Bund Partnerschaften mit politisch engagierten Entwicklungsorganisationen verbieten würde, schrieb der Bundesrat: «Schweizer NGOs leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Umsetzung der internationalen Zusammenarbeit (IZA)». Und: «Eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft gehört zur politischen Kultur der Schweiz.» Gleichzeitig bekräftigte er die verschiedenen Vorteile der Zusammenarbeit mit NGOs: langfristiges Engagement, Expertise, breite Verankerung und Vertrauensbasis in der Bevölkerung, Vernetzung, Förderung von Freiwilligenarbeit und die Sensibilisierung für eine nachhaltige Entwicklung.

Alles nur Lippenbekenntnisse? Just die wichtige Sensibilisierungsarbeit für die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele für die nachhaltige Entwicklung hat das Aussendepartement eingeschränkt. Programmbeiträge der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) dürfen seit diesem Jahr nicht mehr für Bildung und Sensibilisierung im Inland eingesetzt werden. Das ist unverständlich, denn neben dem Entwicklungshilfeausschuss der OECD warnen zahlreiche Persönlichkeiten und Organisationen seit Jahren, dass das Verständnis für globale Zusammenhänge und entwicklungspolitische Herausforderungen in der Schweizer Öffentlichkeit immer noch ungenügend sei. Auch deshalb werden NGOs weiterhin in die Bildungsarbeit und Sensibilisierung investieren, müssen jetzt aber ohne Unterstützung durch den Bund auskommen.

Ungeachtet der politischen Angriffe auf NGOs im Parlament können wir zuversichtlich sein: Mit der Konzernverantwortungsinitiative hat die Schweizer Zivilgesellschaft eindrücklich gezeigt, wie viel Wirkung sie in der Öffentlichkeit erzielen kann. Der Abstimmungskampf wurde nicht durch staatliche Gelder ermöglicht, sondern durch die Unterstützung von Tausenden von engagierten und gut informierten Freiwilligen in der ganzen Schweiz.

Diese Erkenntnis sollte uns auch in Zukunft begleiten, zum Beispiel wenn es um den Kampf für mehr Klimaschutz oder Impfgerechtigkeit geht. Gemeinsam kann die Zivilgesellschaft viel erreichen, auch wenn oft mehrere Anläufe notwendig sind, wie etwa bei der späten Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz vor 50 Jahren. Mehr denn je braucht es heute eine starke Zivilgesellschaft − für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit, für entwicklungsfördernde Spielregeln in der Weltwirtschaft und für eine lebendige Demokratie.

Global, Meinung

Die Macht der Bildung

22.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Joyce Ndakaru möchte, dass den Maasai-Frauen zugehört wird und sie nicht länger als Eigentum der Männer behandelt werden. Ihre persönliche Geschichte zeigt, dass dies keine Utopie bleiben muss.

Ich bin in einer sehr traditionellen Maasai Boma aufgewachsen, in der die Männer das Sagen hatten und die Aufgaben verteilten. Als kleines Mädchen, noch keine 6 Jahre alt, musste ich die Kühe und Ziegen melken, Brennholz sammeln und das Haus fegen, das Geschirr spülen und auch Essen zubereiten. Von etwa 8 bis 12 Jahren, als heranwachsendes Mädchen, das bald Mutter wird, bereitet man sich darauf vor, verheiratet zu werden. So kommen neue Aufgaben hinzu. In dieser Zeit beginnen die Mädchen, Kühe zu hüten und deftige Mahlzeiten zuzubereiten. Auch sind sie immer noch für das Sammeln von Brennholz zuständig.

Jungen hingegen melken nicht, kochen nicht und fegen nicht, denn sie sind Männer. Sie aber kümmern sich um die Ziegen. Sie sammeln auch Steine und stellen sich vor, diese seien ihre Kühe oder sie spielen «Heiraten». Auf diese Weise bereiten sie sich auf ihre Zukunft als mächtige Männer mit grossen Kuhherden vor. Mädchen hingegen haben keine Zeit zum Spielen, ja es wird sogar als Schande angesehen, wenn ein Mädchen beim Spielen ertappt wird. Als Kind wusste ich natürlich noch nichts von Kinderrechten und deshalb hielt ich das nicht für ungerecht. Das wurde mir erst viel später im Leben bewusst.

Ich hatte das Glück, zur Schule gehen zu dürfen. Ich durfte aber nicht deshalb in die Schule, weil ich von meinen Eltern geliebt wurde, sondern vielmehr als Strafe, weil ich nicht sehr gut im Melken und im Ziegenhüten war. Ich hatte Angst, dass die Kühe mich treten würden, und wenn ich Ziegen hüten musste, liefen mir immer ein paar davon. Auch das Sammeln von Brennholz gefiel mir nicht und ich musste dabei häufig weinen. Also beschloss mein Vater, mich zur Schule zu schicken, um mir Disziplin beizubringen. Er dachte, wenn ich den Lehrern gehorchen müsse und körperliche Züchtigung erfahre, würde ich zu einem besseren Kind. Mir aber gefiel die Schule sehr und ich war eine ausgezeichnete Schülerin. Von der 3. bis zur 7. Klasse war ich stets Klassenbeste. Mein Vater hatte jedoch nie vor, mich auf die Sekundarschule zu schicken; er hielt die Primarschule für Strafe genug. Als ich die Primarschule abschloss, hatte er schon etliche Heiratsangebote für mich erhalten; tatsächlich hatte er auch schon einen Mann für mich ausgesucht. Er war älter als er selbst (etwa 60-jährig).

Ich stand also kurz davor, verheiratet zu werden, als etwas geschah, was ich als Gnade Gottes bezeichne. Vertreter der Maasai Girls Lutheran Secondary School gingen zu jenem Zeitpunkt in die Maasai-Dörfer und hielten nach armen Maasai-Mädchen Ausschau, die Gefahr liefen, verheiratet zu werden. Sie luden mich und einige Maasai-Mädchen aus anderen Dörfern ein, eine schriftliche Prüfung abzulegen. Wiederum schnitt ich sehr gut ab und wurde als Einzige aus der Gruppe ausgewählt, auf die Sekundarschule zu gehen. Geplant war eigentlich, mehr als ein Mädchen für die Sekundarschule auszuwählen, aber ich bestand als Einzige die Prüfung. Die anderen Mädchen fielen aber nicht durch, weil sie nicht intelligent genug gewesen wären, sondern weil ihre Familien sie entsprechend angewiesen hatten. Auch mir wurde gesagt, ich solle bei der Prüfung durchfallen und ich hatte meiner Familie versprochen, nur unleserliche Dinge aufzuschreiben. Am Ende aber hielt ich mein Versprechen nicht, während die anderen Mädchen das ihrige hielten.

Nachdem ich die Prüfung bestanden hatte, fragten mich die Lehrer: «Glaubst du, deine Eltern werden dir erlauben, auf die Sekundarschule zu gehen?» Ich fühlte mich in meiner Haut sehr unwohl, als ich mit leiser Stimme antwortete: «Nein, ich glaube nicht, dass meine Eltern mir das erlauben würden. Können Sie mir helfen?» Also kamen sie mit mir in mein Dorf, um meiner Familie mitzuteilen, dass ich auf die Sekundarschule gehen dürfe. Ich hatte grosse Angst und dachte, dass meine Eltern mich umbringen würden, weil ich mich daran erinnerte, dass die Grundschullehrer mich gebeten hatten, den Namen meiner kleinen Schwester aufzuschreiben, damit sie in der Schule eingeschrieben werden konnte. Als mein Vater herausfand, was ich getan hatte, bestrafte er mich und jagte mich aus dem Haus. Meine Schwester durfte nie zur Schule gehen und hat bis heute ein sehr hartes Leben.

Jedenfalls erzählten die Lehrer und ich meiner Familie, dass ich die Prüfung bestanden hatte. Sie waren sehr wütend auf mich und sagten mir, ich sei eine Schande für meine Familie, würde meine Gemeinschaft nicht achten und hätte meine Kultur verraten. Ich versuchte, sie zu beschwichtigen, doch schliesslich sagte mein Vater, ich sei nicht mehr sein Kind, und sie rissen mir all meinen Maasai-Schmuck vom Leib und liessen mich gehen. Meine Mutter durfte nichts sagen, weil sie eine Frau ist und nichts zu entscheiden hat.

Mit leeren Händen ging ich zur Schule und lebte dort mehrere Jahre lang, ohne dass mich je jemand besuchte. Ich konnte auch meine Familie nicht besuchen, da mein Vater mich mit Sicherheit verheiratet hätte, wenn ich nach Hause gegangen wäre. Mein Vater brauchte viel Zeit, um zu akzeptieren, dass ich nicht nach Hause kommen würde, aber nach ein paar Jahren kam er mich in der Schule besuchen. Sie hätten beschlossen, dass ich die Sekundarschule abschliessen dürfe, sagte er mir und bat mich, in den Schulferien nach Hause zu kommen. Er versprach mir, dass ich nicht heiraten müsse. Obwohl sie ihr Versprechen hielten und mich nicht verheirateten, taten sie alles, um mich davon abzubringen, zur Schule zurückzukehren. Sie erzählten mir, dass meine Klassenkameradinnen inzwischen alle mehrere Kinder, ihr eigenes Zuhause und eine eigene Familie hätten und dass ich verloren sei und nicht einmal mehr meine Kultur kennen würde. Obwohl sie meinen Namen jedes Jahr in der Zeitung lesen konnten, da ich Jahr für Jahr als Klassenbeste erwähnt wurde, setzten sie mich weiter unter Druck und unterstützten mich auch finanziell nicht.

Dank eines anonymen Spenders konnte ich die Sekundarschule abschliessen. Danach wusste ich nicht, was ich tun sollte, denn es wird erwartet, dass einem die Familie nach der Sekundarschule durch die Universität hilft. Wieder hatte ich grosses Glück, denn Reginald Mengi, der ehemalige Besitzer von IPP News, war als Ehrengast bei unserer Abschlussfeier anwesend. Während seiner Rede fragte er, wie viele von uns gerne an die Universität gehen würden, um Journalismus zu studieren. Ich und einige andere hoben die Hand, ohne zu wissen, was er vorhatte. Er notierte sich unsere Namen und bezahlte dann unsere Studiengebühren. Mit seiner Unterstützung habe ich es dorthin gebracht, wo ich heute stehe: Ich bin Hochschulabsolventin, Programmbeauftragte mit über neun Jahren Erfahrung, die ich bei verschiedenen NGOs in Tansania gesammelt habe, Gender-Aktivistin, verantwortungsbewusste Mutter und ein Vorbild für meine Familie und die Maasai-Gemeinschaft, vor allem für die Frauen.

Heute sind mein Dorf und meine Familie stolz auf mich. Meine ehemaligen Klassenkameradinnen, die inzwischen Grossmütter sind, weil sie alle mit 12 oder 13 Jahren verheiratet wurden, bewundern mich. Damals lachten sie mich aus und warfen mir vor, meine Eltern nicht zu respektieren; aber jetzt wünschen sie sich alle, sie wären auch zur Schule gegangen. Sie sagen mir, dass ich grosses Glück habe, für mich selbst sorgen zu können, während sie gänzlich auf ihre Männer angewiesen sind. Sie sagen mir sogar, dass ich wegen meines Lebensstils viel jünger aussehe als sie. Viele schicken jetzt ihre Kinder zur Schule, sehen mich und einige andere, die es weit gebracht haben, als Vorbilder und sagen ihren Kindern, sie sollen unserem Beispiel folgen. Sogar mein Vater ist jetzt sehr stolz auf mich. Ich schicke ihm Geld und unterstütze auch meine Geschwister und andere Familienmitglieder. Obwohl keine der anderen Töchter meines Vaters nach mir zur Schule gehen durfte, schicken nun einige meiner Brüder ihre Mädchen zur Schule.

Langsam ändern sich die Dinge, auch wenn viele der Mädchen, die jetzt zur Schule gehen, am Ende immer noch heiraten und ein traditionelles Leben führen; aber wenn man sie anschaut, kann man doch einige Unterschiede erkennen. Sie sind klug, sie kümmern sich besser um ihre Kinder und kochen gesünderes Essen. Einige Männer erkennen den Wert einer Frau mit einer guten Bildung. Ich wünsche mir einfach, dass alle Massai aufgeklärt werden und ihre Jungen und Mädchen zur Schule schicken und erkennen, dass es nichts Schlechtes ist, wenn sie ihren Töchtern erlauben, zur Schule zu gehen, und dass dies sie nicht davon abhält, Massai zu sein. Ich träume davon, eine NGO namens «Maasai Women's Voice» zu gründen, um den marginalisierten Maasai-Frauen eine Stimme zu geben, die seit vielen Jahren unterdrückt werden. Ich möchte eine Plattform schaffen, wo ihre Meinung und ihre Stimme wertgeschätzt werden. Ich möchte, dass den Frauen zugehört wird und sie nicht länger als Eigentum der Männer behandelt werden.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Meinung

Konstante Veränderung

24.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Der letzte «global»-Auftakt von Mark Herkenrath als Geschäftsleiter von Alliance Sud.

Konstante Veränderung

© Daniel Rihs / Alliance Sud

Die einzige Konstante im Leben, so lehrte Heraklit, ist die Veränderung. Trotzdem ist es schon fast 13 Jahre her, dass ich meine erste Stelle bei Alliance Sud antrat. Nun ist aus familiären Gründen die Zeit gekommen, um Abschied zu nehmen – ein guter Moment, um gleichzeitig zurück und vorwärts zu schauen.

Als ich 2008 bei Alliance Sud die Fachverantwortung für das Dossier «Steuerpolitik» übernahm, glaubte Finanzminister Hans-Rudolf Merz noch, das Schweizer Bankgeheimnis sei so unverrückbar wie das Gotthardmassiv. Steuerhinterzieher und korrupte Potentaten aus Entwicklungsländern, die ihre Vermögen in der Schweiz verstecken wollten, hatten freie Bahn. Dann kam die globale Finanz- und Wirtschaftskrise: Sie gab vielen der Millenniums-Entwicklungsziele, die bis 2015 hätten erfüllt sein sollen, den Dolchstoss; dafür brachte sie Bewegung in den Kampf gegen die Steuerflucht.

Plötzlich waren auch die mächtigen Industrieländer daran interessiert, gegen Steuersünder vorzugehen. Sie brauchten dringend mehr Staatseinnahmen, um ihre milliardenschweren Rettungspakete für die Banken zu finanzieren. Alliance Sud musste allerdings jahrelang weiterkämpfen, bis die Schweiz den automatischen Informationsaustausch in Steuerfragen endlich auch auf die Entwicklungsländer ausdehnte. Gegen die unseligen Anreize für multinationale Unternehmen, ihre Gewinne aus ärmeren Ländern weitgehend unversteuert in die Schweiz zu verschieben, kämpft sie immer noch.

Als ich 2015 die Nachfolge von Peter Niggli als Geschäftsleiter von Alliance Sud antreten durfte, lösten gerade die Ziele für nachhaltige Entwicklung die Millenniums-Entwicklungsziele ab. Die reichen Industrieländer haben sich mit der Agenda 2030 auf einen politischen Kurs verpflichtet, der sich nicht bloss an kurzfristigen nationalen Eigeninteressen ausrichtet, sondern dem langfristigen Wohlergehen der Menschen und des Planeten dient. Umso erstaunlicher ist, mit wieviel Leidenschaft sich heute gewisse BundesrätInnen und ParlamentarierInnen darüber ärgern, wenn sich die NGOs im Namen der Menschrechte und des Umweltschutzes in die Schweizer Politik einmischen.  

Alliance Sud eckte damals wie heute politisch an. Sie sollte sich auch von den jüngsten Retourkutschen gegen eine entwicklungspolitisch aktive Zivilgesellschaft nicht beeindrucken lassen. Eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige Entwicklung der Welt braucht dringender denn je eine Schweiz, die jegliche Politik – von der Aussenpolitik über die Klimapolitik bis zur Wirtschaftspolitik – kohärent an diesem Ziel ausrichtet. Dafür werden sich das Team, die Trägerorganisationen und die Verbündeten von Alliance Sud, denen ich hier von ganzem Herzen für die wunderbare Zusammenarbeit danken möchte, auch in Zukunft stark machen – mit Herzblut, unermüdlichem Einsatz und der Kraft der richtigen Argumente.

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Ein neues «Afrika»

01.10.2021, Internationale Zusammenarbeit

Die Menschheit ist abgestumpft von den unzähligen weltumspannenden Notlagen, die durch einen allgemeinen Mangel an Leadership sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor noch verschärft werden. Kommt der Weckruf aus «Afrika»?

Ein neues «Afrika»

Die Co-Präsidentin des Club of Rome und Mitgründerin von Reimagine SA, Mamphela Ramphele, skizziert in diesem Text, wie Afrika (und die Welt) in 50 Jahren aussehen könnte.
© Mamphela Ramphele

Wissenschaftliche Kenntnisse vermögen der Gesellschaft nicht zu einem neuen Menschsein zu verhelfen. Eine solche Transformation erfordert viel Selbstreflexion: Sie bedingt die Bereitschaft, uns von unserem extraktiven Wertesystem abzuwenden und mit der Natur neu zu lernen, dass wir Teil eines eng verknüpften und wechselseitig funktionierenden Lebensnetzes sind. Indigene Kulturen auf der ganzen Welt lehren uns, dass wir unsere Wurzeln wiederentdecken und im Rhythmus der Weisheit der Natur leben müssen. Die Rückkehr zum Ursprung würde es der Menschheit ermöglichen, mit einer neuen menschlichen Zivilisation aus diesen Notlagen heraus zu treten – einer Zivilisation, die mit der Natur im Einklang steht.

Junge Menschen auf der ganzen Welt sind heute bereit, angesichts des Versagens der älteren Generation und führenden Eliten eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Weltweite Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, Rainbow Warriors und Avaaz haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Zukunft zu gestalten, die sie sich herbeisehnen.

Auch in Afrika nutzen junge Menschen die Chance, sich die Weisheit ihrer Vorfahren zu eigen zu machen. Die Weisheit Afrikas liegt in der Fülle des Kontinents – es ist genug für alle da, wenn wir es nur gerecht aufteilen. Das Ubuntu-Wertesystem beruht darauf, dass alle am Wohlstand teilhaben, der durch gemeinschaftliche Arbeit erwirtschaftet wurde. Ubuntu kennt keine Trittbrettfahrer.

Die meisten der über 600 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner im Alter von 15 bis 49 Jahren entwickeln innovative Lösungen für die vielfältigen Herausforderungen, mit denen sie – in den unterschiedlichsten Kontexten – konfrontiert sind. Sie schaffen aus der knappen Verfügbarkeit alter Technologien in den Bereichen Telekommunikation und Finanzdienstleistungen eine Fülle an Möglichkeiten. Mobiltelefone und Online-Finanzdienste nutzen den jährlichen Fluss an Auslandüberweisungen (schätzungsweise 44 Mrd. USD), um günstigere und zuverlässigere Verbindungen zwischen der Diaspora und der Heimat herzustellen.

Langsam aber sicher löst sich Afrika auch von den kolonial geprägten Bildungsmodellen, die seine junge Bevölkerung in das Korsett von Bildungssystemen gezwängt und sie von ihrem reichen kulturellen Erbe entfremdet haben. Die kolonialen Bildungsmodelle haben die Afrikanerinnen und Afrikaner über Generationen hinweg geistig versklavt und vielen das Bild der Vorherrschaft der Weissen und der Unterlegenheit der Schwarzen eingebrannt. Diese geistige Versklavung untergräbt weiterhin Afrikas Fähigkeit, seinen Reichtum zu nutzen, um gemeinsamen Wohlstand zu schaffen.

Wir erleben, wie neue Bildungsmodelle – wie die seit siebzehn Jahre bestehenden Leap Math and Science Schools in Südafrika – entstehen, die jungen Menschen helfen, sich von dieser geistigen Sklaverei zu befreien und die Weisheit von Ubuntu zu verinnerlichen. Die heilende Wirkung von Verbundenheit und Reziprozität führt zu mehr Selbstvertrauen und wiedergewonnener Würde und Selbstachtung. Die Modelle haben in den ärmsten Elendsvierteln Südafrikas, in denen sie ihren Ursprung haben, spektakuläre Wirkung entfaltet. Leap-Absolventen übernehmen in ihren von Hoffnungslosigkeit geprägten Gemeinschaften Führungsrollen als Lehrer, Ingenieurinnen, Vertreter der Zivilgesellschaft, politische Akteure und in vielen anderen Berufen. Diese Erfolgsgeschichten stehen in Kontrast zur Armut, die die Welt in Afrika sieht. Die junge Generation erkennt den Reichtum Afrikas, ja sie ist dieser Reichtum.   

Afrika als grösster Kontinent (Landmasse so gross wie Europa, China und die USA zusammen) mit den meisten Ressourcen (60% Ackerland, 90% Mineralienvorkommen, Sonne und Regen im Überfluss; dazu der grösste Anteil junger Menschen mit 1,4 Mrd.) braucht ein neues Entwicklungsmodell. Ein solches Modell muss basierend auf der Ubuntu-Philosophie entstehen, deren reichhaltige Ressourcen es durch kollektives Handeln zu nutzen gilt, wodurch das Talent und die Kreativität der jungen Bevölkerung gefördert werden.

Die Welt wird von einem Afrika profitieren, das ein nachhaltigeres, regeneratives sozioökonomisches Entwicklungsmodell verfolgt. Dieses Afrika wäre in der Lage, seinen Reichtum auf gerechtere Weise zu verteilen. Afrikas junge Menschen, die sich von der geistigen Sklaverei befreit haben und als innovative, tatkräftige WeltbürgerInnen auftreten, würden die entscheidenden Fähigkeiten und die Kreativität bereitstellen, die dem Rest der alternden Weltgemeinschaft fehlt. Die Welt muss gemeinsam mit Afrika in eine beschleunigte regenerative sozioökonomische Entwicklung investieren, die Afrikas Landfläche für die Ernährungssicherheit nutzt. Die Nutzung von Afrikas indigenem Wissen über biologische Landwirtschaft und seine reichhaltigen marinen Nahrungssysteme könnte eine sichere und gesunde Ernährung für alle gewährleisten.

Afrikas Mineralien, die die Weltwirtschaft ankurbeln, einschliesslich der neu entdeckten Seltenen Erden, die für die Elektronikindustrie unverzichtbar sind, müssen auf nachhaltige Weise abgebaut werden. Die derzeitigen Bergbaupraktiken schädigen nicht nur die afrikanischen Landschaften, sondern untergraben auch das Wohlergehen der Menschen in Afrika. Eine nachhaltige Nutzung des Reichtums an Bodenschätzen für die gesamte Weltgemeinschaft erfordert einen radikalen Wandel von extraktiven hin zu regenerativen Ansätzen.

Die Welt muss die Covid-Pandemie und die existenzielle Klimakrise als Chance nutzen, um neu zu lernen, wie wir als globale Gemeinschaft zusammenarbeiten können. Dies würde sicherstellen, dass wir von degenerativen zu regenerativen Ansätzen übergehen, die nachhaltiges Wohlergehen für alle fördern. Exzessiver Konsum muss klügeren Entscheidungsmechanismen weichen, damit wir mit den Ressourcen unseres Planeten auskommen. Dies bedeutet unter anderem, dass wir uns die Weisheit der Natur zu eigen machen, wonach es kein Ich ohne Wir geben kann. Die Menschen sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig.

Meine Vision von Afrika in 50 Jahren ist die eines Kontinents, der sein Erbe als Wiege der Menschheit und der ersten menschlichen Zivilisation zurückerobert hat und sich die Intelligenz der Natur so zu eigen macht, dass jeder sein Bestes zum Wohlergehen aller im gesamten Ökosystem beiträgt. Afrika wird dann der Welt ein Modell dafür bieten, wie das ganzheitliche Menschsein neu erlernt werden kann.

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50 Jahre Alliance Sud

05.10.2021, Internationale Zusammenarbeit

Seit 50 Jahren steht Alliance Sud im Einsatz für eine solidarische Schweiz. Unser Präsident Bernd Nilles blickt zurück – und in die Zukunft.

50 Jahre Alliance Sud

Bernd Nilles, Präsident Alliance Sud und Geschäftsleiter Fastenopfer
© Fastenopfer

50 Jahre Alliance Sud, 60 Jahre DEZA, 60 Jahre Fastenopfer, 75 Jahre HEKS: Vor einigen Jahrzehnten herrschte eine Aufbruchstimmung hin zu globaler Verantwortung. Gibt es heute Grund zum Feiern oder eher nicht im Lichte der vielen ungelösten Probleme auf dieser Welt? Ständig kommen neue Herausforderungen und Krisen hinzu – die Klimakrise zudem mit enormem Zeitdruck.

Als unsere Gründungsväter und Gründungsmütter im August des Jahres 1971 – kurz nach Einführung des Frauenstimmrechts – die Arbeitsgemeinschaft «Swissaid / Fastenopfer / Brot für Brüder / Helvetas» gründeten, war ihnen vermutlich nicht bewusst, dass die Reise fünf Jahrzehnte überdauern würde. Zunächst stand die Information der Schweizer Bevölkerung über die Situation in Entwicklungsländern und globale Zusammenhänge im Fokus; erst später, in den 1980er Jahren, kam die entwicklungspolitische Arbeit hinzu. Weitsichtig war die frühe Einsicht, dass nur durch Veränderungen in Nord und Süd ein langfristiger Wandel möglich ist, und es ist eine historische Errungenschaft von Alliance Sud, dass sie Schweizer Hilfswerke mit einer koordinierten und glaubwürdigen entwicklungspolitischen Stimme vereint hat.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei all jenen bedanken, die diese Geschichte mitgestaltet und möglich gemacht haben. Alliance Sud hat in diesen 50 Jahren eine Reihe Veränderungen in der Politik angestossen; sie hat dazu beigetragen, dass die Entwicklungszusammenarbeit ausgebaut und weiterentwickelt wurde, und ist stets eingetreten für eine solidarische Schweiz.

Auch Alliance Sud ist bereit, sich weiterzuentwickeln. 2021 haben wir dies in Angriff genommen, entsprechend werden wir uns in Zukunft noch stärker auf die Anwaltschaftsarbeit konzentrieren und hier Wirkung entfalten. Dies scheint geboten angesichts der weiterhin bestehenden globalen Herausforderungen und Ungerechtigkeiten, besonders dort, wo Schweizer Politik eine Mitverantwortung trägt. Darüber hinaus sind Macht und Einfluss der Wirtschaft weiterhin unverhältnismässig gross und führen nicht selten zu politischen Entscheiden zu Ungunsten von Mensch und Umwelt. In diesem Zusammenhang muss die Frage erlaubt sein, warum BundesrätInnen aktuell nach mehr politischem Engagement der Wirtschaft rufen, während zugleich versucht wird, den Spielraum der Zivilgesellschaft einzuschränken. Sollte es nicht ein Anliegen von Bundesrat und Parlament sein, dass sich in der Schweiz alle politisch einbringen können und dürfen?

Was gut für die Wirtschaft ist, ist nicht automatisch gut für die Schweiz und die Welt. Für gute und nachhaltige politische Entscheide braucht es auch die Stimmen der BürgerInnen und der Zivilgesellschaft – darauf haben wir in den letzten 50 Jahren immer wieder hingewiesen. Mit fachlicher Expertise, Dialog und Debatte wollen wir uns auch in Zukunft aktiv einbringen und für globale Gerechtigkeit einstehen.

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Kommunikation im Wandel: vom Mittel zum Programm

06.10.2021, Internationale Zusammenarbeit

Die anstehenden Herausforderungen verlangen ein radikales Umdenken in globalem Ausmass. Gefordert sind auch die Entwicklungsorganisationen: nicht nur im Programm, sondern auch in ihrer Unternehmenskommunikation. Von Jörg Arnold, Fairpicture.

Kommunikation im Wandel: vom Mittel zum Programm

Die ehemalige First-Lady Melania Trump in Kenia: Immer wieder stellen sich Prominente für gute Zwecke (und Bilder) zur Verfügung, auch in der Schweiz. Dadurch wird ein paternalistisches Entwicklungsverständnis zementiert.
© Saul Loeb/AFP

von Jörg Arnold

«Die Welt hat sich verändert und mit ihr die Kommunikation. Sie ist nicht mehr so wie noch vor 30 Jahren. Wir müssen lernen, die internationale Zusammenarbeit von heute zu kommunizieren. Mit der Agenda 2030 sprechen wir nun international eine gemeinsame Sprache», hielt DEZA-Direktorin Patricia Danzi aus Anlass des 60jährigen Bestehens der DEZA fest. Die anonymen Bilder ausgemergelter Kinder sind aus den Mailings und von den Websites der Hilfsorganisationen in den letzten Jahren grösstenteils verschwunden. Doch hat sich damit auch die Art und Weise verändert, wie westliche Entwicklungsorganisationen über den globalen Süden reden?

In der Schweiz engagieren sich mehr als hundert von der ZEWO anerkannte Spendenorganisationen dafür, die Welt zu einem für alle Menschen lebenswerteren Ort zu machen. Dutzende weitere, nicht zertifizierte Vereine kommen hinzu. Sie alle wollen Not lindern und eine nachhaltige Basis für die Überwindung von Armut, Hunger und Ungerechtigkeit schaffen. Sie sind geübt darin, die Inhalte ihrer Arbeit zu kommunizieren und ihren SpenderInnen näherzubringen. Sie versuchen das Verständnis für die Situation von Menschen in Not zu fördern, die Verpflichtung zu konkreter Hilfe zu stärken und ihrem eigenen Wirken damit Nachdruck zu verleihen.

Mit ihrer Kommunikation beeinflussen sie die öffentliche Meinung über die Gesellschaften im globalen Süden wesentlich. Reichweitenstarke Spendenkampagnen vermitteln Emotionen, die SpenderInnen für eine Spende überzeugen. Ob als regelmässige Berichte im kleinen Kreis oder als ausgeklügelte Direktmarketing-Aktionen: Sie prägen die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, Armut, Not und Gewalt auf dem afrikanischen Kontinent, in Lateinamerika und in Asien mit dringlichen Bildern.

Lackmustest für Entwicklungsorganisationen

Die Kommunikationsarbeit von Entwicklungsorganisationen ist anspruchsvoll. Sie muss die eigene Arbeit gegenüber Politik und Öffentlichkeit immer wieder neu legitimieren, dabei Spenden sammeln und als wesentlichen Teil des zivilgesellschaftlichen Auftrags zusätzlich auch Sensibilisierungsarbeit leisten. Um allen diesen Ansprüchen gerecht zu werden, haben die Organisationen in den vergangenen Jahren deshalb viel in ihre Kommunikationskonzepte investiert. Ganz besonders gefordert sind sie jedoch in ihrem Narrativ über den globalen Süden. Hier haben sie den eigentlichen Lackmustest für ihre Glaubwürdigkeit zu bestehen.

Die Kritik, mit der sich Entwicklungsorganisationen im Westen konfrontiert sehen, ist vielfältig. Da sind zum Beispiel die AktivistInnen von nowhitesaviors.org aus Uganda, die medienwirksam angetreten sind, um die in ihren Augen diskriminierende Repräsentation von Menschen aus dem afrikanischen Kontinent in der Kommunikation von NGOs anzuprangern. Nach einem massiven Shitstorm hat die britische Comic Relief ihre ertragreiche Fundraisingkampagne mit Prominenten, die auf «Projektbesuch in Afrika» um Spenden bitten, eingestellt. Die AutorInnen von peacedirect reden in der im Mai 2021 publizierten Studie Time to Decolonise Aid Klartext: «Viele der heutigen Praktiken und Einstellungen im Hilfesystem spiegeln die Kolonialzeit wider und leiten sich von ihr ab, was die meisten Organisationen und Geber im globalen Norden noch immer nur widerwillig anerkennen. Bestimmte moderne Praktiken und Normen verstärken koloniale Dynamiken und Überzeugungen, wie zum Beispiel die Ideologie des ‘White Saviour’, die in der von INGOs verwendeten Spenden- und Kommunikationssymbolik sichtbar wird.»

Stereotypen unterminieren die Entwicklungszusammenarbeit

Eine in kolonialen Mustern denkende, stereotype Kommunikation − das ist ein schwerwiegender Vorwurf an die Praxis von Entwicklungsorganisationen. Er befragt nicht nur die ethische Grundhaltung der Organisationen kritisch, er konstatiert gleichzeitig einen Widerspruch zum zivilgesellschaftlichen Ziel, ungleiche Machtverhältnisse beseitigen zu wollen. Mit dem am 10. September 2020 in Bern verabschiedeten Manifest für eine verantwortungsvolle Kommunikation der internationalen Zusammenarbeit setzten die Träger- und Partnerorganisationen von Alliance Sud diesbezüglich ein verpflichtendes Zeichen. Selbstkritisch merken die AutorInnen in der Einleitung zum Manifest an: «Menschen des globalen Südens werden häufig als Objekte und Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe oder Unterstützung dargestellt, Entwicklungsorganisationen und ihre Mitarbeitenden dagegen als handelnde Subjekte und Experten. (...) Dabei werden oftmals Stereotype reproduziert. Paternalistische Entwicklungsbilder vermitteln, dass die entwickelten Länder den unterentwickelten Ländern zeigen, wie man es richtig macht.»

Die Fixierung ganzer Kontinente und ihrer Menschen in Bildern von Armut und Abhängigkeit ist diskriminierend. Menschen dabei in der Rolle dankbarer HilfeempfängerInnen gefangen zu halten, ist entwürdigend. Es ist längst an der Zeit, dass die Entwicklungsorganisationen einen über viele Jahre sorgfältig gepflegten und durchaus erfolgreichen Fundraising-Topos über Bord werfen. Dass der Kommunikation in unserer globalen Gesellschaft eine immer grössere Bedeutung zukommt, verlangt auch von Entwicklungsorganisationen ein verstärktes Nachdenken darüber, was die eigene Kommunikation bewirkt und was sie zum Entstehen globaler Gerechtigkeit beitragen kann.

Kommunikation ist Programm

Klimakrise, Migration, Humanitäre Hilfe: Die Kommunikation von Entwicklungsorganisationen in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist mehr als Unternehmenskommunikation und Fundraising. Mit ihren Narrativen gestaltet sie gesellschaftlichen Wandel aktiv mit und prägt wirkmächtige Denkweisen. Entwicklungsorganisationen sind dafür verantwortlich, dass ihre Kommunikation den Lebensrealitäten, -ansichten und -zielen der portraitierten Menschen entspricht. Nicht nur die operativen Organisationseinheiten, sondern auch die Kommunikationsabteilungen tun deshalb gut daran, sich in einen Theory of Change-Prozess zu begeben, in dem sie aus einer selbstreflektierten Situationsanalyse eine wirkungsorientierte Handlungslogik für ihre Arbeit entwickeln. Sie ist nötig, um die von der Gesamtorganisation angestrebte Wirkung zu erreichen. Um der Komplexität der Problemfelder − von den Dargestellten bis hin zu den EmpfängerInnen der Kommunikation − gerecht zu werden, müssen in diese Prozesse lokale AkteurInnen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen, Expertisen und Rechten einbezogen werden. Die Zeit ist vorbei, in der es sich Entwicklungsorganisationen erlauben konnten, über die Köpfe der Menschen hinweg zu kommunizieren, die im Zentrum ihres zivilgesellschaftlichen Engagements stehen.

 

Der Autor, Jörg Arnold, ist Soziologe und war von 2002 bis 2018 Leiter Marketing und Fundraising bei Caritas Schweiz. Er ist Co-Founder von Fairpicture (fairpicture.org).

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Meinung

Die «Schulden» der Schweiz in Mosambik

06.12.2021, Internationale Zusammenarbeit

Der von der Credit Suisse begünstigte Kreditskandal in Mosambik hat der Bevölkerung deutlich vor Augen geführt, wie widersprüchlich die Rolle der Schweiz bei der Verringerung von Armut und Ungleichheit ist.

Die «Schulden» der Schweiz in Mosambik

Eine Frau verkauft Trockenfisch am «Mercado central» in Maputo. Der Kreditskandal in Mosambik führte unter anderem zur Anschaffung einer mittlerweile maroden Thunfisch-Fangflotte. Ein Gericht in Maputo führt derzeit einen Prozess gegen 19 Angeklagte. Auch in der Schweiz hat die Bundesanwaltschaft ein Strafverfahren eröffnet.
© Alfredo D'Amato / Panos Pictures

Süd-Perspektive von Faizal Ibramugy, Journalist in Nampula, im Norden Mosambiks, und Medienunternehmer.

Die Schweiz arbeitet seit 1979 mit Mosambik zusammen, und seit 2012 − dasselbe Jahr, in dem die Verhandlungen über die Darlehen der sogenannten «versteckten Schulden» («dívidas ocultas») stattfanden − fokussiert sich die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit auf drei Schwerpunktbereiche: neben der wirtschaftlichen Entwicklung und der Gesundheit auch die Gouvernanz. Ein an natürlichen Ressourcen reiches Land wie Mosambik kann sich nur durch gute Regierungsführung und verantwortungsvolle Investitionen weiterentwickeln. Deshalb ist die Schweizer Unterstützung in diesem Bereich willkommen. Der Skandal rund um die «versteckten Schulden» untergräbt nun jedoch alle ihre Bemühungen.

Uns MosambikanerInnen wurde jahrelang beigebracht, wie man regiert, wie man die öffentlichen Gelder verwaltet, wie man illegale und korrupte Praktiken vermeidet, die dem Staat schaden könnten, und wie man transparent handelt. Es ist diese gute Regierungsführung, die die SchweizerInnen den MosambikanerInnen durch ihre verschiedenen Interventionen zugunsten der Entwicklung des Landes vermittelt haben.
Wir MosambikanerInnen hätten nie im Leben gedacht, dass WirtschaftsvertreterInnen eines Landes, das sie lehrt, wie wirtschaftliche Ressourcen nachhaltig verwaltet werden sollten, es unserer korrupten Regierung gleichtun würden. Die Beteiligten haben dabei den Staat um mehr als eine Milliarde Dollar betrogen, selbst nachdem Machbarkeitsstudien gezeigt hatten, dass die vereinbarten Darlehen nicht tragfähig waren.

Das Sprichwort «Tu, was ich dir sage, aber nicht, was ich selber tue» passt hier perfekt: Den MosambikanerInnen wurde beigebracht, nicht korrupt zu sein, aber Schweizer Angestellte der Credit Suisse haben deutlich gezeigt, dass ihnen Korruption mehr wert ist als die Transparenz, die in fast allen Projekten und Programmen, die mit Schweizer Geldern finanziert werden, proklamiert wird.

Schuldenerlass genügt nicht

Jetzt, da die Credit Suisse mit einer Strafzahlung in der Höhe von 475 Millionen Dollar an die USA und das Vereinigte Königreich und einem Schuldenerlass gegenüber Mosambik im Umfang von 200 Millionen Dollar einen Teil der Schuld auf sich nehmen muss, hofft die Mehrheit der MosambikanerInnen, dies sei eine Gelegenheit, um vor Gericht einen vollständigen Schuldenerlass zu verlangen.

Meiner Meinung nach würde dies allerdings längst nicht ausreichen. Daneben müsste die offizielle Schweiz − die das Bestreben Mosambiks für eine dezentrale, gerechte und transparente Verwaltung der Ressourcen durch die staatlichen Institutionen unterstützt – einräumen, dass ihre Bemühungen in mehr als 40 Jahren keine Wirkung erzielt haben. Trotz grosser Anstrengungen ist es Mosambik nicht gelungen, sich dieses Wissen anzueignen, ebenso wenig wie die Bankangestellten der Credit Suisse in der Lage waren, einen Kredit in völliger Transparenz zu vergeben.

Ein neues ABC der Regierungsführung

Heute sind die MosambikanerInnen mit einer Schuld konfrontiert, die mit betrügerischen Mitteln in einer kriminellen Vereinigung zwischen Bankern und Machthabern genehmigt wurde. Mosambik steht vor einem noch nie dagewesenen Desaster, dessen zufriedenstellende Bewältigung nicht nur Vergebung, sondern auch eine Neudefinition der Strategie zur Förderung der guten Regierungsführung erfordert.
Wenn dieser Finanzskandal, der Mosambik erschüttert hat, aufzeigt, was das Land in diesen Jahrzehnten von der Schweiz über gute Regierungsführung und die Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten gelernt hat, kann ich nur sagen: Es ist nichts wert. Dringend notwendig ist ein neues ABC der Regierungsführung, der Transparenz und der Integrität, das den MosambikanerInnen vermittelt, dass sie selbst an der Spitze der Regierung stehen. Die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Mosambik, die auf einem guten Fundament aufbaute, verkommt sonst durch die «versteckten Schulden» zu einer grossen Schande.