UNO-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung

Sevilla: Friede, Freude, Tortilla?

26.09.2025, Entwicklungsfinanzierung

An der vierten UNO-Konferenz Financing for Development (FfD4) in Sevilla war allen Teilnehmenden klar, dass mehr Geld dort geholt werden muss, wo es verfügbar ist: bei Unternehmen und sehr reichen Einzelpersonen. Über das «Wie» gingen die Meinungen aber weit auseinander.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Sevilla: Friede, Freude, Tortilla?

Lautstark gegen Schuldenlast und «shrinking space»: zivilgesellschaftlicher Protest im FfD4-Konferenzgebäude in Sevilla. © Jochen Wolf / Alliance Sud

Die FfD4-Konferenz von Anfang Juli fand in einer der seit Jahrzehnten schwierigsten Phasen für die globale Entwicklung statt. Die öffentliche Entwicklungsfinanzierung wird voraussichtlich allein im Jahr 2025 um 17% zurückgehen. Und noch während der Konferenz wurde das Schicksal von USAID – einst die weltweit grösste Geldgeberin – endgültig besiegelt. Weniger als fünf Jahre vor Ablauf der Frist fehlen jährlich mehr als 4 Billionen US-Dollar, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung der UNO (Sustainable Development Goals, SDGs) zu erreichen.

Nicht dass das Geld grundsätzlich fehlen würde: Seit der letzten FfD-Konferenz in Addis Abeba im Jahr 2015 hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung sein Vermögen um mehr als 33,9 Billionen Dollar vermehrt – 22 Mal so viel wie jährlich zur Beseitigung der absoluten Armut gebraucht würde. Allein Afrika könnte laut der UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) durch die Eindämmung unlauterer Finanzflüsse jährlich fast 89 Milliarden Dollar einnehmen. Die Hälfte davon entfällt auf Steuervermeidung von Konzernen und der Rohstoffsektor ist bei weitem die wichtigste Quelle solcher Finanzflüsse. Das müsste die Schweiz eigentlich interessieren.

Prominente (und weniger prominente) Abwesende

Das nicht bindende Abschlussdokument der Konferenz, der «Compromiso de Sevilla», war bereits am 17. Juni in New York nahezu einstimmig angenommen worden. Daher fanden in Sevilla gar keine Verhandlungen mehr statt. Die USA waren massgeblich für die Abschwächung des Textes verantwortlich, etwa beim Thema Klima. Trotzdem zogen sie sich zwei Wochen vor der Konferenz aus dem Prozess zurück, waren damit das einzige Land, das das Abschlussdokument nicht unterstützte, und blieben Sevilla fern.

Dennoch verzeichnete die Konferenz über 15'000 Teilnehmende, darunter 60 Staats- und Regierungschef:innen, 80 Minister:innen, UNO-Generalsekretär António Guterres, hochrangige Vertretungen von UNO-Agenturen und anderen internationalen Organisationen. Die Schweiz allerdings verzichtete darauf, eine hochrangige Delegation zu schicken. Der fehlende Ministerrang führte dazu, dass sich die Schweiz im offiziellen Teil der Konferenz erst ganz zum Schluss äussern durfte. Und weil sich kein Bundesrat und keine Bundesrätin bequemt hatte, verpasste die Schweiz den Austausch mit den anwesenden 60 Staats- und Regierungschef:innen. Der Weg nach Sevilla ist halt länger als nach Davos und zudem war es dort viel zu heiss.

Da es im Financing-for-Development-Prozess um viel mehr als «Entwicklungsfinanzierung» im Sinne der internationalen Zusammenarbeit geht, wären durchaus verschiedene Bundesrätinnen und Bundesräte für die Teilnahme in Frage gekommen. Massnahmen gegen Steuervermeidung und unlautere Finanzflüsse standen ebenso prominent auf der Agenda, wie die Themen Schulden und Entschuldung, Handel und Entwicklung oder systemische Fragen der internationalen Finanzarchitektur.

Programm mit Schlagseite

Ein Thema dominierte die Agenda: «Mobilizing Private Resources», die Frage also, mit welchen Anreizen man profitorientierte Unternehmen und Investor:innen dazu bringt, die Lücke zu füllen, die die fehlenden staatlichen Mittel hinterlassen. Es fielen Worthülsen wie «Accelerating the Shift and Private Climate Investment at Scale», «Catalytic Pathways to Scale Private Investment», «Unlocking Ecosystems for Inclusive Private Sector Growth», «Impact Investing, from Pioneering Innovations to Scalable Solutions» etc., etc.

Man könnte meinen, dass dies daran lag, dass «Business Representatives» 40% der Teilnehmenden stellten und es ein eigenes «Business Forum» gab. Doch das Thema war im offiziellen Teil, bei Regierungen (v. a. des Nordens) und bei internationalen Organisationen ebenso dominant. So auch für die Schweiz. Die Mehrheit der von ihr organisierten Events drehte sich darum (z. B. «Accelerating SDG Impact through Outcomes-Based Financing»).

 

Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez geht auf UNO-Generalsekretär António Guterres und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu. Letztere zwei stehen dicht beisammen, alle drei lachen. Im Hintergrund ist eine grosse Plakatwand mit dem Logo der FfD4-Konferenz.

Privatsektor gestärkt, Mission erfüllt? Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez mit UNO-Generalsekretär António Guterres und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. © Bianca Otero / ZUMA Press Wire

 

Zivilgesellschaft widerspricht

Zum Glück organisierte auch die Zivilgesellschaft viele Side-Events; dort konnte man dann auch hören, dass in Sevilla viel saurer Wein in alte Schläuche gepumpt wurde. So etwa von Daniela Gabor, Ökonomin und Mitglied der UNO-Expert:innengruppe zu Financing for Development. Sie erinnerte daran, dass die Weltbank schon 2015 «from billions to trillons» (von Milliarden zu Billionen) versprochen hatte, um die Umsetzung der Addis Abeba Action Agenda (das Ergebnis der 3. Entwicklungsfinanzierungs-Konferenz) zu finanzieren. Damals schon waren Public Private Partnerships und De-Risking zentrale Pfeiler der Agenda. Es ging (und geht) darum, steuerfinanzierte Gelder aus den Budgets der internationalen Zusammenarbeit (IZA) des Globalen Nordens zu verwenden, um für grosse Investor:innen wie Blackrock oder Pensionsfonds «investable projects» zu schaffen. Also konkret, Risiken zu übernehmen, damit diese attraktive «risk-adjusted returns» für ihre Investitionen in Wasser-, Strassen- oder Energieprojekte erhalten.

Das hat definitiv nicht funktioniert und – so Gabor – nicht deshalb, weil es für De-Risking zu wenig Geld von den multilateralen Entwicklungsbanken, der EU oder der Biden-Regierung gegeben hätte. Es klappte nicht, weil auch mit steuerfinanzierter Risikoübernahme die Grossprojekte für die Länder des Globalen Südens immer noch viel zu teuer waren.

Inzwischen gibt es die «small is beautiful»-Version von De-Risking, bei der Investitionen mit «Impact» zur Umsetzung einzelner SDGs gefördert werden sollen, nicht nur Grossprojekte im Bereich der Infrastruktur. Diese sollen direkt «beneficiaries» im Globalen Süden erreichen. Allerdings müssen die Begünstigten z. B. für erneuerbare Energien auch bezahlen, denn irgendwoher müssen die Renditen ja kommen. Die «beneficiaries» sind trotz der IZA-Terminologie also in Wahrheit einfach Kund:innen und Kreditnehmende. Es ist diese Version der De-Risking-Agenda, die auch von der Schweiz vorangetrieben wird.

Nicht nur von der Zivilgesellschaft, auch von Regierungsvertreter:innen des Globalen Südens kam Einspruch. Der Planungsminister von Südafrika, Maropene Ramokgopa, etwa mahnte zu Realismus und erinnerte daran, dass der Privatsektor nur dort eine Rolle spielt, wo ein Profit gemacht werden kann und dass «Blending» deshalb konzessionäre Gelder gerade in der aktuellen Verschuldungssituation nicht ersetzen kann. Und an einer Veranstaltung der Small Island Developing States war von ganz anderen Risiken zu hören, die im Zentrum stehen sollten. Nicht diejenigen für Investor:innen, sondern die Risiken für Menschen angesichts steigender Meeresspiegel. Hier brauche es ein De-Risking.

«It’s taxes, stupid!»

Dass der «Privatsektor» und Superreiche sehr viele Mittel haben, die für die Erreichung der SDGs und die Umsetzung des «Compromiso» eingesetzt werden könnten, ist unbestritten. Doch statt darauf zu hoffen, sie mit knappen IZA-Mitteln anlocken zu können oder auf ihre Philanthropie zu setzen, gibt es andere Mittel. Zum Glück konnte man auch das in Sevilla hören. Wenn man wollte. Die Schweiz wollte nicht.

Ein zentraler Pfeiler des «Compromiso de Sevilla» ist nämlich auch «Domestic Resource Mobilization» (DRM). Mit mehr Steuereinnahmen können die Länder des Globalen Südens ihre Abhängigkeit von Entwicklungsgeldern reduzieren und ihre Wirtschaft und Gesellschaft von innen heraus entwickeln.

Dies hätte man von Aminata Touré, Ex-Premierministerin von Senegal, hören können: «Bei den Steuern zeigt sich ein Kontinuum der Ungerechtigkeit, unter der Afrika seit Jahrhunderten leidet. (…) Wir haben Schulden wegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung, (…) weil europäische Multis unsere Rohstoffe ausbeuten und keine Steuern zahlen. (…) Deswegen hat sich die Afrikanische Union so stark für eine verbindliche UNO-Steuerkonvention eingesetzt. Wir wollen eine faire Verteilung des Rechts zur Besteuerung. Steuern sollen dort bezahlt werden, wo der Reichtum entsteht. Das ist deshalb schwer zu erklären, weil es so einfach ist. Jedes Schulkind versteht das: Je reicher, desto mehr Steuern.»

Erstaunlicherweise klang ein Vertreter des deutschen Finanzministeriums ähnlich: «Wenn Entwicklungshilfe-Gelder immer spärlicher fliessen, braucht es umso mehr entschlossene Massnahmen gegen unlautere Finanzflüsse, dafür setzt sich die deutsche Regierung schon lange ein: Konzerne und Superreiche müssen ihren fairen Anteil an den globalen Steuerkuchen leisten.»

Koalitionen der Willigen

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz betonte einen anderen wichtigen Aspekt der Steueragenda: «Die USA zahlen gerade den Preis für Ungleichheit, deshalb erleben wir die Vereinnahmung durch die Tech-Oligarchie. Trump will seine Steuersenkungen für diese Oligarchie globalisieren. (…) Aber die Welt kann nicht als Geisel genommen werden, eine Koalition der Willigen ist möglich. (…) Um herauszufinden, warum man die Superreichen besteuern muss, braucht man keinen Nobelpreis. Wir haben die Steueroasen geschaffen. Wir hätten sie regulieren können, doch wir haben ihre Existenz zugelassen. Sie existieren, weil sie für die Superreichen interessant sind. Wir brauchen globale Normen, wir brauchen globale Regeln.»

In Sevilla waren solche Koalitionen bereits erkennbar. Spanien und Brasilien kündigten eine gemeinsame Initiative für eine globale Besteuerung der Superreichen an. Neun Länder – Brasilien, Frankreich, Kenia, Barbados, Spanien, Somalia, Benin, Sierra Leone und Antigua and Barbuda – wollen sich für die Einführung einer Solidaritätsabgabe auf Business- und First-Class-Flugtickets sowie Privatjets einsetzen.

Diese und 130 weitere freiwillige Initiativen finden sich auf der «Sevilla Platform for Action», mit der die «Verpflichtung» von Sevilla umgesetzt werden soll. Es gibt zwar einen leichten Widerspruch zwischen Verpflichtung und Freiwilligkeit, aber angesichts des Zustands des Multilateralismus ist schon eine Liste, die einige gute Vorschläge enthält, ein Fortschritt.

 

Schweiz: Vom SPA in den Gym

Auch wenn der «Compromiso de Sevilla» unverbindlich, die «Plattform» freiwillig ist und wichtige Themen fehlen, hat die Konferenz gezeigt, dass es verschiedene Koalitionen aus europäischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gibt, die Lösungen vorantreiben. Als pragmatisches Minimalprogramm sollte sich die Schweiz folgende To-do-Liste schreiben:

  • Einen Multi-Stakeholder-Roundtable unter Teilnahme von privaten Gläubigern von überschuldeten Ländern des Globalen Südens ins Leben rufen. 
  • Die Verhandlungen zur UNO-Steuerkonvention nicht weiter behindern, sondern konstruktiv mit Ländern des Globalen Südens zusammenarbeiten. 
  • Sich Spanien zum Vorbild nehmen, das sich in Sevilla verpflichtete, bis 2030 das UNO-Ziel von 0,7% des Bruttonationaleinkommens für die IZA-Finanzierung zu erreichen.

Wer es gerne weniger pragmatisch hat, findet umfassende Vorschläge zur Problemlösung in der letzten Ausgabe von «global» (#98/Sommer 2025, «Der neue Deal»).

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

4. Internationale UNO-Entwicklungsfinanzierungskonferenz

FfD4-Konferenz in Sevilla: Ein Schritt zu einer gerechteren Welt?

04.07.2025, Entwicklungsfinanzierung

Vom 30. Juni bis 3. Juli fand in Sevilla die vierte internationale UNO-Entwicklungsfinanzierungskonferenz (FfD4) statt. Schon im Vorfeld hatten sich die Staaten auf eine ungenügende Schlusserklärung geeinigt. Antworten auf die unzähligen Krisen blieben aus: Der Norden kürzt seine Entwicklungsgelder und entzieht den Ländern des Globalen Südens weiterhin enorme Mittel, während letztere unter der Schuldenlast ächzen. Eine entschlossene Zivilgesellschaft forderte vor Ort Schritte gegen die wachsende Ungleichheit ein. Alliance Sud war mit dabei und gab laufend Einblick in die Debatten und Kämpfe in Sevilla.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Jochen Wolf
Jochen Wolf

Mitarbeiter in der Kommunikation

FfD4-Konferenz in Sevilla: Ein Schritt zu einer gerechteren Welt?

Protestierende tragen ihre Forderungen am Abend vor Konferenzbeginn auf die brütend heissen Strassen Sevillas. © Marisol Ruiz / Society for International Development (SID)

Letzter Konferenztag:
«Wir erklären hier den entwicklungspolitischen Bankrott»

Die Antworten auf die dramatische Schuldensituation in vielen Ländern fallen im «Compromiso de Sevilla» fast so bitter aus wie eine andalusische Orangenkonfitüre. Am Side Event «Inclusive Multilateralism and International Debt Architecture» machte das die indische Ökonomin Jayati Ghosh – die übrigens die Sonderausgabe «Der neue Deal» des Alliance-Sud-Magazins «global» mit einem Vorwort unterstützte  –  schnell klar. 2025 sei einmal als Jahr des Schuldenerlasses geplant gewesen. Erfüllt hat sich das nicht. Praktisch sämtliche Anliegen der überschuldeten Länder des Südens fielen auf dem Weg zur Schlusserklärung der Konferenz unter den Tisch. Zuallererst jene Forderungen nach dem Aufbau einer UNO-Schuldenkonvention, die einen Rahmen für staatliche Entschuldung schaffen soll. Innerhalb dieses Rahmens sollten die Interessen der Schuldnerländer und jene der Gläubiger aus dem Norden (Staaten sowie private Kreditoren, Banken und Rohstoffhändler) gleichberechtigt vertreten sein. Diese Hauptforderung des Globalen Südens und der internationalen Zivilgesellschaft hat es vor allem dank der Zivilgesellschaft zwar bis nach Sevilla, aber nicht in die Schlusserklärung der Konferenz geschafft. So präsentieren sich dann einzelne an der Konferenz lancierte Projekte zur Schuldenfrage wie Zimmer ohne Haus: an sich gut bewohnbar, aber schwer zugänglich, nicht gut miteinander verbunden und ohne Dach. Und das trotz einer extrem dramatischen Lage: Nach Angaben der UNCTAD, der UNO-Agentur für Handel und Entwicklung, haben 68 Entwicklungsländer ernsthafte Schuldenprobleme. 61 Prozent der Schulden aller Entwicklungsländer bestehen gegenüber privaten Gläubigern. Die Zinssätze, die Entwicklungsländer bezahlen müssen, sind viel höher als in den USA und der EU. In 48 Ländern des Globalen Südens, in denen 3,3 Mia. Menschen leben, sind die Zinszahlungen höher als die Ausgaben für Bildung oder Gesundheit. Der Schuldenreport 2025 der deutschen NGO erlassjahr.de, deren politische Referentin Malina Stutz neben Ghosh auf dem Podium sass, enthält dazu dramatische Zahlen: Libanon gibt 88% seiner Staatseinnahmen für die Bedienung seiner Schulden aus, Angola 56% oder der Senegal 32%.

 

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Jayati Gosh redet dem Westen in der Schuldenfrage ins Gewissen. © Alliance Sud

 

Ghosh formulierte fünf Punkte, die für eine gute Schuldenpolitik zentral wären:

  1. Verhandlungen über Schuldenerleichterungen bzw. -erlasse sollten zeitlich klar begrenzt sein und zwar auf drei bis sechs Monate und auf der Gleichbehandlung beider Seiten basieren.
  2. Während dieser Zeit braucht es ein Zahlungsmoratorium, das heisst der Schuldner zahlt dem Gläubiger weder Zinsen noch Schuldenanteile zurück.
  3. Schuldenerlasse dürfen nicht mehr für den Bailout privater Gläubiger eingesetzt werden. Das passiert, wenn staatliche Gläubiger die privaten auszahlen. 
  4. Staaten sollten in Entschuldungsverfahren nicht mehr zu massiven Sparmassnahmen gezwungen werden, wie das heute unter den Regimen des Internationalen Währungsfonds (IWF) der Fall ist. Entschuldung sollte im Gegenteil mit starken wirtschaftlichen Wachstumsprogrammen verbunden werden.
  5. Überschuldeten Ländern muss der Zugang zum Kapitalmarkt erhalten werden. Dass ausgerechnet jene Länder, die sowieso schon massive Liquiditätsprobleme haben, ganz vom Markt ausgeschlossen werden, verschärft die extremen Ungleichheiten am Kapitalmarkt zusätzlich.

Penelope Hawkins, Ökonomin der UNCTAD, unterstützte die sehr tiefgreifenden Reformvorschläge Ghoshs zwar nicht explizit, stellte aber ein Projekt im Rahmen der «Sevilla Plattform for Action» (SPA) vor, das einen sogenannten «Borrowers Club» ins Leben rufen will. Denn ein festes Gremium, in dem die Schuldner-Länder versammelt sind und sich auf ein gemeinsames Handeln im Rahmen des multilateralen Schuldenmanagements des «Common Frameworks» des IWF verständigen können, fehlt bis heute. Der «Borrowers Club» wäre die Spiegelung des «Paris Club», in dem die Gläubiger-Länder versammelt sind, und würde die Interessensvertretung der Schuldner beim IWF stärken. «Bisher finden solche Schuldner-Treffen nur in Notsituationen statt. Die Frage ist, wie wir solche Foren verstetigen können», so Hawkins. Das bleibt nach Sevilla in der Tat unklar. So wurde Hawkins drastisch: «Wir erklären hier den entwicklungspolitischen Bankrott: Im Unterschied zur Addis Abeba Action Agenda von 2015 werden die ärmsten Länder in der Schlusserklärung mit keinem Wort erwähnt. Wir haben keinen eigentlichen Umschuldungs-Mechanismus, aber trotzdem erhalten alle Gläubiger ihr Geld zurück.» Die Folgen seien extrem. «Wir können uns nur näherkommen, wenn wir den «Borrowers-Club» ins Leben rufen.»

Dass die Bemühungen des Globalen Südens und der internationalen Zivilgesellschaft, endlich Auswege aus der Schuldenfalle zu definieren, auch nach FfD4 auf massive Gegenwehr stossen werden, machten Aussagen von Robert Plachta, Leiter des Referats «Schuldenumstrukturierung und Pariser Club» im deutschen Finanzministerium, deutlich. Immerhin haben sich in diesem Jahr Gläubiger mit Sambia und mit Ghana auf eine Umstrukturierung der Schulden dieser beiden Länder geeinigt. Diese Einigungen bräuchten tatsächlich sehr viel – in den Augen von Jayati Ghosh zu viel – Zeit. Das liegt vor allem auch an privaten Gläubigern – in der Schweiz zum Beispiel prominent die Grossbank UBS oder der Rohstoffhändler Glencore. Plachta schloss vorerst mit einer Aussage, die man auch als Drohung verstehen konnte: «Wir Gläubiger müssen unser Geld zurückkriegen. Tun wir das nicht, hat das Konsequenzen. Es wird dann ganz einfach weniger geliehen.»

Das wiederum rief erneut Ghosh auf den Plan: Recherchen von erlassjahr.de-Referentin Malina Stutz würden zeigen, dass der Gewinn von privaten Gläubigern aus ihren Kreditgeschäften viel höher sei als das, was sie tatsächlich investierten. Unter dem Strich würden private Gläubiger von der finanziellen Not überschuldeter Länder profitieren. Was sie von Deutschland erwarte, sagte Ghosh und richtete sich direkt an Robert Plachta, sei, dass die heute grösste Volkswirtschaft der Welt anderen Ländern das zugestehe, was 1954 Deutschland ermöglicht wurde: dank einem umfassenden Schuldenerlass und aus einer extrem misslichen Situation heraus zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prosperität zurückzufinden. Plachta war ob dieses historischen Vergleiches ganz offensichtlich not amused.

Dann wurde der ghanaische Gewerkschafts-Ökonom Hod Anyigba von der «International Trade Union Confederation Africa» (ITUC-Africa) grundsätzlich: «Waren sie schon einmal dabei, wenn eine Mutter zu einer Bank geht, um ihr Dach reparieren zu können? Das Machtungleichgewicht ist extrem. Es ist an der Zeit, dass die Arbeiter:innen die Verantwortung für diese Dinge übernehmen. Was ist aus der Idee des Entwicklungsstaates geworden? Würde, Rechte, gutes Leben, wo sind diese Ideen hin? Was ich höre, wenn ich mit Gläubigern spreche, ist nur Profit, Profit, Profit. Bruder Robert [Plachta] muss zurück ans Zeichenbrett!» Jedes Haus habe eine Architektur, etwas völlig Selbstverständliches. Weshalb habe das Finanzsystem keine, fragte Anyigba und rief zu mehr Fantasie in der internationalen Finanzpolitik auf: «Weshalb dominieren immer noch die neoliberalen Dogmen? Denkt mal über heterodoxe Vorschläge nach!»

Diese Architektur des internationalen Finanzsystems könnte unter anderem im Rahmen einer UNO-Schuldenkonvention entwickelt werden. Das machte Malina Stutz von erlassjahr.de nochmals deutlich: «Das Thema der Inklusion ist wirklich zentral: Was wir mit Inklusivität meinen, ist, dass die Schuldner-Länder nicht einfach zu irgendwelchen Veranstaltungen eingeladen werden sollen, wo sie ein bisschen mitreden dürfen. Was wir wollen, ist ein Entscheidungsgremium, in dem sie gleichberechtigt sind.» Das wäre wohl die Voraussetzung dafür, dass – wie Malina Stutz betont – auch im Bereich der Staatsverschuldung das normal würde, was in gewöhnlichen Kreditverhältnissen schon immer normal war: Schuldenerlasse sind Teil jeder Kreditbeziehung.

Zum Schluss konterte Ghosh die Drohung Plachtas noch mit einer Warnung an «den Westen»: «Ich glaube nicht, dass die G7-Staaten begreifen, wie viel Glaubwürdigkeit sie in den letzten Jahren verloren haben: Pandemie, Impfstoffpatente, Rohstoffförderung: In all diesen Bereichen kam der Westen dem Süden nicht entgegen. Aber die EU braucht auch Freunde», und spielte damit auf die durch Trump stark gestörten transatlantischen Beziehungen an. «Wir haben es mit einer echten mangelnden Erkenntnis über die eigenen Interessen zu tun. Wenn sich der Westen nicht bewegt, wird die Welt Ihnen Dinge aufbürden, die Sie nicht mögen werden, aber ich werde das dann ausnahmsweise mal bejubeln.»

 

 

Donnerstag, 3. Juli
Nicht im SPA, sondern drauf: Steuern für Superreiche

Die Schweiz hat gerade ein Staatsoberhaupt, das auch die Finanzministerin ist. Auch Spaniens Vizepräsidentin María Jesús Montero ist die Finanzministerin. Damit hören die Ähnlichkeiten dann aber ganz schnell auf. So eröffnet Montero ein hochkarätig besetztes Panel zur Besteuerung der Superreichen mit dem Grundsätzlichen: Gerechte und progressive Steuersysteme sind die Basis für Demokratie, den Sozialstaat und Chancengleichheit. Egalitärere Staaten sind nicht nur demokratischer, sondern selbst die psychische Gesundheit der Menschen ist dort besser.

Spanien hat gemeinsam mit Brasilien, das damals den Vorsitz der G20 innehatte, im November 2024 in Rio de Janeiro die Besteuerung der Superreichen auf die Agenda gesetzt. Die Veranstaltung in Sevilla findet im Rahmen der Sevilla Platform for Action (mit der etwas verwirrenden Abkürzung «SPA») statt. Mit diesen, jeweils von einer Gruppe von Staaten unterstützten Initiativen, soll die Umsetzung der Schlusserklärung von Sevilla vorangetrieben werden.

 

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Ökonom Joseph Stiglitz, Senegals Ex-Premierministerin Aminata Touré und Susana Ruiz (Oxfam International) (v.l.n.r.), finden am FfD4 klare Worte für Steuervermeider und von ihnen angerichtete Schäden. © Alliance Sud

 

Joseph Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger, Harvard Professor und Doyen der intelligenten Globalisierungskritik beginnt mit der Aktualität: «Die USA zahlen gerade den Preis für Ungleichheit, deshalb erleben wir die Vereinnahmung durch die Tech-Oligarchie. Trump will seine Steuersenkungen für diese Oligarchie globalisieren. Es ist herzzerreissend, dass die G7 bei der Anwendung der OECD-Mindeststeuer auf US-Konzerne nachgegeben hat. In einer Stunde wurde das Ergebnis von 14 Jahren Verhandlungen zerstört.» In Richtung Spanien erinnert er daran, dass die Mehrheit der europäischen Länder in der G7 nicht mit am Tisch sitzt. Innerhalb der EU könnte also noch Druck ausgeübt werden.

Ebenfalls eingeknickt ist Kanada, das seine Steuer auf digitale Dienstleistungen fallen gelassen hat. «Das ist der erste Schritt auf dem Weg, der 51. Staat der USA zu werden», scherzt Stiglitz. «Digitale Unternehmen haben ihr Geld durch Steuerhinterziehung verdient, indem sie ihre Werbeeinnahmen in Irland verbuchen. Weil die dortigen Tochtergesellschaften aus dem Silicon Valley kontrolliert werden, bezahlen sie so gut wie keine Steuern», erklärt Stiglitz. «Die Instrumente zur Zerstörung von Demokratie und Multilateralismus sind Drohung und Angst. Aber die Welt kann nicht als Geisel genommen werden, eine Koalition der Willigen ist möglich. Die UNO-Steuerkonvention ist der Beweis, dass es auch Fortschritte im Steuerbereich gibt.»

Aminata Touré, Ex-Premierministerin von Senegal, holt aus: «Bei den Steuern zeigt sich ein Kontinuum der Ungerechtigkeit, unter der Afrika seit Jahrhunderten leidet. Wir würden gerne alles das besteuern, was unseren Ländern genommen wurde. Wir haben Schulden wegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung. Schulden, die viermal so teuer sind, wie diejenigen der Europäischen Länder. Warum? Weil wir in den Augen der Investoren ein hohes Länderrisiko haben. Und warum ist das Risiko hoch? Weil europäische Multis unsere Rohstoffe ausbeuten und keine Steuern zahlen. So fehlt das Geld, um die hohen Zinsen auf den Auslandsschulden zu bezahlen. Wir haben keine andere Wahl, als resilient zu sein und uns zu wehren. Deswegen hat sich die Afrikanische Union so stark für eine verbindliche UNO-Steuerkonvention eingesetzt. Wir wollen eine faire Verteilung des Rechts zur Besteuerung. Steuern sollen dort bezahlt werden, wo der Reichtum entsteht. Das ist deshalb schwer zu erklären, weil es so einfach ist. Jedes Schulkind versteht das: Je reicher, desto mehr Steuern.» Touré kritisiert die Absurdität der «Tax Holidays», die Rohstoffkonzernen gewährt werden und meint damit die jahrelangen Steuerbefreiungen der Konzerne. «Das kann dazu führen, dass Bergbaufirmen dann anfangen müssten zu zahlen, wenn die Mine erschöpft ist.»

Vítor Gaspar, der Direktor des Fiscal Affairs Department des Internationalen Währungsfonds (IWF) ergänzt, dass die Vereinfachung der Steuersysteme ebenfalls nötig ist, denn: «Komplexität ist der beste Freund der Steuerhinterzieher und Steuervermeider.» Oftmals, sei die Komplexität bewusst genau dafür geschaffen worden.

Joseph Stiglitz bilanziert: «Um herauszufinden, warum man die Superreichen besteuern muss, braucht man keinen Nobelpreis. Wir haben die Steueroasen geschaffen. Wir hätten sie regulieren können, doch wir haben ihre Existenz zugelassen. Sie existieren, weil sie für die Superreichen interessant sind. Wir brauchen globale Normen, wir brauchen globale Regeln. Die Aktionsplattform enthält die Schritte, die nötig sind, um Steuerhinterziehung zu erschweren.» Und Aminata Touré ergänzt: «Die UNO-Steuerkonvention ist ein perfektes Beispiel für Multilateralismus: Es geht um eine Win-Win-Situation für beide Seiten, nicht darum, dass ich superreich bin und du arm bleibst.»

 

 

Mittwoch, 2. Juli
Wer bezahlt für die Domestic Resource Mobilization?

Ein zentraler Pfeiler des «Compromiso de Sevilla» ist Domestic Resource Mobilization (DRM) mit dem Ziel, dass vor allem Länder des Globalen Südens mehr Steuereinnahmen generieren, um ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen von multinationalen Konzernen und Entwicklungsgelder der Staaten des Nordens zu reduzieren und ihre Wirtschaft und Gesellschaft von innen heraus zu entwickeln. Darüber waren sich die Panelist:innen am Side Event «Illicit Financial Flows, Fiscal Space and Fair Taxation: Advancing Africa-Europe Cooperation for a Unified Measurement and Reform Agenda Illicit Financial Flows» einig. Ein paar Haken gibt es allerdings auch bei DRM. Das zeigten im «Palacio de Congresso» verschiedene «Side-Events».

 

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Vertreter:innen aus Lateinamerika an einer zivilgesellschaftlichen Protestaktion im FfD4 Konferenzgebäude.
© Alliance Sud

 

  1. Chennai Mukumba, die Direktorin des Tax Justice Network Africa (TJNA) betonte, dass es zuerst darum gehen müsse, die Abflüsse von Konzerngewinnen und privaten Vermögen aus Ländern des Südens zu stoppen, bevor neue Steuern in diesen Ländern selbst eingeführt werden: «Wir sollten die Steuern einziehen, die es eigentlich schon gibt, bevor wir neue erschaffen.» Bei diesem Vorhaben setzt das TJNA ganz auf die UNO-Steuerkonvention. Die Verhandlungen über deren Ausgestaltung gehen im August im UNO-Hauptquartier in New York in eine neue Runde. 
  2. Steuern sind nicht per se sozial. Es geht nicht nur darum, wie viel Staaten damit einnehmen, sondern auch darum, wer sie bezahlt: Mit der Einführung einer Mehrwertsteuer beispielsweise – die der internationale Währungsfonds, die OECD oder die Weltbank armen Ländern gerne empfehlen – zahlen die Mittelschicht und Arme im Verhältnis viel mehr Steuern als Reiche, weil sie auch konsumieren müssen. Gleichzeitig ist sie auch für schlecht ausgestatte Steuerbehörden verhältnismässig einfach durchzusetzen. Bei der Vermögenssteuer verhält es sich umgekehrt: Hier zahlen die Reichen, ihre Umsetzung ist aber sehr kompliziert, da Vermögen im heutigen Finanzsystem praktisch schrankenlos um die Welt geschickt werden können, so dass sie nur dort sichtbar werden, wo die Vermögenden dafür keine oder möglichst wenig Steuern bezahlen müssen. Wenig überraschend wurde in diesem Kontext denn auch die Schweiz als schlechtes Beispiel erwähnt. In New York bietet sich ihr die (auf Grund der steuerpolitischen Ausrichtung der Schweiz leider nur theoretische) Chance, mit einer Unterstützung von global verbindlichen Regeln für Steuertransparenz und gegen -hinterziehung.

Dass der Kampf gegen die Steuerhinterziehung von Superreichen mit den OECD-Reformen der letzten 15 Jahre noch lange nicht gewonnen ist, betonte auch Giulia Mascagni, die Direktorin des «International Centre for Tax and Development»: «Vom automatischen Informationsaustausch von Bankkundendaten (AIA) zwischen den Ländern profitierte vor allem der Globale Norden.» Als Lösung dieses globalen Ungleichgewichts bei der Steuertransparenz plädierte Mascagni für mehr «Capacity Building», also für mehr Unterstützung der Steuerbehörden im Globalen Süden beim Aufbau entsprechender Infrastruktur und Expertise. Allerdings betonen Steuerexpert:innen aus diesen Ländern mittlerweile mantra mässig, dass man sich nicht aus global unfairen Steuerregeln herausrüsten kann. Für wen ein System zu den eigenen Ungunsten ausfällt, wird es sich nicht dadurch verändern, dass man es bis ins letzte Detail durchschaut. Insofern stimmte zuversichtlich, was der Vertreter des deutschen Finanzministeriums betonte: «Wenn Entwicklungshilfegelder immer spärlicher fliessen, braucht es umso mehr entschlossene Massnahmen gegen unlautere Finanzflüsse, dafür setzte sich die deutsche Regierung schon lange ein: Konzerne und Superreiche müssen ihren fairen Anteil an den globalen Steuerkuchen leisten.» Allerdings – und das ist der letzte Haken in dieser Geschichte – versprechen deutsche Regierungsvertreter im Ausland gerne Dinge, die sie zu Hause nicht halten können, daran muss auch der Wechsel vom rechtslibertären Ex-Finanzminister Lindner zum Rechtssozialdemokraten Klingbeil nicht unbedingt etwas ändern. Auch deshalb betonte wohl der Vertreter der Afrikanischen Union zum Schluss nochmals: «Wir brauchen unbedingt eine UNO-Steuerkonvention». Denn dort haben im Gegensatz zur OECD die Südländer eine Mehrheit. So spielt es nicht gross eine Rolle, ob die Deutschen dort ihr andalusisches oder ihr Berliner Gesicht zeigen.

 

 

Mittwoch, 2. Juli: Das ewige «Mehr desselben»

«Accelerating the Shift and Private Climate Investment at Scale – Catalytic Pathways to Scale Private Investment – Financing the Missing Middle – Unlocking Ecosystems for Inclusive Private Sector Growth –  Impact Investing, from Pioneering Innovations to Scalable Solutions – The Timbuktoo Initiative: Building the Future of Engagement with the Private Sector – Unlocking Blended Finance – Global Partnerships for Unlocking Private Capital – Originate to Share Models to Crowd in Private Capital».

Auch an der FfD4 ist De-Risking überall, diese Liste der Keywords der De-Risking-Agenda ist lediglich eine Auswahl und stammt nur vom Vormittag des 2. Juli. Und es handelt sich um offizielle Side-Events, nicht etwa um Veranstaltungen am Business-Forum. Doch es gibt auch eine Veranstaltung der Zivilgesellschaft mit Daniela Gabor, Ökonomin und Mitglied der UNO-Expertengruppe zu Financing for Development, die sich kritisch mit dieser Agenda auseinandersetzt.

 

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Die Ökonomin Daniela Gabor (rechts) spricht in Sevilla über uneingelöste Versprechungen des Privatsektors. 
© Alliance Sud

 

Gabor erinnert zu Beginn daran, dass Public Private Partnerships und De-Risking schon zentrale Pfeiler der «billions to trillons»-Agenda waren. Die Weltbank lancierte diese 2015, um die Addis Abeba Action Agenda (das Ergebnis der 3. UN Financing for Development-Konferenz) umzusetzen und die Erreichung der SDGs zu finanzieren. Wie eigentlich hätten aus den Billions die Trillions werden sollen? Obwohl es ein Weltbank-Slogan war, ging es nicht nur um die multilateralen Entwicklungsbanken, sondern auch um ein Projekt, den De-Risking State im Globalen Süden zu schaffen. Und es ging und geht darum, steuerfinanzierte IZA-Gelder aus dem Globalen Norden zu verwenden, um für grosse Investoren wie Blackrock oder Pensionsfonds «investable projects» zu schaffen. Also konkret, Risiken zu übernehmen, damit diese attraktive «risk-adjusted returns» für ihre Investitionen in Wasser, Strassen oder Energieprojekte erhalten.

Das hat definitiv nicht funktioniert, die Trillions sind ausgeblieben. Dennoch sind dieselben Konzepte in Sevilla mehr als dominant und auch die DEZA singt die De-Risking-Hymnen immer lauter – das SECO sowieso. Es hat, so Gabor, nicht deshalb nicht funktioniert, weil es zu wenig Geld von den multilateralen Entwicklungsbanken, dem «Global Gateway Project» der EU oder der Biden-Regierung für De-Risking gegeben hätte. Es klappte nicht, weil auch mit steuerfinanzierten Subventionen aus dem Globalen Norden die so finanzierten Grossprojekte für die Länder des Globalen Südens immer noch viel zu teuer waren.

Gabor gibt ein konkretes Beispiel, das Lake Turkana Wind Farm Project in Kenia, das die Biden-Administration begeistert vorangetrieben hatte. Der Leiter des National Economic Council, Brian Deese, war von BlackRock zur Regierung gewechselt, wo er 2018 eine neue Klimafinanzierungspartnerschaft zwischen BlackRock, den Regierungen von Frankreich und Deutschland, der Hewlett Foundation und dem Grantham Environmental Trust beaufsichtigte. Der CFP Fund war ein «Blended Finance»-Vehikel, für das Regierungen und Philanthrop:innen BlackRock 100 Mio. USD zur Verfügung stellten, um Klimainvestitionen im Globalen Süden zu mobilisieren, insbesondere die Mehrheitsbeteiligung am Lake-Turkana-Projekt. Doch die Abnahmeverträge mit garantierten Preisen überforderten den kenianischen Staat. Dessen Grosszügigkeit gegenüber der Wall Street war schliesslich so umstritten, dass sich die Regierung gezwungen sah, ein Moratorium für Stromabnahmevereinbarungen zu verhängen. Selbst lokale Industrieverbände beschwerten sich, dass die hohen Energiekosten die Bemühungen für eine grüne Industrialisierung untergraben.

(Klammerbemerkung: Inzwischen gibt es die «small is beautiful»-Version von De-Risking, bei der Investitionen mit «Impact» zur Umsetzung einzelner SDGs gefördert werden sollen, nicht nur Grossprojekte im Bereich der Infrastruktur. Diese sollen direkt «beneficiaries» (Begünstigte) im Globalen Süden erreichen. Allerdings müssen die Begünstigten z.B. für erneuerbare Energien auch bezahlen, denn irgendwoher müssen die Renditen ja kommen. Die «beneficiaries» sind trotz der IZA-Terminologie also in Wahrheit einfach Kund:innen und Kreditnehmende. Es ist diese Version der De-Risking-Agenda, die auch von der Schweiz vorangetrieben wird.)

Daniela Gabor betont, dass der anhaltende De-Risking Hype auch deswegen sehr gefährlich ist, weil er die wichtigste Erkenntnis seit 2008 nicht zur Kenntnis nimmt. Diejenige nämlich, dass das staatlich gelenkte chinesische Modell der Entwicklung spektakulär erfolgreich war, während die Rezepte des ultraliberalen Washington Consensus kolossal gescheitert sind. Zum Erfolgsrezept eines Entwicklungsstaates, der auch für Afrika entscheidend ist, gehört, dass das private Kapital diszipliniert werden muss, d.h. es muss sich an die staatlichen Pläne und Prioritäten halten. Es braucht dazu Überzeugungskraft und staatliche Ressourcen und Personal, also Bürokrat:innen und Technokrat:innen. Diszipliniert werden, kann das ausländische ferne und übermächtige Kapital aber kaum und der De-Risking Staat ist ein geschwächter Staat, kein Entwicklungsstaat. 

Daniela Gabor schliesst etwas resigniert. Sie kann nicht verstehen, warum die De-Risking-Agenda in Sevilla noch mehr Getöse verursacht als in Addis Abeba. Und dies nicht nur im Business Forum, sondern überall. Und dies zunehmend auch bei Uno-Organisationen wie Unctad. Die Anhänger:innen der De-Risking-Agenda «scheitern aufwärts», mit vielfältigeren Begriffen (siehe oben), diskursiv angepassten Rezepten und neuen Versprechen wird die gescheiterte Agenda immer weiter vorangetrieben. «Why do they always win?» bleibt im Raum schweben.

Also, dann halt over to the winners, zum Side Event von Morgan Stanley und der Boston Consulting Group; der Titel klingt ja vielversprechend: «Changes to the development financing landscape: facts and perspectives in a reordered world». Doch – huch – «Invitation Only», klar doch, wer die Welt neu ordnet, macht das lieber hinter verschlossenen Türen.

 

 

Dienstag, 1. Juli: Perlen aus dem Pazifik

Im allgemeinen Wahnsinn einer Konferenz mit Hunderten von Plenaries, Multi-Stakeholder Roundtables, Initiative Announcements, Special Events, Side Events und einem International Business Forum gibt es manchmal auch Perlen zu finden. Zum Beispiel einen Side Event zum Thema «Entwicklungsfinanzierung neu denken» mit Teilnehmenden aus der Gruppe der Small Island Developing States (SIDS) aus dem Pazifikraum und der Karibik.

 

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Einsetzen von Mangrovensetzlingen an Kiribatis Küste. Auf Pazifikinseln sichern sie erodierende Lebensräume.
© Keystone/LAIF/Barbara Dombrowski

 

Sie diskutieren die Development Bank for Resilient Prosperity (DBRP) oder schöner die «Nature Bank», eine Initiative der Inselstaaten, die 2023 lanciert wurde. Im Vergleich zum polierten Diskurs rund um «Mobilizing Private Resources», «Blending» und «De-Risking» gibt es hier Unerhörtes zu hören.

Hyginus Leon, der Executive Director der DBRP wird grundsätzlich: «Wir wiederholen an dieser Konferenz immer wieder die Rezepte, die uns in die Vielfachkrise gebracht haben. Das ist ein Zeichen von Wahnsinn. Wir sind von der Idee ausgegangen, dass die Welt über unendliche Ressourcen verfügt. Aber die Natur ist endlich. Man kann Probleme nicht lösen, ohne darüber nachzudenken, woher sie kommen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel.»

Weiter sagt Leon: «Folglich geht es nicht nur um eine Bank, vielmehr geht es hier um eine Bewegung zur Rettung der Zivilisation.» Zentral sei der Übergang von grauen produzierten Vermögenswerten zu naturbasierten Lösungen, was nicht nur dem Planeten zugutekomme, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll sei. «Mangroven haben denselben Wert wie Strassen und Wälder denselben Wert wie Holz. Betrachten wir die Natur als Vermögenswert, so können wir mehr Erträge und mehr Geld für kleine Inselstaaten und am wenigsten entwickelte Länder erreichen», sagt Leon.

Aber was sollen denn nun die naturbasierten Erträge sein? Einige Beispiele, die in karibischen und pazifischen Ländern auch dank geschützten Meeresgebieten bereits existieren: Die Ernte und Verarbeitung von Seegras, Ökotourismus, nachhaltige Fischerei, die Gewinnung von Nahrungsmitteln und pharmazeutische Produkte.

Es gibt auf der Welt über 500 Entwicklungsbanken, zum grössten Teil nationale oder subnationale Banken. Warum braucht es also noch eine neue Bank? Adama Marinko von Finance in Common sagt dazu: «Wir brauchen eine Bank, die ganz neu konzipiert ist und sich nicht nur aus dem Bestehenden entwickelt. Natürlich wäre auch hier die Schaffung von Arbeitsplätzen zentral, aber es geht auch um eine neue globale Solidarität durch die Schaffung von Resilienz.»

Die Unterschiede zwischen der Nature Bank, der Weltbank und den multilateralen Entwicklungsbanken seien gross, denn deren Sichtweise «basiert immer auf Risiken, niemals auf Chancen. Deshalb verliert der globale Süden und ganz besonders SIDS und die Least Developed Countries (LDCs), weil ihre Risiken so hoch eingeschätzt werden», sagt Ritu Bharadwaj vom International Institute for Environment and Development.

Die Development Bank for Resilient Prosperity hat ein ganz anderes Konzept von Risiken. Es geht nicht um die Risiken für Investoren, sondern um die Risiken für Menschen. Hier braucht es ein «De-Risking». «Unser Mass für Risiken ist Resilienz. Es geht um Wohlstand und Wohlergehen für Menschen und Volkswirtschaften, um Gemeinschaften und den Planeten», betont auch Leon von der DPRB. «Wir müssen Resilienz, Wiederherstellung und Gerechtigkeit finanzieren – die Welt ist bereit für etwas Neues», ergänzt Sergio Fernandes de Cordova von der Public Foundation.

Der Side Event endet mit der Zuversicht, dass die Nature Bank von einer Idee zu einem Umsetzungsinstrument des Compromiso de Sevilla wird. Das wäre auf jeden Fall ein grosser Erfolg für kleine Inselstaaten.

 

 

Montag, 1. Juli: Konferenzbeginn

Die Eröffnungsworte von Felipe VI. von Spanien haben wir leider verpasst. Um seiner Majestät eine angenehme Ankunft zu ermöglichen und um seine maximale Sicherheit zu garantieren, brachten die Behörden den Verkehr in der Innenstadt Sevillas zum Erliegen. Unzählige Konferenzteilnehmende steckten in zähen Staus fest, wir organisierten unterdessen unsere Badges. Vor dem König sprach die spanische Aussenministerin Arancha González. Während sie ihre Willkommensgrüsse in die noch sehr erlauchte Runde des Auditoriums des Kongresszentrums Fibes schickte, kurvten wir noch im öffentlichen Bus herum, auf der Suche nach einem offenen Weg dorthin. “Sevilla welcomes the world with open arms”, hörten wir González im UN-Web-TV sagen. Nun ja. Geschlossen sind hier nicht nur viele Strassen, sondern bereits auch der Abschlusstext der Konferenz. Aus der Perspektive der Zivilgesellschaft in Nord und Süd stellt dieser keinen Fortschritt in Richtung einer ausreichenden Finanzierung nachhaltiger Entwicklung dar – mehr dazu hier in unserem Medienhintergrund-Papier. Verhandelt wird hier nichts mehr. Das macht es vielleicht etwas verkraftbarer, dass die Zivilgesellschaft aus jenen Veranstaltungen, wo Regierungen direkt miteinander sprechen, mehrheitlich ausgeschlossen wurden. Trotzdem bleibt das ein extrem verheerendes Zeichen der UNO in einer Zeit, wo der politische Spielraum für NGOs auf der ganzen Welt eingeschränkt wird: zum Teil mit den Mitteln nationaler Finanzpolitik (wie etwa durch die Kürzungen in der internationalen Zusammenarbeit in der Schweiz), aber leider auch durch direkte politische Repression. Staaten, die einen autoritären Weg eingeschlagen haben, fühlen sich durch diese mangelnde Verpflichtung der UNO zu inklusiven und demokratischen Verfahren wohl ermutigt. So geht es für die globale Zivilgesellschaft in Sevilla nicht nur darum, ihre trotz aller Widerstände immer noch vorhandene Stärke zu demonstrieren, sondern in den hunderten Side-Events der Konferenz auf die verpassten Chancen von FfD4 zu insistieren und die nächsten Schritte Richtung Entschuldung, eines gerechten globalen Steuer- und Finanzsystems und strenger Konditionen für den Privatsektor, der von öffentlichen Entwicklungsgeldern profitieren will, anzugehen – stay tuned.

Medienmitteilung

Die Schweiz darf in Sevilla keine Siesta einlegen

30.06.2025, Entwicklungsfinanzierung

In Sevilla beginnt heute die vierte internationale UNO-Entwicklungsfinanzierungskonferenz (FfD4). Am Sonntagabend demonstrierten zivilgesellschaftliche Organisationen aus der ganzen Welt für eine gerechtere Wirtschaftsordnung. Die Schlusserklärung steht bereits fest und enthält keine entscheidenden Fortschritte gegen die globale Vielfachkrise. Immerhin formuliert sie wichtige Absichtserklärungen zur Steuer- und Entschuldungspolitik, die auch die Schweiz zum Handeln veranlassen sollten.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

+41 31 390 93 35 dominik.gross@alliancesud.ch
Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

+41 31 390 93 34 marco.faehndrich@alliancesud.ch
Die Schweiz darf in Sevilla keine Siesta einlegen

Die wichtige UNO-Konferenz wird von einer rekordhohen Staatsverschuldung im Globalen Süden, vom Abseitsstehen der USA und der für den 1. Juli angekündigten vollständigen Auflösung der Entwicklungsagentur USAID überschattet. In Sevilla geht es aber bis Donnerstag um viel mehr als «Entwicklungsfinanzierung» im Sinne der Internationalen Zusammenarbeit (official development assistance, ODA). Die Frage, wie die ärmeren Länder mehr eigene Mittel aufbringen können, steht im Zentrum. Damit figurieren auch Massnahmen gegen Steuervermeidung und unlautere Finanzflüsse prominent auf der Agenda. Ebenso spielen die Themen Schulden und Entschuldung, Handel und Entwicklung, systemische Fragen der internationalen Finanzarchitektur und die Rolle von Unternehmen und entsprechende staatliche Förderungen eine zentrale Rolle; alles Themen, die insbesondere reiche Länder wie die Schweiz in die Pflicht nehmen.

«Die offizielle Schweiz hat bisher nicht geglänzt, wenn es darum ging, dem Multilateralismus, der Entwicklungszusammenarbeit und der Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung den Rücken zu stärken», sagt Dominik Gross, Finanz- und Steuerexperte von Alliance Sud. «Wir erwarten von der Schweiz, dass sie die UNO-Diskussionen und -Prozesse ernst nimmt und konstruktiv mitarbeitet, anstatt aus Eigeninteresse zu blockieren oder zu verschlafen», sagt Dominik Gross.

In unserem Medienhintergrundpapier erfahren Sie, in welchen Bereichen die Schweiz dringend mehr Verantwortung übernehmen sollte.

«Der neue Deal»: Das Sonderheft des Magazins «global» skizziert, wie eine neue Schweiz für eine gerechtere Welt aussehen könnte.

Für weitere Informationen:
Vor Ort in Sevilla: Dominik Gross, Finanz- und Steuerexperte Alliance Sud,
Tel. +41 78 838 40 79, dominik.gross@alliancesud.ch

Für allgemeine Anfragen:
Marco Fähndrich, Medienverantwortlicher Alliance Sud,
Tel. 079 374 59 73, marco.faehndrich@alliancesud.ch

Medienmitteilung

Verpasste Chancen in Addis Abeba

16.08.2015, Entwicklungsfinanzierung

Die Addis Abeba Action Agenda ist unter Dach und Fach. Während die Diplomaten die Verhandlungen als Erfolg feiern, kritisiert die Zivilgesellschaft das Resultat als ungenügend.

Verpasste Chancen in Addis Abeba

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Die internationale Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba war geprägt vom Streit um unlautere Finanzflüsse und Steuerfragen. Die Entwicklungsländer forderten ein neues intergouvernementales Gremium, um bei der internationalen Zusammenarbeit gegen die Steuerflucht und die Steuervermeidungspraktiken multinationaler Konzerne endlich gleichberechtigte Mitsprache zu erhalten. Die Industrieländer blockierten dieses wichtige Anliegen jedoch erfolgreich. Das bereits bestehende Steuerkomitee der Uno wird zwar mit mehr Ressourcen ausgestattet, aber die wichtigen politischen Entscheidungen werden weiterhin in der OECD fallen – unter Ausschluss des globalen Südens.

Doch nicht nur in der Steuerfrage mussten die Entwicklungsländer klein beigeben. Die reichen Industrieländer sind auch nicht bereit, sich auf eine Frist für das vor Jahrzehnten gegebene Versprechens einzulassen, 0.7% ihres jeweiligen Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Zwar bestätigen sie im heutigen Schlussdokument der Konferenz das 0.7%-Ziel; ohne einen verbindlichen Zeitrahmen ist dieses Versprechen jedoch nur wenig wert.

Immerhin konnten die Entwicklungsländer in Addis Abeba durchsetzen, dass es im Uno-Rahmen weiterhin eigenständige Konferenzen zur Entwicklungsfinanzierung geben wird. Auch soll an diesen Konferenzen weiterhin über die grossen Fragen der Weltwirtschaft und die Mitsprache der Entwicklungsländer in der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds diskutiert werden. Dafür gelang es den reichen Industrieländern, weitere Diskussionen um ein geregeltes Verfahren zur Restrukturierung von Staatsschulden abzublocken. Die Entwicklungsländer werden also ähnlich wie Griechenland weiterhin neue Kredite aufnehmen müssen, um alte und oft illegitime Schulden abzustottern.

Für Alliance Sud sind an der Konferenz von Addis Abeba wesentliche Chancen verpasst worden, um eine nachhaltige Zukunft zu finanzieren. Die Ablehnung der Hauptforderungen der Entwicklungsländer wird an der Klimakonferenz vom Dezember in Paris den Druck erhöhen, weitere Mittel im Kampf gegen den Klimawandel zu generieren. Notabene sind die Entwicklungsländer speziell von den Folgen des Klimawandels betroffen. Ein weiteres Mal dürfen sich die Industrieländer also nicht vor der Verantwortung drücken, ihren Teil zu einer nachhaltigen und gerechten Entwicklung beizutragen.

Medienmitteilung

Ringen um Entwicklungsfinanzierung

13.07.2015, Entwicklungsfinanzierung

Heute beginnen in Addis Abeba die Verhandlungen um einen Finanzierungsrahmen für nachhaltige Entwicklung. Über 600 NGOs rufen dazu auf, die nötigen Finanzen sicherzustellen.

Ringen um Entwicklungsfinanzierung

Im September sollen die Uno-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDG) verabschiedet werden. Bereits heute wird in Addis Abeba, Äthiopien, über einen Rahmen zur Finanzierung dieser Ziele verhandelt. Aus Sicht von Alliance Sud sind die bisherigen Verhandlungsergebnisse allerdings enttäuschend. Einigkeit herrscht bloss bezüglich der Tatsache, dass enorme Summen notwendig sein werden, um die Ziele zu erreichen. Aber woher soll das Geld kommen? Mit Ausnahme von einigen wenigen Ländern sind die reichen Industrieländer nicht bereit, ihr Versprechen einzulösen und 0.7% ihres Nationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Einspringen soll einerseits der Privatsektor, andererseits die Entwicklungsländer selber, die durch effizientere Verwaltungen ihre Steuereinnahmen erhöhen sollen.

Für Alliance Sud braucht es eine klare Frist zur Erreichung des 0.7%-Ziels. Ohne Frist ist eine Bekräftigung des vor Jahrzehnten gegebenen Versprechens nichts wert. Zweitens braucht es ein universelles, intergouvernementales Gremium für Steuerfragen. Um das Potential selber generierter Steuereinkommen auszunutzen, müssen Entwicklungsländer nicht nur nationale Steuergesetze besser umsetzen, sondern auch die internationalen Regeln in Steuerfragen mitbestimmen können. Durch Steuerhinterziehung entgehen den Entwicklungsländern jährlich Einnahmen in Milliardenhöhe. Und drittens braucht es für private Investitionen nicht nur Anreize, sondern klare Rahmenbedingungen, um diese in nachhaltige Projekte zu lenken.

Am Vorabend der Konferenz verabschiedete Alliance Sud gemeinsam mit über 600 zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Erklärung. Darin wird die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, mit einem ambitionierten Schlussdokument ein starkes Zeichen zu setzen. Ein solches ist notwendig für die Glaubwürdigkeit, dass es der Staatengemeinschaft ernst ist mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung und der Bekämpfung des Klimawandels, über die später im Jahr verhandelt wird.

Artikel

Ein (zu) kleiner Schritt

21.07.2015, Entwicklungsfinanzierung

Nach der Konferenz ist vor der Konferenz. Eva Schmassmann über das magere Ergebnis der Konferenz für Entwicklungsfinanzierung vom Juli 2015 in Addis Abeba. Und die Aussichten für die nachhaltigen Entwicklungsziele.

Ein (zu) kleiner Schritt

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

«Wir sind die erste Generation, die der Armut ein Ende setzen kann, und die letzte, die die schlimmsten Folgen des Klimawandels abwehren kann.» Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon wird nicht müde, mit diesen Worten auf die Chance und die Dringlichkeit hinzuweisen, mit der wir konfrontiert sind. Die internationale Staatengemeinschaft hat dieses Jahr die Gelegenheit, an drei Konferenzen Ban Ki-moons Appell Folge zu leisten. Letzte Woche fand in Addis Abeba die dritte internationale Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung statt. Im September sollen in New York die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung verabschiedet werden, und im Dezember findet der Klimagipfel in Paris statt.

Die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) sollen die dieses Jahr auslaufenden Millennium-Entwicklungsziele ablösen. Die SDG sind ein ambitioniertes Rahmenwerk, um die Welt bis 2030 in eine nachhaltige Zukunft zu führen. Dazu gehört unter anderem die Ausrottung extremer Armut, der Schutz und Erhalt unserer Ökosysteme, aber auch der Wandel hin zu nachhaltigen Produktions- und Konsumstrukturen. Die Entwicklungsländer konnten sich mit ihrer Forderung durchsetzen, bereits vor der Verabschiedung der SDG durch die Uno-Generalversammlung über die Finanzierung dieser globalen Agenda zu diskutieren. Denn, soweit sind sich alle einig, zur Erreichung der SDG werden enorme Summen Geld benötigt.
Das Gastgeberland der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung, Äthiopien, ist selbst eines der ärmsten Länder der Welt, das vor kapitalen Herausforderungen steht. Rund zwei Drittel der Bevölkerung muss mit täglich weniger als zwei US-Dollar überleben. Analphabetenrate und Kindersterblichkeit sind enorm hoch. Die Konferenz in Addis Abeba hatte sich nicht das Ziel gesetzt, eine konkrete Summe Geld zu sprechen. Denn Geld allein reicht nicht, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Die Konferenz sollte vielmehr aufzeigen, welche Voraussetzungen es für nachhaltige Entwicklung braucht. Eine zentrale Rolle spielen dabei Änderungen im internationalen Finanzsystem, um bestehende Geldflüsse für die Entwicklung verfüg- und nutzbar zu machen. Doch just hier hat es die Konferenz verpasst, notwendige strukturelle Änderungen voranzutreiben.

Noch immer fliessen mehr Gelder vom globalen Süden in den Norden als umgekehrt. Laut einem Uno-Bericht verliert Afrika jährlich rund 50 Milliarden US-Dollar durch unlautere Finanzflüsse. Das ist doppelt so viel, wie der Kontinent jährlich an Entwicklungsgeldern erhält. Die Datenlage ist allerdings schwach und es ist anzunehmen, dass die Finanzabflüsse sogar weit grösser sind.
Eine zentrale Forderung von Alliance Sud ist darum, diese unlauteren Finanzflüsse wirksam zu bekämpfen, zu verhindern, dass unversteuerte oder illegal erworbene Vermögen in ausländische Steueroasen verfrachtet werden. Dafür braucht es die enge Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Zielländern der dubiosen Gelder. Bis heute werden die Regeln für internationale Steuerpolitik von den reichen Industrieländern in der OECD bestimmt. Entwicklungsländer fordern darum seit langem eine Zusammenarbeit in Steuerfragen auf Augenhöhe im Rahmen der Uno. In Addis Abeba hätte die Gelegenheit genutzt werden können, um endlich ein zwischenstaatliches Gremium für Steuerfragen zu schaffen. Dies umso mehr als die Industrieländer verlangen, dass die Entwicklungsländer vermehrt eigene Ressourcen mobilisieren, sprich die nationalen Steuereinnahmen erhöhen. Dabei sind legale Steuervermeidungspraktiken und die Steuerflucht multinationaler Firmen nachweislich die Haupthindernisse bei der einheimischen Ressourcenmobilisierung. Doch die OECD-Länder beharrten auf ihrer Machtposition und haben die Schaffung dieses neuen Gremiums bis zur letzten Minute bekämpft. Auch auf die Gefahr hin, die Konferenz scheitern zu lassen. Zum Schluss haben die Entwicklungsländer klein beigegeben und in ein Abschlussdokument ohne Steuergremium eingewilligt.

Äthiopien stand dabei besonders unter Druck – und hat den Druck afrikanischen und anderen Entwicklungsländern weitergegeben. Als Gastgeberland lag ihm daran, die Konferenz zu einem Abschluss zu bringen. Die nächsten zwei Konferenzen finden in New York und Paris statt. Wie wird es dort um die Kompromissbereitschaft des Nordens bestellt sein? Denn eines ist nach Addis Abeba klar: Ban Ki-moons Wunsch wurde (noch) nicht erfüllt. Es sind noch viele, grössere Schritte notwendig, um der Armut ein Ende zu setzen und den Klimawandel zu bekämpfen.

Meinung

Mikrokredite: Das Banking mit den Armen

16.03.2017, Entwicklungsfinanzierung

Mikrokredite und ihre Institutionen stehen im Ruf eine Erfolgsgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit zu sein. Doch es gibt zahlreiche Schattenseiten.

Mikrokredite: Das Banking mit den Armen

© PANOS/Petterik Wiggers

von Bruno Stöckli, ehemaliger Mitarbeiter Alliance Sud

In den südlichen Hemisphären war es lange den nationalen Agrar- und Gewerbebanken vorbehalten, die Kleinunternehmen mit Krediten zu versorgen. Ende der 1980er-Jahre kam das Ende dieser als «Durchlaufsysteme für subventionierte Entwicklungskredite» geschaffenen Banken. Miserable Rückzahlungsquoten waren dafür verantwortlich, aber auch die Tatsache, dass die günstigen Krediteon den Eliten abgeschöpft wurden.

Der Zusammenbruch der Kredit-Durchlaufsysteme war die Geburtsstunde der Mikrofinanzinstitutionen (MFI). Gegen 70’000 mit Millionen von Kunden und Kundinnen sollen es heute sein. Drei Erfolgsfaktoren erklären ihre weltweite Verbreitung:

  1. Dank konsequenter Verbindung des Passiv- und Aktivgeschäfts konnte die Palette von Finanzdienstleistungen den Bedürfnissen der Klientel angepasst und um das Spar- und Versicherungsgeschäft erweitert werden.
  2. Ihre Kundennähe senkt Transaktionskosten – je näher beim Kunden, umso kleiner die Kosten und Ausfallrisiken eines MFI; und
  3. Viele MFI investieren in die Selbsthilfebemühungen ihrer Klientel, zum Beispiel im Aufbau von Verkaufsgenossenschaften, ganz nach dem Motto: «Gute Produzenten sind gute Risiken.»

Die Erfolgsstory hat aber auch Schattenseiten. Nicht alle MFI schaffen innerhalb nützlicher Frist den Turnaround zur finanziellen Unabhängigkeit. Viele MFI bleiben abhängig von Entwicklungsagenturen, verbunden mit dem Risiko der Fremdbestimmung.

Aus entwicklungspolitischer Sicht ist die entscheidende Frage heute nicht mehr, ob Kredite armutswirksam sind, sondern welche finanzielle Infrastruktur die Ökonomien der Mittellosen stärkt. Klar, der Kleinkredit ist Bestandteil davon. Nur müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Geldpumpen die Armutsprobleme vor Ort lösen. Das Wirtschaften in Armut ist vielschichtiger und verlangt ein breites Set an Finanzdienstleistungen. Zudem gilt es, Grenzen und Gefahren zu erkennen.

Für viele MFI sind «soziale Kredite» kein Tabu mehr; auch die ­Grameen Bank hat damit experimentiert. Entwicklungspolitisch ist diese Entwicklung fragwürdig, nicht nur, weil solche Investitionen keinen Ertrag für die Rückzahlung garantieren. Gesundheitsversorgung und Bildung sind die Kernaufgaben jedes Staates und dürfen nicht an das Mikrofinanzwesen delegiert werden.

Die Mobilisierung interner Ersparnisse ist entwicklungspolitisches Kredo ersten Ranges. Das «social investment» soll helfen, das lokale Investitionskapital zu erhöhen, darf aber nicht dazu führen, die interne Grundlage dazu zu substituieren. Die Mikrokreditfonds müssen sich ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung und Verantwortung bewusst sein.

Die Liste von MFI, die lange erfolgreich gewirtschaftet haben und trotzdem in finanzielle Schieflage geraten sind, ist lang. Verantwortlich sind mitunter externe Investoren und Entwicklungsagenturen, die in grossem Massstab Kreditlinien durch MFI kanalisierten und sie damit operativ überforderten und die Kreditausfallraten hochschnellen liessen.

Im Namen der Entwicklung werden auch Investitionen getätigt, die entwicklungspolitisch mehr als fragwürdig sind. So stecken hinter dem weit verbreiteten Phänomen des «land grabbing» (Landentnahme) auch lokale Eliten. Nur effektive Massnahmen, die eine konsequente Zielgruppenorientierung (targeting) ermöglichen, können dies unterbinden.

Autor Bruno Stöckli ist Agrarökonom und hat in den 80ern zum Thema ländliches Finanzwesen in Afrika promoviert und später verschiedene MFI in Afrika begleitet. Zudem war er 15 Jahre bei Alliance Sud für Themen wie Verschuldung und Zivilgesellschaft verantwortlich.

Dieser Artikel wurde in der KMU Rundschau (Ausgabe 1/2017) publiziert.

Mobilisierung inländischer Ressourcen

Mobilisierung inländischer Ressourcen

Alliance Sud unterstützt internationale Bestrebungen hin zu mehr Transparenz und besseren Regulierungen im globalen Steuerwettbewerb, damit die Gewinne da versteuert werden, wo sie erwirtschaftet werden und die Länder des Globalen Südens ihre eigenen Mittel für nachhaltige Entwicklung aufbringen können.

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Worum es geht

Die Mobilisierung inländischer Ressourcen in den Entwicklungsländern selbst («Domestic Resource Mobilisation, DRM») ist ein zentraler Teil der internationalen Entwicklungsfinanzierung. Die Steuereinnahmen sind in den Ländern des Globalen Südens deutlich geringer als in den meisten OECD-Ländern; dies zu einem grossen Teil aufgrund von Steuerflucht und Gewinnverschiebungen in Steueroasen wie die Schweiz. Alliance Sud kritisiert die schädliche Rolle der Schweiz, die sich auf Kosten der Ärmsten ein Steuerdumpingregime leisten kann, das nur deshalb funktioniert, weil Steuersubstrat aus aller Welt angezogen wird.

Deshalb unterstützt Alliance Sud internationale Bestrebungen hin zu mehr Transparenz und besseren Regulierungen im globalen Offshore-System und stellt sicher, dass die Verwaltung und das Parlament positive Entwicklungen wie die Verhandlungen zu einer UNO-Steuerkonvention oder den internationalen Trend hin zu öffentlichen Registern wirtschaftlich Berechtigter (Besitzern) von Firmen nicht einfach ignorieren können.

Artikel, Global

Noch keinen Cent zurückgegeben

27.03.2023, Entwicklungsfinanzierung

Die im September zur Verwaltung von 3,5 Milliarden USD der afghanischen Zentralbank gegründete Stiftung mit Sitz in Genf geht auf Nummer sicher – und bleibt untätig. Die Schweiz scheint sich der amerikanischen Position anzuschliessen.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Noch keinen Cent zurückgegeben
Ein Teil der Auslandsreserven der afghanischen Zentralbank liegt nun in der Schweiz.
Im Archivbild: Ein Mann bewacht die alte Währung in Kabul.
© KEYSTONE / AP / MANISH SWARUP

Am 14. September kündigte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) überraschend die Gründung einer Stiftung namens «Fund for Afghan People» in Genf an, die von den USA und der Schweiz unterstützt wird. Trotz des etwas irreführenden Namens handelt es sich um eine Stiftung nach Schweizer Recht zur Verwaltung von Auslandreserven der Zentralbank von Afghanistan (DAB) im Umfang von 3,5 Milliarden USD, die in den USA eingefroren waren. Als die Taliban im August 2021 Kabul zurückeroberten, blockierte Washington die 7 Milliarden USD der afghanischen Zentralbank, die in den USA gelagert sind. Grundlage dafür war ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz, das das Einfrieren von Geldern von Staaten ermöglicht, die den Terrorismus unterstützen. Die Hälfte davon wird für die Familien der Opfer des 11. Septembers zurückgehalten; ob diese Summe tatsächlich freigegeben wird, ist unklar. Solange die Beteiligung der Taliban am Anschlag nicht bewiesen ist, dürfte das Geld nicht verfügbar sein.

Bleiben also noch die 3,5 Milliarden, die langfristig an die DAB zurückerstattet werden müssen. Derzeit liegen sie auf einem Konto der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich mit Sitz in Basel. Die Stiftung bzw. der «Afghan Fund» beabsichtigt, die Gelder häppchenweise zurückzugeben. Ihr Zweck ist nicht die Finanzierung humanitärer Hilfe, sondern die Stärkung der makroökonomischen Stabilität Afghanistans, das Drucken neuer Banknoten, das Begleichen von Zahlungsrückständen oder die Finanzierung von Stromimporten. All dies soll es dem Land ermöglichen, seinen Sitz in den internationalen Finanzinstitutionen zu halten und somit humanitäre Hilfe zu erhalten.

Veto der USA möglich

Der Stiftungsrat besteht aus vier Personen: auf Schweizer Seite Botschafterin Alexandra Baumann, Leiterin der Abteilung Wohlstand und Nachhaltigkeit des EDA; auf afghanischer Seite zwei Wirtschaftswissenschaftler, Anwar-ul-Haq Ahady, ehemaliger Leiter der DAB und ehemaliger Finanzminister, und Shah Merhabi, Professor am Montgomery College; auf amerikanischer Seite ein Vertreter des Finanzministeriums, Andrew Baukol. Die Entscheidungen werden einstimmig getroffen; wenn eines der vier Mitglieder sich gegen einen Vorschlag ausspricht, geschieht nichts.

Doch die Zeit vergeht und bisher hat Afghanistan noch keinen Cent gesehen. Der Stiftungsrat hielt seine erste Sitzung am 21. November in Genf ab, wo er beschloss, eine externe Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zu beauftragen und einen Exekutivsekretär einzustellen. Es wurden aber keine Auszahlungsbeschlüsse gefasst, und das ist in absehbarer Zeit auch nicht zu erwarten.

Dr. Merhabi, Professor für Wirtschaftswissenschaften, wird langsam ungeduldig. Er erklärte gegenüber der Online-Zeitung «In These Times», dass angesichts der katastrophalen Lage in Afghanistan dringend mindestens 100 Millionen US-Dollar pro Monat benötigt würden, um die Inflation einzudämmen, den Wechselkurs zu stabilisieren und die Importe zu bezahlen. Die USA verlangen jedoch äusserst strenge Garantien: Die DAB muss ihre Unabhängigkeit von politischen Instanzen nachweisen, angemessene Kontrollen gegen Geldwäscherei und Terrorismusbekämpfung durchsetzen und ein externes Audit durchführen.

Schweiz auf einer Linie mit den USA

Was ist die Haltung der Schweiz? Bei einem Treffen mit Alliance Sud im September hatte das EDA versichert, dass die Stiftung völlig transparent verwaltet werde. Vor kurzem bestätigte Alexandra Baumann, dass die Sitzungsprotokolle veröffentlicht werden sollen und dass eine Website im Aufbau sei.

In Bezug auf die Frage, ob der Fonds nicht damit beginnen sollte, das Geld zurückzuzahlen, schliesst sich die Botschafterin voll und ganz der offiziellen Position des Fonds an – und damit augenscheinlich jener der USA. «Der Stiftungsrat verfolgt den Stiftungszweck, der darin besteht, einen Teil der derzeit in den USA blockierten DAB-Gelder zu übernehmen, sie zu schützen, für die Zukunft zu bewahren und teilweise freizugeben. Das langfristige Ziel ist es, die nicht verwendeten Gelder an die DAB zu überweisen», so Baumann. Sie fügte hinzu, dass dies nur dann der Fall sein werde, wenn die DAB glaubhaft nachweisen könne, dass sie unabhängig sei und angemessene Kontrollen eingeführt habe. «Die Stiftung und ihr Stiftungsrat handeln unabhängig nach Schweizer Recht. Ich kann bestätigen, dass ich mich für die oben genannten Ziele einsetze», schloss Alexandra Baumann.

Moralisch fragwürdige Beschlagnahmung

Dennoch beginnt das Thema, die Gemüter der Zivilgesellschaft zu erhitzen. Norah Niland, Vorsitzende des Afghanistan-Task-Teams von United Against Inhumanity (UAI), einer internationalen Bewegung von Persönlichkeiten, die sich gegen Kriegsgräuel einsetzen, sagt: «Es ist sehr beunruhigend, dass der Afghanistan-Fonds untätig bleibt und anscheinend auch nicht daran interessiert ist, die DAB zu rekapitalisieren. Die DAB muss in der Lage sein zu funktionieren, um Liquiditätsprobleme zu lösen und beim Wiederaufbau der zusammengebrochenen Wirtschaft und des Bankensystems zu helfen. Wir stimmen Dr. Mehrabi zu, dass ein relativ kleiner monatlicher Betrag von beispielsweise 150 Mio. USD kontrolliert freigegeben werden sollte, da die Bank Bedenken hinsichtlich der Bekämpfung der Geldwäscherei und der Terrorismusfinanzierung auszuräumen vermag.»

Die erfahrene humanitäre Helferin, die in Afghanistan gearbeitet hat, fügt hinzu, dass humanitäre Massnahmen, so wirksam sie auch sein mögen, kein Ersatz für eine funktionierende Wirtschaft sein können. Und dass die «unmoralische» Beschlagnahmung der afghanischen Auslandsreserven auch jene Afghanen und Afghaninnen kollektiv bestraft, die nicht für die Rückkehr der Taliban nach Kabul verantwortlich sind. «Die UAI zeigt sich sehr besorgt über die wachsende Armut, die Verschuldung, den Verlust von Lebensgrundlagen, den Hunger und den sehr harten Winter, die das Elend des afghanischen Volkes noch verschlimmern und es zu Anpassungsmassnahmen zwingen, die seine Lage weiter verschlechtern.»

Die Schweiz muss sich engagieren, um mit der Rückgabe der Gelder zu beginnen

Dieser Ansicht ist auch Unfreeze Afghanistan, eine internationale Kampagne von Frauen, die Präsident Joe Biden dazu auffordert, die in den USA blockierten afghanischen Gelder freizugeben. Für Alliance Sud ist der Versuch, zumindest einen Teil der Gelder «in Sicherheit» zu bringen, durchaus lobenswert. Allerdings nur dann, wenn sie im Interesse der afghanischen Bevölkerung verwendet werden können. Da die Bedingungen für eine Rückgabe jedoch fast unmöglich zu erfüllen sind – die DAB war nie unabhängig von der Staatsmacht, auch nicht vor der Übernahme durch die Taliban –, braucht es Flexibilität in den Verhandlungen mit der afghanischen Regierung. Alliance Sud fordert die Schweiz auf, sich mit der gebotenen Vorsicht für eine rasche Rückgabe von genügend Geld an Afghanistan einzusetzen, damit die Wirtschaft im Interesse der Bevölkerung wieder in Gang kommen kann.

«Die humanitäre Hilfe allein wird Afghanistan nicht retten können»

Erhard Bauer reiste 14 Jahre lang mehrmals nach Afghanistan, unter anderem unter der ersten Taliban-Regierung. Heute vertritt er die Stiftung Terre des hommes vor Ort. Die Stiftung beschäftigt weiterhin Frauen im Gesundheits- und Bildungswesen und setzt sich dafür ein, alle ihre weiblichen Mitarbeitenden wieder einzustellen. – Interview von Isolda Agazzi

Wie hat sich die Lage seit dem Regimewechsel im August 2021 entwickelt?

Die Regierung war bereits zusammengebrochen, bevor die USA das Land verliessen. Schon der Beginn ihrer Amtszeit im Jahr 2001 stand unter einem schlechten Stern, da grosse Teile der afghanischen Gesellschaft ausgeschlossen wurden – ein Fehler, der nie korrigiert wurde und auch heute noch kaum offen zugegeben wird. Es ist in Anbetracht der aktuell katastrophalen Situation offensichtlich, dass nach Schuldigen gesucht wird. Klar ist es einfach, mit dem Finger auf eine islamistische Bewegung zu zeigen, die die Macht übernommen hat. Allerdings war die allgemeine Lage schon vor August 2021 desaströs. Im Anschluss daran führten die Sanktionen des Westens und die Einstellung der internationalen Zahlungen an die Regierung zum Zusammenbruch des Finanzsystems und eines Grossteils der Regierungsdienste. Auch wir, die humanitären Organisationen, waren nicht mehr in der Lage, Geld zu überweisen, da Afghanistan vom Swift-System abgekoppelt wurde. Für Geldüberweisungen nutzen wir nun ein «inoffizielles» Bankensystem, mit dem Geld von einem Land in ein anderes transferiert werden kann.

Nichtsdestotrotz war die Unterstützung des Westens für Afghanistan gross...

Bereits vor dem Rückzug der USA kontrollierten die Taliban mehr als die Hälfte des Landes. Die als «Erfolg» verbuchte Bildung einer Zivilgesellschaft fand nur in einem Teil des Landes statt. Heute, mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft, befinden sich Städte wie Kabul und Herat in der gleichen Situation wie ein Grossteil der Bevölkerung in den letzten 20 Jahren. Sämtliche Fortschritte zugunsten der Stadtbevölkerung und der Mittelschicht wurden auf einen Schlag zunichte gemacht.

Wie kann die Situation verbessert werden?

Der Handlungsbedarf ist derart immens, dass wir selbst bei einer Aufstockung der humanitären Hilfe nur die dringendsten Bedürfnisse eines Teils der Bevölkerung befriedigen könnten. Afghanistan wird aus dieser massiven Wirtschaftskrise nicht allein durch humanitäre Hilfe herausfinden. Es braucht einen Prozess, in dem alle politischen Kräfte zusammenarbeiten. Ob uns diese Regierung passt oder nicht, ob wir sie als Staatsführung anerkennen oder nicht: Es muss eine Form des Dialogs geben, damit im Interesse der Bevölkerung ein Ausweg aus dieser Situation gefunden wird.

Was für eine Rolle spielen die Sanktionen?

Was dieses Land am Leben erhalten hat ist, dass es noch einen Privatsektor, eine Landwirtschaft, eine wenig Produktion, Importe und Exporte gibt. Die Abschaltung des Bankensystems trifft nicht nur die Taliban, sondern die gesamte Bevölkerung. Die Sanktionen haben auch zu einer hohen Inflation geführt. Vieles wäre ohne sie einfacher. Nach dem Abzug der USA haben viele Menschen das Land verlassen. Die Taliban verfügen nicht über viel Fachwissen in den Bereichen Verwaltung und Management, und dieser «Brain Drain» beschleunigt den Zusammenbruch von Strukturen. Während der ersten Taliban-Regierung (1996– 2001) funktionierte vieles noch, da die Verwaltung grösstenteils mit den verbliebenen Beamten weiterarbeitete.

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