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COP 23 in Bonn – Vorgeschmack auf Klima-Migration

09.10.2017, Klimagerechtigkeit

Kein Wunder soll die «COP 23» auf das Thema Schäden und Verluste fokussieren. Für den Inselstaat Fidschi, der dieses Jahr den Vorsitz hat, gehen die Klimaveränderungen längst ans Lebendige. Verluste und Umsiedlungen bzw. Flucht sind bereits Realität.

COP 23 in Bonn – Vorgeschmack auf Klima-Migration

Dhaka, die zwei Meter über dem Meeresspiegel gelegene Hauptstadt von Bangladesch, im Monsunregen vom 26. Juli 2017.
© Abir Abdullah / EPA / Keystone

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»
 

Im Vorfeld der 23. Conference of the Parties (COP 23) vom 6. bis 17. November haben durch den Klimawandel verstärkte Wetter-Extremereignisse die medialen Schlagzeilen bestimmt. Während Tagen lieferten katastrophale Stürme in der Karibik und den USA dramatische Bilder in unsere Wohnzimmer, während der ebenso verheerende Extrem-Monsun im Golf von Bengalen, aber auch in Mumbai eine Randnotiz blieb. Die diesjährige, verheerende Trockenheit in Italien wurde durch zerstörerische Regenfluten abgelöst, was hierzulande medial allerdings von Bergstürzen und Gletscherabbrüchen überlagert wurde.

Allen gemeinsam ist die Frage, wie mit den durch den Klimawandel verursachten oder verstärkten Schäden und Verlusten (sog. loss and damage) umgegangen werden soll: Woher die Mittel für den Wiederaufbau nehmen? Wie unwiderruflich zerstörte Lebensgrundlagen von Menschen ersetzen, die bereits vorher am Rande der Armut lebten? Oder, wie ein Artikel zu den verheerenden Überschwemmungen in Südasien, die Tausenden von Menschen das Leben gekostet und Abermillionen in den Ruin getrieben haben, lakonisch titelte: Wohin mit all den Klima-MigrantInnen aus Bangladesch?

Denn: Der permanente Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter wird innerhalb weniger Jahrzehnte 30 Millionen Bangladeschi wortwörtlich den Boden entziehen. Sie werden zu «Klimaflüchtlingen». Wobei dieser Begriff offiziell gar (noch) nicht existiert; Menschen, die durch Desaster und Klimaveränderung vertrieben werden, gelten bisher nicht als «echte» Flüchtlinge. Auch wenn die Nansen-Initiative (unter Beteiligung der Schweiz) bereits seit 2010 diese Frage debattiert.  

Alle Augen auf Frank from Fidji

Angesichts dieser sich zuspitzenden Fragestellungen richten sich die Augen auf den diesjährigen Klimagipfel, der von Fidschi präsidiert wird. Die COP 23 findet aber nicht im Pazifik statt, sondern wurde nach Bonn verlegt. Fast ist man versucht, in der Umsiedlung der Konferenz ins klima-resilientere Rheinland etwas prä-apokalyptische Symbolik zu erkennen.

Fidschis Premierminister Josaia Voreqe Bainimarama hat angekündigt, als COP 23-Präsident das Thema loss and damage voranzutreiben. Er weiss, wovon er spricht. In Fidschi, bestehend aus 332, meist nur wenige Meter aus dem Meer ragenden Atollen, hinterliess der Sturm Winston 2016 Schäden von 1.4 Mrd. US-Dollar, was einem Drittel des BIPs entspricht. – Bereits bei seinem ersten Auftritt als COP 23-Präsident am G-20-Gipfel dieses Jahres sicherte Frank from Fidji, wie er sich gerne vorstellt, allen Einwohnern von Kiribati und Tuvalu das permanente Aufenthaltsrecht auf Fidschi zu. Und forderte von den USA eine analoge, unbefristete Verlängerung des 2023 auslaufenden Aufenthaltsrechts für alle Einwohner der Marshall-Inseln, das ihnen vor Jahrzehnten als Abgeltung für die Zerstörung und Verstrahlung mehrerer ihrer Atolle zugestanden wurde.

Als erstes Land der Welt, das das Pariser Klimaübereinkommen ratifiziert hat, machte sich Fidschi im Rahmen der Staatengruppe des Climate Vulnerable Forum bereits vor «Paris 2015» für die Frage klimabedingter Schäden und Verluste stark. Mit Erfolg: Das Pariser Klimaübereinkommen widmet loss and damage ein eigenständiges Kapitel. Trotz dieses diplomatischen Durchbruchs vor zwei Jahren werden die damit zusammenhängenden Fragen nach der Verantwortung und den Ansprüchen auf Kompensation von den Industriestaaten, den Hauptverursachern des Klimawandels, noch immer tabuisiert.

Dabei stehen mindestens zwei konkrete Traktanden ganz oben auf der globalen Klima-Agenda: Zum einen kam mit dem erwähnten loss and damage-Kapitel des Pariser Abkommens endlich die Frage offiziell auf dem Tisch, wie mit migrierenden oder vertriebenen Menschen umgegangen werden soll, die ihre Lebensgrundlage durch Klimaveränderungen verlieren. Zum andern wurde bereits vor vier Jahren das Exekutiv-Komitee des Warsaw Implementation Mechanisms (WIM) mit der Evaluierung der Bedeutung und Tragweite von loss and damage mandatiert. Nun müssen endlich auch Fragen der Schadensbehebung oder Kompensation bei Verlusten aufs Tapet.

Dafür braucht es auch dringend einen Finanzierungsplan zu Gunsten der ärmsten und weitgehend unverschuldet zu Schaden gekommenen Bevölkerungen im globalen Süden. Denn – im Gegensatz zur Klimafinanzierung und den bereits beschlossenen 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr für Mitigation und Adaptation – wurde im Pariser Klimaübereinkommen keine finanzielle Unterstützung für erlittene Schäden und Verluste festgelegt. Diesem Manko vorgelagert ist die tabuisierte Frage nach den Verantwortlichkeiten.  

Vieles hängt mit den diametral auseinanderliegenden Interessen zusammen, angefangen bei der Abgrenzung von loss and damage gegenüber Adaptation. Die Vorschläge der Hauptverursacher, allen voran Industrieländer wie die Schweiz, liegen meilenweit von den Bedürfnissen der Betroffenen, allen voran der kleinen Entwicklungs-Inselstaaten wie Fidschi, entfernt.

Die COP 23 muss diesem unwürdigen Eiertanz auf Kosten der Schwächsten endlich ein Ende setzen. Angesichts der Katastrophen der vergangenen Wochen und Monate müssen in Bonn konkrete Pflöcke eingeschlagen werden. Denn in der Öffentlichkeit ist die Dringlichkeit, dass mit den durch die Klimakrise angerichtete Schäden und Verlusten gerecht umgegangen werden soll, längst angekommen.

 

Was die COP 23 im Bereich Schäden und Verluste erreichen muss

js. Trotz Trump’scher Obstruktion aus den USA arbeitet die Welt-Klimagemeinschaft mit fast demonstrativer Geschlossenheit in rund einem Dutzend workstreams am Regelwerk zur Umsetzung des Pariser Klimaübereinkommens. Die COP 23 soll davon einen ersten, umfassenden Entwurf hervorbringen. – Aus Sicht von Alliance Sud kann die COP 23 aber nur dann als Erfolg gewertet werden, wenn auch im Bereich loss and damage konkrete Fortschritte erzielt werden: 

  • Loss and damage, als ebenbürtiger Pfeiler des Pariser Abkommens, muss auch mit derselben Priorität behandelt werden wie die anderen. Dazu gehören die Erarbeitung von Kriterien („Positivliste“) für zu vergütende Schäden & Verluste und eine wissenschaftlich fundierte Abschätzung der zu erwartenden Kosten und Optionen verursachergerechter Finanzierung.
  • Ein «Fidschi Finanzierungs-Mechanismus für Schäden und Verluste» sollte vorbereitet und verursachergerecht, ab 2020 mit jährlich 50 Mrd. und bis 2030 mit 200-300 Mrd. US-Dollar dotiert werden. Dieser Mechanismus soll auch eine Versicherung zugunsten der vom Klimawandel bedrohten pazifischen Inseln ermöglichen.
  • Das Exekutivkomitee des Warsaw Implementation Mechanisms (WIM) muss mit mehr Mitteln ausgestattet werden, Klimaversicherungs-Bedingungen zu Gunsten der Ärmsten verankern und den verwundbarsten Bevölkerungen direkt zur Seite stehen können.
  • Das Thema klimabedingter Migration, Vertreibung und Umsiedlung muss ab 2018 in den Verhandlungen intensiviert werden. Dabei müssen nebst Versicherungslösungen auch weitere Optionen des (lokalen) Risikomanagements vorangetrieben werden.

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Auf Frauen hören bei der Bekämpfung der Klimakrise

14.06.2019, Klimagerechtigkeit

Die Klimakrise und der Kampf um Frauenrechte haben mehr miteinander gemeinsam als auf den ersten Blick ersichtlich. Denn Klimaveränderungen verstärken Diskriminierungen – auch im globalen Süden.

Auf Frauen hören bei der Bekämpfung der Klimakrise
Frauen auf dem Weg zur Arbeit in Jamshedpur im indischen Bundesstaat Jharkhand, der stark vom Stahl- und Mischkonzern Tata geprägt ist.
© Penny Tweedie/Panos

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»

Frauen nehmen die bedrohliche Klimathematik ernster als Männer. Frauen wollen eher Ressourcen schonen und sind eher bereit, ihr Verhalten zu ändern. Männer dagegen neigen eher zu riskanten technischen Lösungsansätzen der Klimakrise.[1] Studien zufolge haben Frauen eine bessere CO2-Bilanz als Männer, sie fahren weniger und sparsamere Autos, essen häufiger vegetarisch und achten beim Einkauf vermehrt auf ökologische Produkte.

Gleichzeitig sind Frauen und Mädchen überproportional von den Auswirkungen der Klimaveränderung betroffen; vor allem in Entwicklungsländern. Und trotzdem werden lokale, von Frauen geprägte Lösungsansätze oft ignoriert.

Das sind einige der Themen, mit denen sich das globale Frauen-Netzwerk Women Engage for a Common Future (WECF) befasst und die es u.a. auf grossen, informativen «Educational Posters» ins öffentliche Bewusstsein bringt.

Alliance Sud befragte Katharina Habersbrunner und Anne Barre vom WECF, die dort für die Umsetzung geschlechtergerechter Klima- und Energieprojekte bzw. eine gendergerechte Ausgestaltung der Klimapolitik zuständig sind.

 

Alliance Sud: Warum braucht es einen feministischen Zugang zur Klimakrise?

WECF: Es geht nicht darum, Stereotype zu bedienen, aber patriarchal geprägte Handlungsmuster wirken sich direkt auf die Klimakrise und den Umgang damit aus. Die Klimaveränderung ist nicht geschlechtsneutral, weder im globalen Norden noch im Süden.

Nicht nur in Entwicklungsländern haben Frauen weniger politische Entscheidungsmacht, weniger Zugang zu Ressourcen, von Finanzmitteln über Eigentum bis hin zu Bildung und Information. Gleichzeitig erreichen neue Entwicklungen wie etwa erneuerbare Energien die Frauen meist schlechter oder später als Männer. Bei der Planung, Implementierung und Evaluation von klimafreundlichen Techniken oder Projekten werden sie kaum eingebunden, obwohl Frauen die Bedürfnisse ihrer Familien besser kennen und damit die direkteren Nutzerinnen von Energie sind. Es fließen derzeit nur gerade 0,01% der gesamten Klimafinanzierung in explizit geschlechtersensible Klimalösungen.

Welches sind aus Frauensicht die Herausforderungen oder auch Chancen im Zusammenhang mit der Klimakrise und nachhaltiger Entwicklung?

Weil Frauen der Zugang zu Information oder Unwetterwarnungen vorenthalten wird, sterben sie bis zu 14-mal häufiger als Männer an den Folgen von Klimakatastrophen.[2] In vielen Ländern dürfen Frauen nicht alleine auf die Strassen gehen, sie sind in der Regel weniger mobil und werden weniger in überlebensrettende Trainings einbezogen als Männer. Den Tsunami in Südostasien 2004 überlebten nach Schätzungen von Oxfam fast vier Mal mehr Männer, weil sie im Gegensatz zu Frauen schwimmen konnten.

Vor allem aber zwingen die schleichenden Klimaveränderungen in armen Ländern den Frauen und Mädchen immer längere und beschwerlichere Arbeit auf, um die Felder zu bewirtschaften oder den Haushalt mit Energie und Wasser zu versorgen. Sie sind es, die infolge der Klimaveränderung zuerst ihr Einkommen verlieren, vorzeitig die Schule verlassen müssen oder zwangsverheiratet werden.

Obwohl Frauen in vielen Ländern für die (Subsistenz-)Landwirtschaft und damit für die Ernährung der Familien zuständig sind, haben sie oft weder Grundbesitz- noch Entscheidungsrechte was den Boden angeht, den sie bearbeiten. Das gilt auch für die Wasserversorgung. Liegt der Fokus bei Anpassungsmaßnahmen auf rein technischen Lösungen, so werden die Bedürfnisse der Direktbetroffenen, also von Frauen und Mädchen, viel zu oft ausgeblendet.

Noch bezeichnender sind fehlkonstruierte Zyklon-Notunterkünfte in Bangladesch: Weil gender-spezifische Bedürfnisse nicht in die Planung einflossen, sind Frauen während Unwettern vermehrt sexuellen Belästigungen von Männern ausgesetzt, etwa wenn Sanitäranlagen ohne Beleuchtung und weit von den Aufenthaltsräumen entfernt liegen.

Oft wird Frauen auch schlicht der Zugang zu Lösungen verwehrt: In Georgien hat WECF mit lokalen PartnerInnen Solarkollektoren für Warmwasser entwickelt, die vor Ort produziert werden. Das reduziert die Abholzung, spart vor allem Frauen Zeit und Geld. Doch leider stockt die Umsetzung, denn die Frauen bekommen anders als Männer mit weniger Einkommen kaum Darlehen; oder es werden viel höhere Zinssätze verlangt als bei Männern.                      

Frauen wird oft eine besondere Rolle in der Bewältigung der Klimakrise zugeschrieben…

Frauen sind aufgrund ihrer Rolle als Familienmanagerinnen und Care-Arbeiterinnen oft viel direkter darauf angewiesen, praktische Alltagslösungen auf Klimaveränderungen zu entwickeln. Weil sie Gemeinschaften mobilisieren können, werden sie oft als change agents gesehen. Tatsächlich setzen sich Frauen in allen Teilen der Welt für innovative, effektive und bezahlbare Strategien vor Ort ein. Doch solche lokalen low-tech Ansätze erhalten in der Regel viel weniger politische Unterstützung und Finanzierung als hoch-technische und kommen somit kaum im notwendigen grossen Stil zur Anwendung.

Auf der letztjährigen Weltklimakonferenz in Kattowitz wurde ein Gender-Aktionsplan (GAP) verabschiedet. War das ein Wendepunkt für eine geschlechtergerechtere Klimapolitik?

Die konsequente Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau, das sogenannte  gender mainstreaming wurde im über 25-jährigen Prozess der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) erst spät anerkannt. Und dies obwohl gender-gerechte Massnahmen einen wichtigen Beitrag zur Wirksamkeit der Klimapolitik leisten. In der Präambel des Pariser Klimaübereinkommens wird nun völkerrechtlich verbindlich gefordert, Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und die stärkere Teilhabe von Frauen in allen Aktivitäten zur Bekämpfung der Klimaveränderung zu berücksichtigen.  

Der GAP konkretisiert diese Forderungen in fünf Kernbereichen: Kapazitätsaufbau, Wissensaustausch und Kommunikation zum Beispiel durch Gender-Trainings in den Uno-Institutionen; Geschlechterparität in Führungspositionen bei den Klimakonferenzen und in den Ländern; Kohärenz, dass Beschlüsse zu Geschlecht und Klimawandel auch in den Massnahmen der übrigen Uno-Organisationen umgesetzt werden; gendersensible Umsetzung inklusive der dafür notwendigen Mittel sowie gendersensibles Monitoring und Berichterstattung über getroffene Klimamassnahmen.

Weil die Vertragsstaaten geschlechtsspezifische Daten erheben und ihre Klimapolitik einer Genderanalyse unterziehen müssen, werden Regierungen dazu gebracht, Genderpolitik und Klimapolitik zusammen zu denken. Der GAP bildet also die Basis für eine geschlechtergerechte(re) Klimapolitik. Aber es braucht noch deutliche Fortschritte in der Umsetzung sowie ambitioniertere Entscheidungen in den kommenden Klimakonferenzen.

Es gibt aber auch Wissenschafterinnen, die Kritik an der «Feminisierung der Klimakrise» üben. Sie zielt u.a. darauf, dass die Arbeitsteilung nach Geschlechtern zementiert würde, während Frauen von den zentralen Verhandlungen über die internationale Klimapolitik nach wie vor weitgehend ausgeschlossen bleiben. Wie beurteilen sie diese Thesen?

Werden bestehende Strukturen innerhalb einer Gemeinschaft oder eines Haushalts ausgeblendet, so pflanzen sich vorherrschende Machtstrukturen und soziale Ungleichheiten in Projekte und Politiken fort oder werden gar noch verstärkt. So betrachtet verlangsamt eine genderblinde Klimapolitik tatsächlich das Finden von Lösungen zur Eindämmung der Klimakrise. Insofern stimmen wir der These der «Feminisierung der Klimakrise» absolut zu. Die Klimaveränderung wirkt wie ein Risikomultiplikator und verstärkt bestehende Diskriminierungen, die Frauen aufgrund ihres geringen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Status erfahren. Es ist darum wichtig zu betonen, dass Frauen vor allem aufgrund traditioneller Rollenverteilung in den meisten Gesellschaften anfälliger sind für die Auswirkungen des Klimawandels. Darum ist die verbindliche Umsetzung des GAP mit seinen verschiedenen Ebenen so wichtig. Je mehr Frauen auf allen Ebenen in die Entscheidungen miteingebunden werden, desto erfolgreicher die Klimapolitik.

 
Women Engage for a Common Future

WECF ist ein internationales Netzwerk von mehr als 150 Frauen- und Umweltorganisationen in 50 Ländern. WECF setzt sich für die lokale Umsetzung nachhaltiger Klimalösungen und die Förderung geschlechtergerechter politischer Rahmenbedingungen weltweit ein. Als Gründungsmitglied der Women and Gender Constituency des UNFCCC (Uno-Klimarahmenkonvention) und offizieller Partner des Uno-Umweltprogramms UNEP implementiert WECF in den Bereichen Klima und Gender Politiken, die eng miteinander verzahnt sind und die Kapazitäten von Frauen durch Klimaprojekte vor Ort stärkt.

 

 

[1] World Bank, World Development Report 2012

[2] UNFPA, Women on the frontline

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Kommt die Impfung gegen die Klimakrise?

22.06.2020, Klimagerechtigkeit

Die Corona- und die Klimakrise sind nicht zuletzt Gerechtigkeitskrisen. Der globale Süden ist zweifach dringend auf Unterstützung angewiesen. Auch darum sind die beiden Krisen vernetzt anzugehen. Ein Plädoyer, jetzt die Weichen richtig zu stellen.

Kommt die Impfung gegen die Klimakrise?

«Vor dem Flug entfernen» steht auf der Markierung bei einer vorübergehend gegroundeten SWISS-Maschine.
© Ennio Leanza/Keystone

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»

Die Klimakrise macht keine Pause während der Coronakrise. Im Gegenteil: Gemeinschaften, die bereits Klimarisiken ausgesetzt waren, trifft die Coronakrise doppelt. Hygienemassnahmen sind in ariden Gegenden, wo Wasser an gemeinsamen Brunnen von Hand geschöpft und in stundenlangen Märschen nach Hause getragen werden muss, viel schwerer einzuhalten. Die Überschwemmungen nach der Heuschreckenplage in Ostafrika oder der Zyklon Amphan im Golf von Bengalen trafen bereits geschwächte Gesundheitssysteme mit voller Wucht. Die durch das Virus ausgelöste Mehrfachkrise hat für die Ärmsten und Verwundbarsten katastrophale Konsequenzen: Sie trifft Menschen in klimaexponierten, Infrastruktur- und finanzschwachen Entwicklungsländern, deren ohnehin prekäre Einkommenssituation durch die Pandemie noch vollends zusammenbricht. Es ist kein Zufall, dass der von Germanwatch ermittelte Klimarisikoindex eng mit der Verletzlichkeit gegenüber Epidemien korreliert.

Krise als Chance – was ist dran?

Die Klimakrise wird immer noch da sein, wenn die Weltgemeinschaft das Virus in den Griff bekommen hat, darin sind sich alle einig. Gestritten wird darüber, inwiefern die Coronakrise als Augenöffner dient und ob es legitim und zweckmässig ist, die abgedroschene Phrase von der «Krise als Chance» zu bemühen. Immerhin zeigt der Umgang mit Covid-19 durchaus eine Reihe von wichtigen Perspektiven auf, wie mit der globalen Klimakrise politisch umzugehen ist.

Im Zentrum stehen Fragen, die beiden Krisen gemein sind, wie jene nach deren grenzüberschreitenden Ursachen und Auswirkungen sowie nach der Resilienz von Gesellschaften und deren Kapazitäten, Krisen zu bewältigen. Wir haben gesehen, dass fehlende Investitionen in der Krisenprävention und Pandemie-Vorsorge zu gravierenden Engpässen, auch solchen mit tausendfacher Todesfolge, geführt haben. Die Lehre daraus: Notmassnahmen, ihre Folgekosten und Rettungspakete kommen eine Gesellschaft sehr viel teurer zu stehen als Prävention und frühzeitig ergriffene Vorsorgemassnahmen. Nicht anders verhält es sich damit in Bezug auf Auswirkungen der Klimakatastrophe. Verglichen mit Covid-19 kommt diese quasi im Zeitlupentempo auf uns zu. Aber selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet ab 2030 mit bis zu 250 000 zusätzlichen Todesopfern pro Jahr, wenn sich die Klimaveränderung im heutigen Tempo ungebremst fortsetzt.  

Anlass zu leiser Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft Lehren aus der Coronakrise zieht, gibt die Tatsache, dass sich die Politik bei der Bekämpfung der Pandemie auf die Erkenntnisse der Wissenschaft abgestützt und schnelle und einschneidende Massnahmen getroffen hat. Und dies, obwohl die Wissenschaft zwar viel über Virologie und Epidemiologie, aber (noch) fast nichts über den neuen Erreger SARS-CoV2 wusste. Genau umgekehrt verhält es sich mit der Klimawissenschaft: Wiewohl hochkomplex, sind die Ursachen und Mechanismen der Klimaveränderung heute bestbekannt; es führt kein Weg an der Dekarbonisierung vorbei. Der entscheidende Unterschied zwischen Corona- und Klimakrise ist die unmittelbare Bedrohung und deren globale Ausprägung: Auf der ganzen Welt wurde die Pandemie als (gleichermassen) lebensbedrohend erkannt und dementsprechend gehandelt. Bei der Klimakrise dagegen fällt die Bedrohungslage geographisch und sozio-ökonomisch bedingt unterschiedlich aus. Während die BewohnerInnen der Pazifikinseln und anderer bereits unmittelbar von der Klimaveränderung betroffener Regionen zunehmend verzweifelt nach Unterstützung in der Klimakrise rufen, dominiert bei vielen VerantwortungsträgerInnen in den Verursacherländern immer noch die Einstellung, dass es schon nicht so schlimm kommen werde. Es ist zu hoffen, dass diesbezüglich eine repräsentative SPIEGEL-Umfrage mehr ist als eine Momentaufnahme; über 90 Prozent der Befragten wollen, dass sich die Politik in Zukunft mehr auf wissenschaftliche Einschätzungen abstützt. Und eine deutliche Mehrheit (59 Prozent) hält den Klimawandel längerfristig für wirtschaftlich und gesellschaftlich folgenreicher als die Coronakrise.

Zuversichtlich könnte stimmen, dass es einigen Regierungen – im Norden und im Süden – in den letzten Monaten gelungen ist, ihren Bevölkerungen selbst einschneidende Massnahmen nachvollziehbar zu erläutern und diese umzusetzen. Demgegenüber wird sich die Erkenntnis erst noch durchsetzen müssen, dass sich die Klimakrise im Gegensatz zur Pandemie nicht „aussitzen“ lässt; gegen Viren lassen sich Impfungen und Medikamente entwickeln, was für Treibhausgase nicht gilt. Deren erhöhte Atmosphärenkonzentration und damit die Klimaveränderungen verschwinden nicht wieder von selbst. Auch wird sich keine Immunität dagegen einstellen; vielmehr sind kostspielige Anpassungen in Infrastruktur und im Ernährungssystem notwendig. Die Klimakrise erfordert strukturelle Anpassungen statt kurzfristig anberaumter Lockdowns.

Build back better

Angesichts der grossen Opfer, welche die Coronakrise weltweit immer noch fordert, mag es zynisch klingen, ein «gestärkt aus der Krise hervorgehen» zu postulieren. Doch die Milliarden, die weltweit zur Bewältigung der Krise bereitgestellt werden, erlauben keinen Aufschub der Debatte. Welche Art der Unterstützung ist auch aus globaler Klimaperspektive nachhaltig? Wie kann die blosse Aufrechterhaltung von (fossil befeuerten) Strukturen aufgebrochen werden? Aus Sicht von Alliance Sud lautet das Gebot der Stunde build back better oder wie es der ETH-Forscher im Bereich Nachhaltigkeit und Technologie Jochen Markard vorschlägt: Es gelte jetzt, «Disruption punktuell walten zu lassen», also beschädigte oder zerstörte, schon vor der Pandemie nicht zukunftsfähige Strukturen, bewusst nicht zu retten. Denn allzu offensichtlich wäre es ein kostspieliger Leerlauf, mit Coronamitteln Strukturen zu retten, nur um sie möglichst bald mit nochmals zusätzlichen Geldern klimaverträglich umbauen zu müssen. Es liegt auf der Hand, den direkten Weg zu wählen und sämtliche Investitionen zur Rettung der Weltwirtschaft auch gegen zukünftige Schocks abzusichern.

Das umfasst nicht nur virologische, sondern auch die sich abzeichnende Klimabedrohung. Die völkerrechtliche Grundlage dafür existiert: Das Pariser Klimaübereinkommen verlangt in Artikel 2.1.c, dass sämtliche Finanzströme «auf Kurs in Richtung niedriger Treibhausgasemissionen und klimabeständiger Entwicklung» zu bringen seien. In einer Krise, die wie die Klimakrise schon heute den Fortbestand eines Teils der Menschheit bedroht, ist es legitim, wenn nicht gar ein Imperativ, dass die öffentliche Hand als investor of last resort im Namen des Gemeinwohls Einfluss auf eine im Interesse aller zu rettende Wirtschaft nimmt. Oder in den Worten von UN-Generalsekretär António Guterrez: “Public funds should be used to invest in the future, not the past.”

So notwendig kurzfristig aufgelegte Notfallmassnahmen waren, um unmittelbar vom Lockdown Betroffenen über die Runde zu helfen, so wenig dürfen mittelfristig Unternehmen oder Aktivitäten mit Coronahilfsgeldern unterstützt werden, die nicht mit der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung vereinbar sind.

Die gute Nachricht: Resilienz gegen künftige Pandemien geht in vielen Belangen mit Klimaresilienz Hand in Hand: Gesicherter Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen etwa, oder die Stärkung der Ernährungssicherheit durch Förderung lokal-regionaler, weniger vom globalen Markt abhängiger Versorgung, sind zentrale Elemente der Epidemie- wie der Klimavorsorge. Wenn die Coronamilliarden auch nach Kriterien der (Klima-)Resilienz und Nachhaltigkeit vergeben werden, lassen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der grosse Vorteil ist, dass die meisten Massnahmen zur Prävention und Anpassung an die Klimakrise sogenannte No-regret-Investitionen darstellen. Im Gegensatz zu den Kosten für reine Pandemieprävention haben sie einen unmittelbaren, spürbaren Nutzen für die Gesellschaft.

Daher dürfen auch keinesfalls bisherige Klimagelder für Entwicklungsländer als «Coronahilfe» umgelenkt werden. Das machte auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, indem sie im Zenit der Pandemie verlangte, die Klimafinanzierung für die verwundbarsten Länder angesichts der doppelten Bedrohung durch Covid-19 und die Klimaveränderung gerade jetzt zu erhöhen.

Kein «Weiter-wie-bisher»

Leider scheint die Schweizer Politik nach einer kurzen Phase von mutigen und weitreichenden Entscheiden noch während des Lockdowns zurück ins politische Weiter-wie-bisher gefallen zu sein. Dass die Unterstützung der privaten SWISS Airlines nicht einmal an minimale Bedingungen geknüpft wurde, war ein klares Indiz dafür. Andere, auch bürgerlich regierte Länder haben die Chance hingegen erkannt und genutzt, um den ökologischen Umbau an die Hand zu nehmen: Frankreichs Flugindustrie darf nach ihrer Rettung die Bahn nicht mehr konkurrenzieren. Kanada verlangt von allen geretteten Unternehmen konsequente Klimamassnahmen. Und auch die EU-Kommission und ihre Mitgliedstaaten signalisieren, dass sie am postulierten Green Deal trotz oder gerade wegen der coronabedingten Turbulenzen festhalten wollen.

Die Wiederbelebung der Wirtschaft, der Schutz der öffentlichen Gesundheit oder die Bekämpfung der Klimakrise konkurrenzieren sich nicht gegenseitig, im Gegenteil, die drei Bereiche zu verlinken, schafft Synergien und eine zukunftsfähige Politik. Ob es in absehbarer Zeit eine Impfung gegen das Coronavirus geben wird, ist keineswegs sicher. Klar ist, dass sich die Welt nie gegen die Klimakrise impfen lassen kann. Aber beide Krisen können nur mit wissenschafts- und vernunftgetriebener Politik und globaler Zusammenarbeit überwunden werden. 

Meinung

Nach Glasgow müssen wir Gas geben

06.12.2021, Klimagerechtigkeit

Mit der Abschlusserklärung der UN-Klimakonferenz ist es noch lange nicht getan: Die Klimakrise spitzt sich zu und das Klimabudget der Schweiz ist bald aufgebraucht. Die Analyse aus Glasgow von Stefan Salzmann, Klimaexperte beim Fastenopfer.

Nach Glasgow müssen wir Gas geben
Die Klimakrise ist für die Inselstaaten bereits heute eine existentielle Bedrohung. Der Aussenminister von Tuvalu hielt deshalb seine COP26-Erklärung an einem besonderen Ort: in Funafuti, mitten im Pazifischen Ozean.
© EyePress via AFP

Hagel und Regen im Sommer in der Schweiz, Hitze in Kanada, Feuer in Griechenland und Russland, Dürre im Iran; im August die wissenschaftlich belegte Alarmstufe Rot im neusten Bericht des Weltklimarates. In deutlichen Worten schreiben KlimatologInnen, dass das Ausmass der anthropogenen Klimaerwärmung seit vielen Jahrhunderten bis Jahrtausenden beispiellos ist. Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen und Starkniederschlägen, landwirtschaftliche und ökologische Dürren werden zunehmen und immer häufiger kombiniert auftreten. Die bereits heute beobachteten Veränderungen werden sich verstärken und unumkehrbar sein. Jedes Zehntelgrad Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur macht einen Unterschied – insbesondere für die ärmsten und verwundbarsten Menschen auf der Welt.

Der neue Bericht des UNO-Umweltprogramms (UNEP) vom Oktober, der die Ziele des Pariser Abkommens mit den gemachten Versprechen vergleicht, stellt fest, dass die eingereichten Ziele der Länder eine globale Klimaerwärmung von 2.7 Grad ansteuern. Und parallel, schreibt ebenfalls das UNEP, werden weiterhin nicht genügend finanzielle Mittel für Anpassungsmassnahmen in armen Ländern zur Verfügung gestellt: Der Bedarf ist bis zu zehnmal höher als das, was die verursachenden Industrienationen bereitstellen.

Der Wille ist da – aber niemand bestimmt den Weg

Unter diesen Vorzeichen haben die OrganisatorInnen der 26. Weltklimakonferenz aus Grossbritannien viel guten Willen gezeigt. In der ersten Woche der Konferenz wurden täglich neue globale Initiativen verkündet.  Die Initiativen «Globale Transition von Kohle zu sauberer Energie», «Stopp der globalen Entwaldung» oder «Globale Initiative für grüne Energie-Netze» sind nur eine Auswahl. Euphorisch hat die Internationale Energieagentur errechnet, dass man so auf einen Kurs von nur noch 1.8 Grad Erderwärmung kommen könne – wenn all die Versprechen umgesetzt werden. Und genau da liegt die Schwierigkeit – keine dieser Initiativen hat einen Umsetzungsplan. Die Länder, welche die Versprechen mittragen, sind die gleichen, die es bis 2020 nicht geschafft haben, die bereits 2009 versprochene Klimafinanzierung bereitzustellen. Und wenn Länder wie Brasilien die Entwaldungsinitiative unterzeichnen, dann ist das zwar ein Hoffnungsschimmer, aber realpolitisch betrachtet wohl eher ein Todesurteil für diesen ehrgeizigen Plan, der wie alle anderen ambitionierten Pläne die Umsetzung derselben den freiwilligen politischen Massnahmen der einzelnen Länder überlässt.

Und die Schweiz?

Auch die Schweiz steht unter Druck: Nachdem selbst der kleine Schritt des revidierten CO2-Gesetzes im Juni 2021 für die Mehrheit der Bevölkerung zu gross war, reiste die vom Bundesamt für Umwelt angeführte Delegation mit fehlender gesetzlicher Grundlage nach Glasgow. Hier wurden einmal mehr alle Verhandlungen zu weiteren Klimafinanzen blockiert. Die Gründe sind auf den ersten Blick verständlich – auch reiche Schwellenländer sollen in die Klimafinanzierung einsteigen und es gehe nicht, dass sich China und Singapur als Entwicklungsländer ausgeben und nichts zahlen wollen. Als eines der reichsten Länder der Welt aber so zu argumentieren, nützt denen nichts, deren Lebensgrundlagen von diesen Beschlüssen abhängen – wie die ärmsten und verwundbarsten Menschen auf der Welt. Für sie bedeuten blockierte Verhandlungen, egal von wem, Not, Leid und prekäre Überlebensstrategien.

Schäden und Verluste

Die Lebensgrundlagen vieler stehen auf dem Spiel, von einigen sind sie bereits heute zerstört. Sogenannte «Schäden und Verluste» bezeichnen im Fachjargon durch die Klimaerhitzung verursachte irreversible Probleme: Klimaauswirkungen also, die die Anpassungsfähigkeit von Ländern, Gemeinschaften und Ökosystemen übersteigen. Wenn eine Familie wegen des Meeresspiegelanstiegs ihr Haus verliert, ist es für immer verloren. Solche Schäden und Verluste gibt es bereits heute und mit jedem Zehntelgrad Temperaturanstieg werden sie weiter zunehmen. Deshalb hat die Zivilgesellschaft dieses Thema in Glasgow zur obersten Priorität gemacht.

Das Klimabudget der Schweiz ist bald aufgebraucht

Nicht nur weil die Schweiz eines der reichsten Länder ist, welches historisch viele Treibhausgase ausgestossen hat, wäre es angebracht, anderen bei bereits eingetretenen Schäden beizustehen. Im September haben Sozial-EthikerInnen von zehn kirchlichen Institutionen über ein klimagerechtes CO2-Restbudget diskutiert. Auf der Basis von wissenschaftlich belegten Daten wurde berechnet, welcher Anteil an den global noch zur Verfügung stehenden Gigatonnen CO2 der Schweiz zusteht, wenn sie sich klimagerecht verhalten will. Die Sozial-EthikerInnen haben dabei getan, was die Klimawissenschaft nicht kann: Sie haben Modellrechnungen moralisch gewichtet und interpretiert. Dabei kam heraus, dass eine klimagerechte Restmenge CO2 im Frühjahr 2022 aufgebraucht sein wird. Ein weiterer Beleg dafür, dass die bundesrätliche Strategie, Netto Null Treibhausgasemissionen bis ins Jahr 2050 erreichen zu wollen, mit Gerechtigkeit nichts mehr gemeinsam hat.

Wie weiter?

Es sind Momente wie die Klimakonferenz in Glasgow, in denen die offizielle Schweiz beweisen sollte, dass unserem Land Gerechtigkeit ein Anliegen ist. Finanzen für andere Länder bereitzustellen, ist eine der einfachsten Möglichkeiten, dies zu tun: zusätzliche Mittel zum Entwicklungskredit für Minderung und Anpassung. Und zusätzliche Mittel für bereits eingetretene Schäden und Verluste. Die Grundlagen für solche Verhandlungsmandate werden in der Vorbereitungsphase national gelegt. Gleich wie die nationalen Klimaziele, die ambitionierter werden müssen, auch für die Schweiz, wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens noch in Reichweite liegen sollen. Die Debatten um den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative sowie die anstehende Neuaufnahme der Revision des CO2-Gesetzes sind die letzten Chancen, bevor es zu spät ist: Es braucht ein Netto-Null-Ziel bis spätestens 2040, einen linearen Absenkpfad dahin und einen konsequenten Ausstieg aus fossilen Energieträgern.

Medienmitteilung

COP27: Fortschritt trotz Stillstand

20.11.2022, Klimagerechtigkeit

Die Resultate der Klimakonferenz COP27 sind gemischt: Mit der Verabschiedung eines Fonds für Loss & Damage (Schäden und Verluste) wurde ein historischer Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit gemacht, beim Klimaschutz herrscht hingegen Stillstand.

COP27: Fortschritt trotz Stillstand
«Bezahlung überfällig»: Die zehnjährige Nakeeyat Dramani Sam aus Ghana fordert die Industrienationen an der COP27 auf, für die Klimaschäden in ärmeren Ländern aufzukommen.
© KEYSTONE/AP/NARIMAN EL-MOFTY

Aus Entwicklungsperspektive waren an dieser Konferenz die Verhandlungen zur Finanzierung von klimabedingten Schäden und Verlusten besonders wichtig. Der Druck auf die Industriestaaten war dieses Jahr angesichts der Überschwemmungen in Pakistan und der Dürre in Ostafrika grösser denn je. Die Schäden durch Klimakatastrophen kann niemand mehr leugnen, ebenso wenig die Auswirkungen des steigenden Meeresspiegels. Und so mussten sich die reichen Länder – auch die Schweiz – dem Druck der besonders betroffenen Länder, Inselstaaten und der Zivilgesellschaft beugen und in die Schaffung eines Fonds für Loss & Damage einwilligen. «Der Fonds ist ein grosser Erfolg für die Klimagerechtigkeit. Das schien vor wenigen Monaten noch undenkbar. Das war möglich dank der guten Zusammenarbeit der Länder des Südens und der Zivilgesellschaft. Doch die Arbeit ist damit nicht gemacht. Nun gilt es, den Fonds effektiv und effizient auszugestalten, so dass die Betroffenen auch tatsächlich davon profitieren. Entscheidend ist, dass der neue Fonds rasch mit genügend Mitteln ausgestattet wird», bilanziert David Knecht, der in Ägypten für Fastenaktion zwei Wochen lang die Verhandlungen beobachtet hat.

Nicht genug vorwärts ging es hingegen bei der entscheidenden Minderung der Emissionen. Der rasche Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas wurde trotz Druck verschiedenster Länder, auch der Schweiz, nicht in der Abschlusserklärung verankert. «Mit der Verabschiedung eines mehrjährigen Arbeitsprogramms zur Emissionsminderung wurde nur ein Minimalziel dieser Konferenz erreicht, um das 1.5-Grad-Ziel am Leben zu erhalten. Wichtig ist es nun, auch Emissionsreduktionen in Entwicklungsländern verstärkt zu finanzieren, ansonsten können die Ziele nicht erreicht werden. Hier haben die Industrieländer ihre Versprechen bisher nicht erfüllt», kommentiert David Knecht.

Dass mehr als 600 LobbyistInnen der fossilen Energien an der Konferenz zugegen waren, hat dazu beigetragen, die Abschlusserklärung zu verwässern. «Die UNO muss für die Klimakonferenzen unbedingt Richtlinien im Umgang mit Interessenskonflikten erlassen. Die mageren Bekenntnisse zum Ausstieg aus fossilen Energien sind besonders stossend, wenn man bedenkt, dass fossile Energien über 70% der Emissionen verantworten, und wenn man die milliardenschweren Gewinne der Öl- und Gaskonzerne dieses Jahr mit der milliardengrossen Lücke in der Klimafinanzierung vergleicht», so Knecht.

Enttäuschung beim Thema «Adaptation»

Unter diesem Stichwort geht es um Anpassungen an den Klimawandel, wie beispielsweise den Umgang mit zunehmender Trockenheit in der Landwirtschaft. «Für die Ernährungssicherheit ist Anpassung an den Klimawandel ein zentrales Thema. Es ist angesichts der aktuellen Weltlage betrüblich, dass an der COP27 kaum Diskussionen geführt und entsprechend auch keine Fortschritte erreicht wurden. Die bisher zugesagten Finanzierungen sind völlig ungenügend», sagt Christina Aebischer, die für Helvetas der COP27 vor Ort beiwohnte. Das sei insbesondere für die afrikanischen Länder und Organisationen eine grosse Enttäuschung; sie hatten sich an diesem afrikanischen Klimagipfel mehr erhofft.

Umso unwahrscheinlicher scheint es, dass die auf der letztjährigen COP in Glasgow getroffene Vereinbarung eingehalten werden wird, die Anpassungsfinanzierung bis 2025 gegenüber 2019 zu verdoppeln. «Auch die Schweiz hat keine zusätzlichen Zusagen gemacht, was für viele ärmere Länder unverständlich ist. Leider hängt das im Wesentlichen mit der gescheiterten Abstimmung über das neue CO2-Gesetz zusammen. Die Schweiz muss dringend die Klimaschutzfinanzierung in ihrer Gesetzgebung stärken, damit die entsprechenden Mittel für Anpassung bereitgestellt werden können.»

Positiv hingegen ist, dass zum ersten Mal vereinbart wurde, im nächsten Jahr endlich die Diskussion darüber zu starten, wie die internationalen Finanzströme zur Reduktion der Treibhausgasemissionen und Förderung einer klimaresistenten Entwicklung verlagert werden können. Die inhaltliche Klärungen und erst recht eine Einigung sind damit natürlich noch in weiter Ferne, aber die dringend nötige Diskussion ist lanciert.

 

Weitere Zitate unserer Mitglieder und assoziierten Mitglieder zur Verwendung:

«Die COP27 behandelte die Themen Landwirtschaft und Ernährung viel zu stiefmütterlich. Dabei geht rund ein Drittel der klimaschädlichen Gase auf die Rechnung des Ernährungssystems. Biovision hat sich deshalb in Sharm El Sheik zusammen mit anderen NGOs dafür eingesetzt, dass im Koronivia-Prozess zwingend die nachhaltige Transformation unseres Ernährungssysteme eingeschlossen wird und das Thema Agrarökologie mehr Gewicht in den Klimaverhandlungen bekommt. Die Landwirtschaft leidet weltweit unter den Folgen der Klimaerwärmung. Mehr und mehr Menschen haben zu wenig zu essen. Die Menschen im globalen Süden sind besonders davon betroffen. Wir dürfen einfach keine Zeit mehr verlieren!»
Tanja Carrillo, Projektverantwortliche Policy & Advocacy bei Biovision (war vor Ort)

«Die Schweiz hat in Sharm El-Sheikh versichert, dass sie einen ‘fairen Anteil’ an das 100-Milliar-den-Ziel für die Klimafinanzierung übernehmen wird. Das ist zu begrüssen, denn die bisherigen Versprechen zur Unterstützung der Länder im Globalen Süden sind bei Weitem nicht eingelöst. Besonders stossend ist, dass der Bund für die Klimafinanzierung Gelder einsetzt, die für die Entwicklungszusammenarbeit budgetiert sind.»
Angela Lindt, Leiterin der Fachstelle Entwicklungspolitik bei Caritas Schweiz

«Obwohl die Länder des globalen Südens diejenigen sind, die kaum zum Klimawandel beigetragen haben, sind sie von der Klimakatastrophe am stärksten betroffen – das gilt auch für die Jugend und die kommenden Generationen. Es braucht daher weltweit verbindliche Regeln, die die Verursacher der Krise umgehend in die Pflicht nehmen.»
Annette Mokler, Entwicklungspolitik und Programmkoordination Peru und Westsahara bei terre des hommes schweiz

Für weitere Informationen:
Fastenaktion, David Knecht, Verantwortlicher für Energie und Klimagerechtigkeit,Tel. +4176 436 59 86, knecht@fastenaktion.ch
Alliance Sud, Andreas Missbach, Geschäftsleiter, Tel. +4179 847 86 48, andreas.missbach@alliancesud.ch
SWISSAID, Sonja Tschirren, Expertin für Klima und ökologische Landwirtschaft, Tel. +4179 363 54 36, s.tschirren@swissaid.ch
Helvetas, Christina Aebischer, Klimaexpertin, Tel. +4176 459 61 96, christina.Aebischer@helvetas.org
Heks, Yvan Maillard Ardenti, Programmverantwortlicher für Klimagerechtigkeit, Tel. +4179 267 01 09, yvan.maillard@heks.ch
Caritas Schweiz, Angela Lindt, Leiterin Fachstelle Entwicklungspolitik, Tel. +41 419 23 95, alindt@caritas.ch

Faktenblatt von Alliance Sud zum Schweizer Beitrag an die internationale Klimafinanzierung

Derweil in Bern: skandalöser Entscheid im Ständerat

Die Klimakonferenz fand unter dem Vorzeichen statt, dass das globale 100 Milliarden-Dollar-Ziel um mindestens 17 Milliarden verfehlt wurde. Dass es mehr finanzielle Mittel des Nordens braucht, war das zentrale Thema. Doch das hielt die Umweltkommission des Ständerats (UREK-S) nicht davon ab, während der laufenden Konferenz eine leichte Erhöhung im «Rahmenkredit Globale Umwelt 2023-2026» wieder zu streichen. Und dies obwohl Bundespräsident Cassis in seiner Eröffnungsrede diese zusätzlichen Gelder für den globalen Umweltfonds (Global Environment Facility, GEF) schon angekündigt hatte.

Der Fonds dient zur Unterstützung der Entwicklungs- und Schwellenländer bei der Bekämpfung der Klimakrise sowie zur Anpassung an den Klimawandel. Damit konnten in den letzten vier Jahren Treibhausgasemissionen im Umfang von 1,440 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalenten reduziert werden. Das entspricht 33 Mal dem jährlichen CO2-Ausstoss der Schweiz.

Der Gesamtrat muss korrigieren

Die UREK-S verkündete also am 11. November, dass eine Kommissionsmehrheit dem Ständerat beantragt, den Betrag um 50 Millionen Franken zu kürzen. Als Argument dient die «angespannte finanzielle Lage» der Schweiz – eine Verhöhnung von finanziell weitaus schlechter gestellten Ländern im globalen Süden, die zudem den Klimawandel nicht selber verursacht haben. «Wenn die finanzielle Lage der reichen Schweiz als angespannt gilt, wie kann dann von den ärmsten Ländern erwartet werden, dass sie ohne zusätzliche Unterstützung die Klimakrise bewältigen? Die Umweltkommission hätte die dringliche Lage erkennen und den Beitrag stattdessen erhöhen sollen», betont Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud, dem Schweizer Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Alliance Sud fordert den Ständerat auf, den Kürzungsantrag seiner Kommission in der Wintersession abzulehnen und die Schweizer Versprechen an der Klimakonferenz umzusetzen.

Internationale Klimapolitik

Internationale Klimapolitik

Alljährlich im November verhandeln die Regierungen aller Staaten an der UNO-Klimakonferenz (COP) über die weitere Umsetzung des Pariser Klimaabkommens von 2015. Denn die Weltgemeinschaft läuft grosse Gefahr, das Ziel des Abkommens zu verfehlen, nämlich die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C zu begrenzen.

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Worum es geht

Damit die Ziele des Pariser Abkommens eingehalten werden können, müssen die Treibhausgase vor 2030 drastisch reduziert und bis 2050 weltweit auf Netto Null gebracht werden. In der Realität steigt der weltweite Treibhausgasausstoss aber immer noch an. Zur Umsetzung des Klimaabkommens müssen daher Zwischenziele und gemeinsame Massnahmen wie auch deren Finanzierung beschlossen werden.

Die Schweiz verhandelt aktiv mit. Alliance Sud fordert, dass die Schweizer Verhandlungsposition die historische Verantwortung der Industriestaaten berücksichtigt und entsprechend fairen Finanzierungsleistungen für den Globalen Süden zustimmt – auch zur Deckung von Schäden und Verlusten. Nur dann kann von allen Staaten erwartet werden, mit einer ambitionierten nationalen Klimapolitik zur Emissionsreduktion grösstmöglich beizu-tragen.

Alliance Sud ist Mitglied im Climate Action Network (CAN), einem weltweiten Netzwerk von über 1’900 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzen.