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Ein neues Eldorado für die Rohstoffhändler

07.12.2023, Klimagerechtigkeit

In einem Kohlenstoffmarkt, dessen Grenzen absehbar sind, hat sich ein unerwarteter Akteur selbst zu den Verhandlungen eingeladen: Rohstoffhändler haben jüngst ihren CO2-Handel intensiviert, ohne dabei ihre Geschäfte mit fossilen Brennstoffen zurückzufahren.

Maxime Zufferey
Maxime Zufferey

Junior Professional Officer, Mitarbeiter Klimafinanzierung

Ein neues Eldorado für die Rohstoffhändler

Der Klimahandel hat auch das Interesse der grössten Emittenten, allen voran der Rohstoffhändler, geweckt.

© Nana Kofi Acquah / Ashden 

Erdgas mit dem Etikett «CO2-neutral» oder Beton mit dem Label «Netto-Null»: Die Liste der scheinbar klimaneutralen Konsumgüter ist in den letzten Jahren immer länger geworden. Der buchhalterische Kniff hinter dem CO2-Ausgleich besteht darin, dass ein Treibhausgase emittierender Akteur – sei es ein Unternehmen, eine Einzelperson oder ein Land –, dafür bezahlt, dass ein anderer Akteur seine Emissionen vermeidet, verringert oder auf null setzt. So können sich Unternehmen nach ihrem Gutdünken auf dem Markt profilieren, indem sie sich ihren Kunden gegenüber als engagierte Klimaschützer präsentieren, ohne dabei ihre eigenen Emissionen zu senken. Der freiwillige CO2-Markt, der zwischen einem regelrechten Boom und der jüngsten, durch Greenwashing-Vorwürfe ausgelösten Vertrauenskrise hin- und herpendelt, befindet sich an einem Scheideweg.

Einerseits ist da die wirtschaftliche Realität eines freiwilligen Kohlenstoffmarktes, der sich allein 2021 auf 2 Mrd. USD vervierfacht hat – mit dem Potenzial, bis 2030 auf 50 Mrd. USD anzuwachsen; er hat das Interesse der grössten Emittenten, allen voran der Rohstoffhändler, geweckt. Dieses exponentielle Marktwachstum ist zum einen darauf zurückzuführen, dass der Privatsektor unter dem Drucksteht, immer mehr «Netto-Null»-Verpflichtungen eingehzugehen, und zum anderen darauf, dass die Kompensation im Gegensatz zur Verringerung des eigenen CO2-Fussabdrucks eine finanzielle und logistische Alternative darstellt. Andererseits häufen sich die vernichtenden Berichte über die mangelhafte Qualität der Projekte des freiwilligen Kohlenstoffmarktes. Darin wird vor der unkontrollierten Entwicklung eines Marktes gewarnt, dessen tatsächliche Auswirkungen auf den Klimaschutz vernachlässigbar bis kontraproduktiv sind. So haben die ETH Zürich und die Universität Cambridge aufgezeigt, dass nur gerade 12% des Gesamtvolumens der bestehenden Gutschriften in den wichtigsten Kompensationsbereichen – erneuerbare Energien, Kochherde und Backöfen, Forstwirtschaft und chemische Prozesse – tatsächliche Emissionsreduktionen bewirken. Die Investigativjournalismus-Plattform Follow the Money berichtete in Bezug auf das South Pole-Vorzeigeprojekt Kariba von massiv überhöhten Zahlen. Das Zürcher Unternehmen kündigte daraufhin seinen Vertrag als Carbon Asset Developer für das Projekt in Simbabwe. Die NGO Survival International erhebte schwere Vorwürfe gegen ein freiwilliges Kompensationsprojekt im Norden Kenias, das auf dem Land indigener Gemeinschaften realisiert wird. Ihre Untersuchung deckte potenziell schwere Menschenrechtsverletzungen auf, die die Lebensbedingungen der Hirtenvölker gefährden.

Was also ist der freiwillige Kohlenstoffmarkt? Eine fehlkonzipierte Marketinglösung und gefährliches Blendwerk, das von der dringenden Notwendigkeit transformativer Klimaschutzmassnahmen des Privatsektors ablenkt? Oder eine echte Geschäftsmöglichkeit zur Unterstützung der Klimaschutzmassnahmen von Unternehmen und eine dringend benötigte milliardenschwere Finanzspritze für Projekte zur Emissionssenkung und zum Schutz der Artenvielfalt in Entwicklungsländern?

CO2-Zertifikate – der Rohstoff der Zukunft

Als Pionierin im bilateralen Handel mit CO2-Zertifikaten unter dem Pariser Abkommen ist die Schweiz eine wichtige Akteurin auf dem Kohlenstoffmarkt, einschliesslich seiner freiwilligen Sparte. Sie ist Herkunftsland des grössten Anbieters von freiwilligen CO2-Zertifikaten, South Pole, und des zweitgrössten Zertifizierers, Gold Standard. Vielleicht noch überraschender ist die Positionierung der Schweizer und insbesondere der Genfer Rohstoffhandelsriesen auf in diesem Markt. Sie sind die Flaggschiffe eines Sektors, der ein Rekordjahr nach dem anderen verbucht. Die neuen Investitionen lassen sich aber auch mit dem Potenzial dieses undurchsichtigen Marktes erklären, erhebliche Margen abzuschöpfen und gleichzeitig beim Emissionsausstoss weiterzumachen wie bisher. Ein Markt, notabene, der weder für Preise noch die Verteilung der Einnahmen aus den CO2-Kompensationen eine Regulierung kennt. Gemäss Hannah Hauman, Leiterin des Kohlenstoffhandels bei Trafigura, ist das Kohlenstoffsegment mittlerweile der grösste Rohstoffmarkt der Welt und hat den Markt für Rohöl bereits überflügelt.

So beschloss Trafigura, einer der grössten unabhängigen Öl- und Metallhändler der Welt, im Jahr 2021 ein eigenes Kohlenstoffhandelsbüro in Genf zu eröffnen und das grösste Projekt zur Wiederaufforstung von Mangrovenwäldern an der pakistanischen Küste zu lancieren. Ein Jahr später beläuft sich sein Kohlenstoff-Handelsvolumen bereits auf 60,3 Millionen Tonnen. In seinem Jahresbericht von 2022 deklarierte der Genfer Energiehändler Mercuria nicht nur seine CO2-Neutralität, sondern gab überdies an, dass 14,9% seines Handelsvolumens aus CO2-Märkten bestünden, verglichen mit 2% im Jahr 2021. Anfang 2023 kündigte Mercuria-Mitgründer Marco Dunand die Schaffung von Silvania an, einem Investitionsvehikel mit 500 Mio. USD Kapital, das sich auf natürliche Klimaschutzlösungen (Nature-based Solutions / NbS) spezialisiert. Kurz darauf startete er mit dem brasilianischen Bundesstaat Tocantins das erste Programm zur Senkung von Emissionen aus Abholzung und Waldschädigung mit einem Volumen von bis zu 200 Millionen an freiwilligen Kohlenstoffgutschriften. Nichtsdestotrotz stellen Öl und Gas mit fast 70% immer noch das Hauptgeschäft des Unternehmens dar.

Mercurias Nachbar an den Gestaden des Genfersees, Vitol, der weltweit grösste private Ölhändler, blickt auf eine über zehnjährige Erfahrung auf den Kohlenstoffmärkten zurück und gedenkt, seine Aktivitäten in diesem Bereich auszubauen. Das Unternehmen strebt für den Kohlenstoffhandel ein Marktvolumen an, das mit seiner Präsenz auf dem Ölmarkt vergleichbar ist. Diese lässt sich für das Jahr 2022 auf 7,4 Millionen Barrel Rohöl und Ölprodukte pro Tag beziffern, was mehr als 7% des weltweiten Ölverbrauchs entspricht. Weniger transparent kommuniziert der Rohölhändler Gunvor, der in den kommenden Jahren sein CO2-Handelsvolumen ebenfalls erhöhen will; dasselbe gilt für Glencore; der Konzern ist seit vielen Jahren im Bereich von Kompensationszahlungen für die Biodiversität tätig, dem Kern seiner Nachhaltigkeitsstrategie. Glencore schätzte seine Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette im Jahr 2022 auf 370 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent, mehr als das Dreifache des gesamten CO2-Ausstosses der Schweiz.

Diese Unternehmen bezeichnen sich selbst als treibende Kräfte der Transition und beanspruchen für sich, die Entwicklung durch die Integration des CO2-Handels in ihre Portfolios beschleunigt zu haben. Fakt bleibt: Sie verfolgen eine Doppelstrategie mit Investitionen in sowohl kohlenstoffarme als auch fossile Energieträger, wobei die Bilanz immer noch deutlich zugunsten der fossilen ausfällt. Im Übrigen hat noch keiner dieser Rohstoffhändler seine Abkehr von fossilen Brennstoffen angekündigt, was jedoch unerlässlich ist, will man unter dem im Pariser Abkommen verankerten Temperaturanstieg von 1,5°C bleiben. Das Gegenteil ist der Fall: Die Unternehmen setzen zur Erfüllung ihrer Klimaverpflichtungen massiv auf Kompensationsgeschäfte und verfolgen so ihre kurzfristigen Gewinnziele, während sie gleichzeitig den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen weltweit verzögern. Angesichts der fehlenden Regulierung zur Einschränkung der Investitionen in fossile Brennstoffe und klimazerstörende Aktivitäten ist es illusorisch zu glauben, die Rohstoffhandelsbranche könne die Transition herbeiführen und die Ziele seien über den freiwilligen Kohlenstoffmarkt erreichbar. Solange die Unternehmen nicht alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre eigenen Emissionen zu senken, bleiben naturbasierte Lösungen Greenwashing und die Absichtserklärungen zugunsten der Transition Augenwischerei: Diese Unternehmen geben vor, den Flächenbrand, den sie selbst angefacht haben, zu löschen.

Dubai als Schiedsrichter

An der UN-Klimakonferenz (COP 28), die im Dezember 2023 in Dubai stattfindet, dürften einige Weichen für die Zukunft und die Glaubwürdigkeit des freiwilligen Kohlenstoffmarktes gestellt werden. Dort wird unter anderem über die Umsetzung von Artikel 6.4 des Pariser Abkommens verhandelt, der als einheitlicher Rahmen für einen echten globalen Kohlenstoffmarkt dienen könnte. Die COP wird präsidiert von Sultan Al Jaber, seines Zeichens CEO des elftgrössten Öl- und Gasproduzenten der Welt, der Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC); letztere hat soeben ein Kohlenstoffhandelsbüro eröffnet. Eine massive Präsenz am Verhandlungstisch haben ausserdem multinationale Konzerne aus dem Bereich der fossilen Brenn- und Rohstoffe. Die Anforderungen an Transparenz, allgemeingültige Regeln und wirksame Kontrollen im freiwilligen Kohlenstoffmarkt dürften deshalb verwässert werden.

Denn obwohl die Befürworter des freiwilligen Kohlenstoffmarktes einige der derzeitigen Schwächen des Sektors anerkennen, so sind sie doch weiterhin davon überzeugt, dass die verschiedenen Initiativen zur Selbstregulierung wie die Voluntary Carbon Markets Integrity Initiative (VCMI) und die Schaffung von Standards zu einer klaren Abgrenzung von glaubwürdigen Kohlenstoffgutschriftenführen werden. Die Gegner:innen hingegen glauben nicht an die Transformationskraft eines freiwilligen Marktes durch Selbstregulierung. Sie sehen in der Debatte um die CO2-Kompensation ein potenzielles Ablenkungsmanöver, das den Status quo zementiert. Sie plädieren für einen vollständigen Paradigmenwechsel. Der derzeitige Markt für den CO2-Ausgleich nach dem Prinzip «Tonne für Tonne» – d. h. eine Tonne CO2, die irgendwo ausgestossen wird, wird mathematisch durch eine Tonne CO2, die anderswo eingespart wird, ausgeglichen – sollte in einen separaten Markt für Klimabeiträge nach dem Grundsatz «Tonne für Geld» umgewandelt werden, d. h. eine Tonne CO2, die irgendwo ausgestossen wird, wird in Höhe der echten sozialen Kosten einer Tonne Emissionen finanziell internalisiert. Dies wäre ein sinnvolles Instrument als Ergänzung zu quantifizierbaren Reduktionsverpflichtungen – kein Ersatz dafür! Dringend nötig ist auch eine gründliche Sorgfaltspflicht für alle Kohlenstoffprojekte, mit Schutzmechanismen für Menschenrechte und Biodiversität sowie einem wirksamen Beschwerdemechanismus.