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Globale Solidarität in der Krise

07.12.2021, Internationale Zusammenarbeit

Trotz Impfstoffen und wirtschaftlicher Erholung in der Schweiz: Global gesehen ist die Coronakrise längst noch nicht überwunden und die Ungleichheit nimmt zu. Eine Zwischenbilanz und ein Plädoyer für mehr globale Verantwortung.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Globale Solidarität in der Krise

Ein katholischer Priester mit Soldaten bei der Desinfektion der Christusstatue in Rio de Janeiro (Brasilien).
© Ricardo Moraes / REUTERS

Im Dezember 2019 berichteten chinesische Medien von der Ausbreitung eines unbekannten Virus in Wuhan, Ende Januar 2020 deklarierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen globalen Gesundheitsnotstand. Seither breitete sich das Virus rasant auf der ganzen Welt aus, brachte die internationale Wirtschaft und das soziale Leben vieler Menschen quasi über Nacht zum Stillstand. Seither ist vieles nicht mehr, wie es einmal war. Über fünf Millionen Menschen sind weltweit am Virus gestorben (die Dunkelziffer ist noch viel höher), unzählige weitere leiden nach wie vor an den gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Auch wenn mit der Entwicklung und Zulassung mehrerer Covid-Impfstoffe ein Hoffnungsschimmer am Horizont auftauchte, ist die Pandemie vielerorts noch lange nicht beendet und viele der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen werden erst jetzt richtig sichtbar.

Im April 2020 publizierte Alliance Sud einen Artikel mit dem Titel «Eine globale Krise braucht globale Solidarität». Darin zeigte sie auf, dass die Krise zwar alle trifft, aber nicht alle gleich. Alliance Sud plädierte für mehr Unterstützung zugunsten der ärmsten Länder bei der Bewältigung der Krise, für einen globalen Schuldenschnitt und für einen Wiederaufbau nach dem Prinzip «Build back better». Aber was hat sich seither getan und wo stehen wir nach fast zwei Jahren Coronakrise?

Haben wir die Pandemie wirklich im Griff?

Auch die westlichen Gesundheitssysteme kamen im Verlauf der letzten beiden Jahre immer wieder an den Anschlag. Krisengeschütteltes Gesundheitspersonal, überfüllte Intensivstationen und viele tragische Einzelschicksale dominierten die Schlagzeilen. Die folgenschwersten Katastrophen aber spielten sich anderswo ab – in Indien, Brasilien oder in Peru, wo im Frühjahr 2021 zahlreiche Familien stundenlang auf der Suche nach Sauerstoff durch die Städte fuhren, während ihre Angehörigen langsam im Spital oder auf dem Weg dorthin erstickten; oder in den Flüchtlingslagern in Bangladesh, Kolumbien oder der Türkei, wo sich nicht nur das Virus rasant verbreitete, sondern auch die Nahrungsmittelknappheit und der Hunger massiv zunahmen.

Millionen von Menschen haben in Zeiten der Covid-Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren. So schätzt die internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass im Jahr 2022 205 Millionen Menschen arbeitslos sein werden, im Vergleich zu 187 Millionen im Jahr 2019. Vor allem bei Jugendlichen und Frauen ist die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr dramatisch angestiegen. Auch die Anzahl der «working poor» – Arbeitnehmende, die mit weniger als 3.20 Dollar pro Tag auskommen müssen – hat seit 2019 um 108 Millionen Personen zugenommen. Am katastrophalsten aber ist die Lage für die mehr als zwei Milliarden Menschen, die im informellen Sektor tätig sind und über keinerlei soziale Absicherung verfügen. Für sie bedeuteten Lockdowns und andere Einschränkungen in vielen Fällen der Verlust ihrer Existenzgrundlage.

So stellt auch die Weltbank fest, dass aufgrund der Coronakrise die extreme Armut zum ersten Mal seit 22 Jahren wieder zugenommen hat.  Sie schätzt, dass bisher etwa 121 Millionen Menschen neu in die extreme Armut getrieben wurden. Wie Alliance Sud in einem Hintergrundartikel berichtete, ist die 1 Dollar/Tag Armutsgrenze der Weltbank allerdings extrem tief angesetzt und weist verschiedene methodische Probleme auf. Eine realistischere Definition von extremer Armut würde wohl noch ein weitaus schlechteres Bild vermitteln.

Auch Ernährungsunsicherheit und Hunger sind aufgrund der Coronakrise massiv angestiegen. So hatte 2020 jeder dritte Mensch keinen Zugang zu angemessener Ernährung. Die Prävalenz der Unterernährung stieg innerhalb von nur einem Jahr von 8.4 auf rund 9.9 Prozent an, nachdem sie zuvor fünf Jahre lang praktisch unverändert geblieben war. Im Vergleich zum Jahr 2019 waren 2020 in Afrika etwa 46 Millionen, in Asien 57 Millionen und in Lateinamerika und der Karibik etwa 14 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger betroffen.

Helvetas und sieben andere europäische NGOs belegen in einer grossangelegten Befragung von 16‘000 Personen in 25 Ländern den massiven Rückgang des Einkommens, der Ernährungssicherheit sowie des Zugangs zu Bildung, mit dem viele Personen zu kämpfen haben. Die Studie zeigt, dass die ohnehin schon verletzlichsten Personen – ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, alleinerziehende Mütter, Frauen und Kinder – am stärksten von der Pandemie betroffen sind.

Weltwirtschaftliche Verwerfungen

Während sich die Wirtschaft in vielen westlichen Ländern, inklusive der Schweiz, erstaunlich rasch erholt zu haben scheint, schreitet die Erholung im Globalen Süden wesentlich langsamer voran. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die Weltwirtschaft 2021 um 6 Prozent wachsen wird, die afrikanische Wirtschaft aber nur um 3.2 Prozent. Im Vergleich zu den ökonomischen Auswirkungen der globalen Finanzkrise von 2008 waren die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise in den meisten ärmeren Ländern – vor allem in Afrika und Südasien – bei weitem verheerender.

Der weltweite Anstieg der Rohstoffpreise hat die Kosten für viele Basisprodukte erhöht: Seit Mitte 2020 steigen die Metall- und Ölpreise und im Mai 2021 erreichte die jährliche Lebensmittelinflation fast 40 Prozent, den höchsten Wert seit zehn Jahren. Während steigende Metall- und Ölpreise vor allem ein Problem für die industrialisierten Länder darstellen, haben die anschwellenden Nahrungsmittelpreise massive Auswirkungen auf Armut und Hunger in den ärmeren Ländern. In Nigeria beispielsweise sind die Lebensmittelpreise seit Beginn der Pandemie um fast ein Viertel gestiegen, was 7 Millionen Menschen in die extreme Armut getrieben hat.

Ein weiterer von der Pandemie besonders stark betroffener Sektor ist der Tourismus. Die internationalen Touristenankünfte in den ärmsten Ländern sind im Jahr 2020 um 67 Prozent eingebrochen. Gemäss Einschätzungen der UNO wird es mindestens vier Jahre brauchen, bis die Anzahl Touristenankünfte wieder das Niveau von 2019 erreicht. Dies gefährdet die Lebensgrundlage von Einzelpersonen, Haushalten und Gemeinschaften sowie das Überleben von Unternehmen in der gesamten touristischen Wertschöpfungskette.

Steigende Verschuldung

Während die meisten Industrieländer massive Konjunkturpakete auflegten, um die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise aufzufangen, fehlen den ärmeren Ländern sowohl die Ressourcen wie auch der politische Spielraum, um es dem Westen gleichzutun. Dies weil sie a) aufgrund ihrer Kreditwürdigkeit auf den internationalen Kapitalmärkten keine Kredite zu vernünftigen Zinssätzen aufnehmen können; b) aufgrund von Inflationsspitzen kein Geld drucken können und c) wegen internationaler Steuerhinterziehung nur begrenzt Mittel im Inland mobilisieren können.

Gemäss Schätzungen des IWF müssten einkommensschwache Länder in den kommenden fünf Jahren rund 200 Mrd. USD für die weitere Bekämpfung der Pandemie und weitere 250 Mrd. USD für die Beschleunigung der wirtschaftlichen Erholung aufwenden. Allerdings fehlt den meisten dieser Länder der Spielraum, um ihre Ausgaben zu erhöhen: Nach Angaben des IWF haben 41 einkommensschwache Länder ihre Gesamtausgaben im Jahr 2020 sogar gesenkt, wobei bei 33 davon die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum BIP dennoch anstieg. Der Auslandsschuldenstand der Entwicklungsländer erreichte somit 2020 einen Rekordwert von 11.3 Billionen US-Dollar, 4.6 Prozent mehr als im Jahr 2019 und 2.5 Mal so viel wie 2009 nach der globalen Finanzkrise.

Wo bleibt die globale Solidarität?


Rufe nach grosszügiger Unterstützung und Entschuldung wurden verschiedentlich laut; trotzdem hat sich bisher wenig getan. Die Debt Service Suspension Initiative (DSSI), auf die sich die G20-Staaten, die Weltbank und der IWF im Frühjahr 2020 geeinigt haben, führte einzig zur temporären Aussetzung des Schuldendienstes für bilaterale Kredite einiger Länder. Nicht nur beteiligte sich China als grosse Kreditgeberin nicht an der Initiative, auch die zahlreichen privaten Kreditgeber unterstützten die DSSI nicht.  Aus Angst, ihre privaten Kreditgeber zu verärgern, beteiligten sich zudem nur etwas mehr als die Hälfte der auf dem Papier förderungswürdigen Länder. Im Endeffekt erhöhte die DSSI den finanziellen Spielraum von 46 Schuldnerländern in den Jahren 2020 und 2021 (um 5.7 Mrd. USD bzw. 7.3 Mrd. USD). Da die ausgesetzten Schuldenzahlungen nun aber den Rückzahlungsplänen ab 2022 wieder hinzugefügt werden müssen, wurde die drohende Schuldenkrise höchstens aufgeschoben statt aufgehoben. Auch die Notkredite, die der IWF und die Weltbank zur Bewältigung der Krise sprachen, lösen das Problem kaum, tragen sie doch zur zusätzlichen Verschuldung bei.

Obwohl die öffentliche Entwicklungshilfe (APD - aide public au développement) im Jahr 2020 um 3.5 Prozent anstieg, macht sie nach wie vor nur 0.32 Prozent des kombinierten Bruttonationaleinkommens der OECD-DAC-Mitgliedsstaaten aus. Dies ist weniger als die Hälfte des international mehrmals bekräftigten Ziels, 0.7 Prozent des BNE für die APD aufzuwenden und nur etwa 1 Prozent der Gelder, die für heimische Konjunkturpakete mobilisiert wurden. Obwohl die Schweiz rasch zusätzliche Gelder für humanitäre Projekte und für die Covax-Allianz freigab, bleibt sie auch 2020, als eines der reichsten Länder der Welt, mit 0.48 Prozent des BNE weit vom international vereinbarten 0.7%-Ziel entfernt.

Globale Impf-Apartheid

Auch der ehemalige OECD-Generalsekretär Angel Gurría betonte, dass es in Zukunft «weit grösserer Anstrengungen bedarf, um den Entwicklungsländern bei der Impfstoffverteilung, bei der Gesundheitsversorgung und bei der Unterstützung der ärmsten und am meisten gefährdeten Menschen zu helfen». Leider zeigt sich der Egoismus der westlichen Länder nicht nur bei den wirtschaftlichen Konjunkturpaketen, sondern auch bei der Verteilung der Covid-Impfstoffe. Während in vielen westlichen Ländern bereits Kinder geimpft werden oder dritte sogenannte Booster-Impfungen verabreicht werden, haben in den ärmsten Ländern gerade einmal 3.1 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten.

Eine Analyse des Forschungsinstituts Airfinity zeigt auf, dass gemäss den aktuellen Impfraten bis Ende 2021 80 Prozent der Erwachsenen in den G7-Staaten geimpft sein werden. Gleichzeitig wird die G7 fast 1 Milliarde überschüssige Impfdosen angesammelt haben. Diese würden ausreichen, um einen Grossteil der Bevölkerung in den 30 Ländern mit der niedrigsten Impfquote zu impfen (die meisten dieser Länder befinden sich in Afrika). Die Covax-Initiative, welche mit dem Ziel einer gerechteren weltweiten Verteilung von Impfstoffen gegründet wurde, hat bisher weniger als 10 Prozent der versprochenen 2 Mrd. Dosen an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen geliefert. Dies unter anderem, weil die reicheren Länder prioritäre Verträge mit den Impfstoffherstellern abschlossen und somit die Covax vom Impfstoffmarkt verdrängten. Absurderweise haben auch mehrere reiche Länder (unter anderem England, Qatar und Saudi-Arabien) selber Impfstoffe aus dem Covax-Programm bezogen.

Auch die Schweiz hat – bei einer Bevölkerung von 8.6 Millionen – bis jetzt Verträge mit fünf Impfstoffherstellern über insgesamt knapp 57 Millionen Dosen abgeschlossen (wobei bisher nur drei der Impfstoffe von Swissmedic zugelassen wurden). 4 Millionen Impfdosen des in der Schweiz nicht zugelassenen Herstellers Astra Zeneca wurden der Covax versprochen, wovon bisher nur etwa 400‘000 verteilt wurden.

Neben der Covax-Initiative ist auch der Aufbau von Kapazitäten zur Herstellung von Impfstoffen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen wichtig. Hierzu müssten allerdings Pharmaunternehmen ihre Impfstofftechnologie und ihr Know-how mit Herstellern dieser Länder teilen. Ein Vorstoss von Indien und Südafrika in der Welthandelsorganisation (WTO), der die temporäre Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte für Covid-Impfstoffe, -Tests und -Behandlungen verlangt, wurde denn auch von China und Russland und teilweise von Frankreich, den USA und Spanien sowie von der WHO und Papst Franziskus unterstützt. Die Pharmaindustrie und die Schweiz wehren sich dagegen und plädieren weiterhin für freiwillige Massnahmen.

Zurück zur Normalität?

Auch wenn es in der Schweiz scheint, als hätten wir die Coronakrise bald überwunden, sind wir weltweit noch weit davon entfernt. Punktuelle Unterstützung für humanitäre Projekte, das Spenden «alter» oder «unerwünschter» Impfdosen und die Gewährung weiterer Kredite an ärmere Länder werden nicht ausreichen, um die aktuelle Krise und die ihr zugrundeliegenden, strukturellen Ursachen zu bekämpfen.
Nur wenn wir uns eingestehen, dass wir alle miteinander vernetzt sind und eine gemeinsame Verantwortung tragen, die Welt lebenswert zu gestalten und zu erhalten, können wir einen Schritt weiterkommen und nicht nur diese Krise, sondern auch die ihr zugrunde liegenden systemischen Krisen, inklusive der globalen Klimakrise, überwinden. Denn eins hat die Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt: Wo ein (politischer) Wille ist, ist auch ein Weg.

Die Verantwortung der Schweiz

Die Schweiz als eines der reichsten und am stärksten globalisierten Länder der Welt trägt eine besondere Verantwortung. Daher fordert Alliance Sud, dass sie

 

  • als führendes Tiefsteuergebiet und siebtgrösster Finanzplatz der Welt Sofortmassnahmen ergreift, um Steuerhinterziehung aus armen Ländern, an denen Schweizer Konzerne, Finanzdienstleister und Anwaltskanzleien beteiligt sind, zu unterbinden. Nur so können arme Länder genügend öffentliche Ressourcen für die Bekämpfung der Covid-Krise mobilisieren;
  • sich dafür einsetzt, dass die 40 Schweizer Banken, welche aktuell Kredite an die 86 ärmsten Länder vergeben haben, aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Lage in diesen Schuldnerstaaten sämtliche Kredite gegenüber diesen Staaten abschreiben;
  • endlich ihr internationales Versprechen einlöst und ihre APD-Quote graduell auf 0.7% des BNE erhöht und ihre gesamte Entwicklungszusammenarbeit auf die Rechte, Bedürfnisse und Wünsche der ärmsten und verletzlichsten Menschen fokussiert;
  • ihre überschüssigen Impfdosen möglichst rasch der Covax abgibt und ihre Blockade-Haltung gegenüber dem WTO-Vorstoss von Indien und Südafrika aufhebt.
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