Meinung

Der Schweizer Beitrag zur Rettung der UNO

21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit

Der Krieg in der Ukraine hat eine Wertekrise verschärft, die mit der politischen Instrumentalisierung der UNO zusammenhängt. Neutrale Länder wie die Schweiz sollten sich stärker für eine bessere Welt einsetzen, sagt El Hadji Gorgui Wade Ndoye.

Der Schweizer Beitrag zur Rettung der UNO
El Hadji Gorgui Wade Ndoye ist Journalist bei der UNO in Genf, Korrespondent für die Tageszeitung «Soleil» aus Senegal und Direktor des panafrikanischen Magazins ContinentPremier.Com.
 

Die grosse Krise, in der sich die Vereinten Nationen aktuell befinden, ist im Grunde eine Identitätskrise: Die universellen Werte, die die Nationen vereint haben, bekommen Risse unter dem Druck einer kriegerischen Logik, die die Werte des Friedens und der Menschenrechte vernachlässigt. Der Krieg in der Ukraine macht dies deutlich: Auf der einen Seite gibt es einen Staat, der ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ist und mitten im 21. Jahrhundert einen anderen Staat unter dem Vorwand der Entnazifizierung angreift. Auf der anderen Seite steht ein westlicher Block, der sich verbal überbietet und sich entschlossen dazu verpflichtet, den betroffenen Staat zu bewaffnen.  

Abgesehen von der Klimakatastrophe, die vom IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) angekündigt und im Bericht der Weltorganisation für Meteorologie vom 18. Mai bekräftigt wurde, und den humanitären und Nahrungsmittelkrisen, die von einer finanziell schwachen UNO so gut wie möglich bewältigt werden, hat der Krieg in der Ukraine vor allem eine Wertekrise verschärft, die mit der politischen Instrumentalisierung der Weltorganisation zusammenhängt. Auch der Menschenrechtsrat, Erbe der gleichnamigen Kommission mit Sitz in Genf, entgeht dieser Instrumentalisierung nicht immer – obwohl die Vereinten Nationen im Jahr 1945 nicht auf der Asche des Völkerbundes mit einer manichäischen Vision von «Pro» und «Contra» gegründet worden waren.

Makane Moïse Mbengue, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf und Mitglied des Instituts für Internationales Recht, schlägt eine «rhetorische Neuausrichtung auf die Werte, Ziele und Gründungsprinzipien der Vereinten Nationen» vor. In diesem Rahmen kommt dem afrikanischen Kontinent eine wichtige Rolle zu, einem Kontinent, auf dem sich bis vor kurzem fast 70% des Interventionsvolumens der Vereinten Nationen konzentrierten. Der erste Kontinent, der sich keinem Ost-West-Block zugehörig fühlt und angesichts des Wiederaufflammens des Kalten Krieges erneut Zeuge einer Konfrontation ist, könnte der internationalen Gemeinschaft als ältester Sohn der Erde eine «zusätzliche Seele» verleihen. Ebenso sollten sich historisch neutrale Länder stärker für eine bessere Welt einsetzen. Dies gilt insbesondere auch für die Schweiz, umso mehr, wenn sie einem der wichtigsten der sechs Organe der Vereinten Nationen beitreten wird: dem Sicherheitsrat. Wie der Schweizer Soziologe Jean Ziegler gesagt hat: «Die UNO ist der letzte Graben vor dem Chaos.»

Welche Rolle für die Schweiz?

Der Juni 2022 ist ein historisches Datum für die Schweiz, da sie von der Liste der 62 Länder, die noch nie im Sicherheitsrat Einsitz nahm, gestrichen wird. Die Schweizerische Eidgenossenschaft, die 2002 Mitglied der UNO wurde, könnte mit dem neuen Vertrauen, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen in sie setzt, einen frischen Wind in die Beziehungen zwischen den fünfzehn Mitgliedstaaten und insbesondere den fünf ständigen Mitgliedern (China, Frankreich, Vereinigte Staaten, Russische Föderation und Grossbritannien) spielen. Trotz der Sanktionen gegen Russland, an denen sie sich beteiligt, können die Glaubwürdigkeit und die Neutralität der Schweiz weiterhin dazu dienen, Brücken zwischen den Nationen zu bauen. So könnte die Eidgenossenschaft zusammen mit anderen Ländern aus dem afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent auf eine Neuausrichtung der Rhetorik im Sicherheitsrat hinwirken, damit diese stärker mit den Idealen der Charta der Vereinten Nationen übereinstimmt.  

Die Schweiz kann sich im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Vermittlerin präsentieren, da sie weder Mitglied der NATO noch der Europäischen Union ist. Dafür muss sie in den zwei Jahren, in denen sie im Rat vertreten sein wird, diesem mächtigen Gremium ihre Werte des Friedens und der partizipativen Demokratie näherbringen. Es wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Vetorecht zu beseitigen, das den fünf ständigen Mitgliedern aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der Gründung der Organisation gewährt wurde. Die Schweiz könnte sich jedoch gemeinsam mit anderen Staaten an der Resolution orientieren, die am 26. April 2022 von der Generalversammlung im Konsens verabschiedet wurde: Jeder Einsatz eines Vetos wird künftig eine Sitzung der Generalversammlung auslösen, in der alle UN-Mitgliedstaaten das Veto prüfen und kommentieren können. Die Resolution «Ständiges Mandat für eine Debatte in der Generalversammlung, wenn im Sicherheitsrat ein Veto eingelegt wird», die ohne Abstimmung angenommen wurde, folgte auf Russlands Gebrauch seines Vetorechts im Rat einen Tag nach seiner Invasion in die Ukraine und forderte dessen bedingungslosen Rückzug aus dem Land. Damit ist ein neues Druckmittel entstanden, das nach einer grösseren Verantwortung der Vetostaaten verlangt. Die Mitgliedstaaten haben dem Rat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen und sind übereingekommen, dass dieser, wenn er in ihrem Namen handelt, jederzeit das grösstmögliche Verantwortungsbewusstsein für die Realisierung «der Ziele und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen» an den Tag legen sollte.

Ist die Neutralität mit dem Sicherheitsrat vereinbar?

Die Schweiz ist den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Idealen verpflichtet. Folgerichtig muss ihre Präsenz im Sicherheitsrat ihr Engagement für Frieden und Sicherheit in der Welt und innerhalb der Weltorganisation zum Ausdruck bringen. Das grundlegende Ziel der schweizerischen Neutralität ist insofern vergleichbar mit dem Bestreben der UNO, als diese ein auf dem Recht basierendes System setzt, um «künftige Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren». Tatsächlich kann man feststellen, dass Staaten, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Bezug auf einen Konflikt garantiert ist und die keine direkten nationalen Interessen oder eine versteckte Agenda bei der Konfliktlösung haben, prädestiniert dafür sind, die Rolle des ehrlichen Vermittlers («honest broker») zu übernehmen. Der Sitz im Sicherheitsrat eröffnet der Schweiz neue Möglichkeiten, um zu Frieden, Sicherheit und einer gerechten internationalen Ordnung beizutragen. Auch wenn die UNO bisher nicht alle ihre Aufgaben erfolgreich erfüllt hat, bleibt sie doch «der letzte Graben vor dem Chaos», um es mit den Worten von Jean Ziegler zu sagen.