Meinung

Im Schatten des Vulkans

23.03.2023, Klimagerechtigkeit

Sandstrände, Rum und farbige Fische: Das ist die Karibik aus dem Ferienprospekt. Vergessen geht dabei, dass die karibischen Inseln ganz besonders durch Naturereignisse gefährdet sind. Von Karin Wenger.

Im Schatten des Vulkans

© Karin Wenger

Als wir der Westküste von Montserrat entlangsegeln, rieche ich es auf einmal: Ein übler Gestank. Vielleicht ein fliegender Fisch, der an Deck gesprungen ist, ohne dass wir ihn entdeckt haben? Nein. Es stinkt nach faulen Eiern. Und dann sehen wir sie: kleine Schwefelwölkchen, die aus dem Schlund des Vulkans quellen und mit dem Wind zu uns aufs Meer getrieben werden. Der Soufrière-Hills-Vulkan spuckt, und das schon seit fast dreissig Jahren.

Bei seinem Ausbruch 1995 erwischte er die Bewohner:innen kalt. Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich der Soufrière-Hills-Vulkan nicht geregt und auf einmal, nach 270 Jahren Dornröschenschlaf, war er erwacht. Der Vulkan begann Asche und Lava zu spucken, die Hauptstadt Plymouth, die an der Westseite des Vulkans liegt, musste evakuiert werden. Von den mehr als 11’000 Inselbewohner:innen zogen die meisten fort. Da Montserrat bis heute ein britisches Überseegebiet ist, gingen viele nach England, wo sie Hilfe bekamen.

Auch Vernaire Bass, die beim Ausbruch des Vulkans Teenager war, verliess damals ihre Heimat. «Nicht nur die Infrastruktur war zerstört, sondern es gab auch keine Arbeit mehr und keine Zukunft für uns», erinnert sich Bass, die heute unter anderem das Nationalmuseum auf der Insel leitet. Zudem sei der Vulkan nicht die einzige Gefahr gewesen. «Jedes Jahr ab Juni müssen wir damit rechnen, dass alles, was wir uns aufgebaut haben, von einem Hurrikan vernichtet wird. Das bedeutet ein Leben in ständiger Unsicherheit. Viele Inselbewohnener:innen – nicht nur hier, sondern in der ganzen Karibik – leiden deshalb an PTSD, Posttraumatischer Belastungsstörung.» So tobte beispielsweise 1989 Hurrikan Hugo über die Karibik und richtete riesige Verwüstungen an, auch in Montserrat. Während sechs Jahren wurden die Hauptstadt Plymouth und die Infrastruktur der Insel wieder aufgebaut, es gab ein neues Spital und neue Schulen; als alles wieder hergerichtet war, brach der Vulkan aus. Vernaire sagt: «Ohne die Hilfe aus England wäre die Insel heute wohl menschenleer. Wir hätten schlicht nicht das Geld gehabt, alles wieder aufzubauen.»

Montserrat ist nicht die einzige Vulkaninsel in der Region. Hier stösst die karibische Platte auf andere Platten, was Reibung erzeugt; deshalb kommt es hier immer wieder zu Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Gerade im Gebiet der Antillen, zu denen auch Montserrat gehört, gibt es einen Kreuzungspunkt der nord- und südamerikanischen und der karibischen Platte, sodass hier besonders grosse Spannungen entstehen können. Die Hurrikan-Saison beginnt jedes Jahr im Juni und dauert bis November. 2022 fegten 14 grosse Stürme und acht Hurrikane über die Karibik. Auf einigen Inseln richteten sie grossen Schaden an. So traf Hurrikan Ian im vergangenen September auf Kuba. Über drei Millionen Kubanerinnen und Kubaner waren direkt betroffen, Zehntausende verloren ihr Zuhause. Steigt die Temperatur um zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, besteht laut Klimaforscher:innen in der Karibik eine fünf Mal höhere Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen von Hurrikanen, Stürmen und schweren Fluten. Das bedeutet als Zukunftsszenario: die Zerstörung von Lebensraum und die Vertreibung von Millionen von Menschen.

Auch Montserrat wurde im vergangenen Jahr von einem schweren Hurrikan getroffen. Hurrikan Fiona fegte am 16. September 2022 über die Insel. Am stärksten betroffen war Plymouth, die ehemalige Hauptstadt, die bereits vom Vulkan zerstört worden war. Der Vulkan hat seit 1995 nicht mehr aufgehört zu spucken. In den vergangenen Jahren wuchs der Dom des Vulkans immer wieder um hunderte von Metern, um dann zu kollabieren. Den letzten Domkollaps gab es 2010. Immer noch sind zwei Drittel der Insel und ein Umkreis von zehn Seemeilen um den südlichen Teil der Insel Sperrgebiet, auch Plymouth. Nur dank einer Spezialbewilligung können wir die Überreste von Plymouth besuchen. Hier, wo früher geschäftiges Treiben herrschte, liegt nun eine geisterhafte Stille über den Ruinen. Der Vulkan hat die Stadt regelrecht eingeäschert und verschluckt. Von dreistöckigen Gebäuden sind nur noch die obersten Stockwerke sichtbar; wo einst ein langes Dock für Kreuzfahrtschiffe war, sieht man bloss noch den kleinen Stumpf eines Docks – der Vulkan hat so viel Masse ausgespuckt, dass die Küstenlinie um hundert Meter ins Meer verschoben wurde. Wo einst Wasser war, ist nun neues Land.

Heute wird der Vulkan von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen des «Montserrat Volcano Observatory» rund um die Uhr überwacht. Einer von ihnen ist José Manuel Marrero, ein spanischer Vulkanologe. Er sagt: «Die Gefahr eines neuen, grossen Ausbruchs besteht. Wir wissen nur nicht, wann er stattfinden wird.»

Trotzdem ist Vernaire Bass nach mehr als zwei Jahrzehnten in Grossbritannien vor drei Jahren auf die kleine Karibikinsel zurückgekehrt. «Ich sehnte mich nach meiner Heimat und wollte an der Entwicklung der Insel teilnehmen», sagt sie. Doch die Insel hat sich verändert. Von den einst mehr als 11’000 Bewohner:innen sind nur 3’000 geblieben. Jeder kennt jeden, Korruption ist weit verbreitet und neue Ideen scheitern oft an den starren Vorstellungen einiger weniger Familien mit Macht und Einfluss. Es gibt Momente, in denen Vernaire ihre Rückkehr in die Heimat bereut. Trotzdem sagt sie, der Vulkan habe ihr ein Geschenk gemacht: «Er hat mich gelehrt, mich anzupassen. Ich kann überall überleben, wenn ich Nahrung und eine Unterkunft habe. Das unterscheidet uns Inselbewohner:innen wahrscheinlich von den Europäer:innen: Die ständige Gefahr macht uns widerstands- und überlebensfähig.»

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© zVg
Karin Wenger

Die Autorin: Karin Wenger

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit Sommer segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie hier www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com