Hinter den Schlagzeilen

Mit der Pistole auf dem Jetski

12.12.2023, Weitere Themen

Als Bernardo Arévalo im vergangenen August in Guatemala die Präsidentschaftswahl gewinnt, ist das eine Sensation und eine grosse Überraschung. Arévalo ist der Hoffnungsträger der Unterdrückten, Armen und Indigenen. Doch die Hoffnung hält nicht lange an.

Mit der Pistole auf dem Jetski

© Karin Wenger

von Karin Wenger

An die Waffen gewöhnen wir uns nur mit Mühe. Selbst in der Werft am Rio Dulce, in der wir seit Anfang August unser Segelboot auf den Pazifik vorbereiten, sehen wir sie überall. Die Reichen, die hier ihre Schnellboote unterbringen und am Wochenende für Spritztouren auf dem See in Helikoptern angeflogen kommen, tragen ihre Pistolen in Halftern über der Badehose. Selbst wenn sie auf ihre Jetskis steigen, legen sie die Waffen nicht ab. Einmal gibt es eine Schiesserei im Städtchen und bei einem Volksfest mit Rodeo, das zu Ehren eines Heiligen abgehalten wird, tragen die Männer ihre Waffen spazieren wie die Frauen ihre Handtaschen.

Was ist das für ein Land, in dem Gewaltbereitschaft so natürlich zur Schau gestellt wird? Eines mit einer gewaltsamen Vergangenheit. Dabei hätte Guatemalas Geschichte auch ganz anders verlaufen können, denn 1945 war der Beginn eines kurzen demokratischen Frühlings. Juan José Arévalo wurde in den ersten freien Wahlen des Landes zum Präsidenten gewählt. Er versprach Landreformen, mehr soziale Gerechtigkeit, ein Ende der halbfeudalen Strukturen und dass er Guatemala zu einem unabhängigen Land machen werde. Guatemala war damals faktisch eine US-amerikanische Kolonie unter der Kontrolle der United Fruit Company. Diese besass unter anderem riesige Ländereien, auf denen sie Bananen anpflanzte. Das Land war eine «Bananenrepublik» im wahrsten Sinne des Wortes und so sollte es auch bleiben. Arévalos Regierung konnte zwar mehrere Putschversuche abwehren, doch am 18. Juni 1954 putschte eine kleine Exilarmee mit Hilfe der CIA Arévalos Nachfolger weg. Arévalo floh ins Exil. In Guatemala folgte darauf eine Militärdiktatur auf die nächste. Die USA lebte gut mit ihnen und schaute zu, als guatemaltekische Regierungstruppen im Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 schätzungsweise 250'000 Guatemaltek:innen, die meisten von ihnen Indigene, ermorden oder verschwinden liessen.

Der Bürgerkrieg ist zwar längst vorbei, aber noch heute gehört Guatemala zu den Ländern mit den meisten politischen Morden. Indigene, Menschenrechtler:innen, Umweltaktivist:innen und Journalist:innen müssen weiterhin um ihr Leben fürchten, wenn sie Kritik üben. Der 41-jährige Journalist Carlos Ernesto Choc, ein Indigener der Maya Q’eqchi, spürt diese Repression am eigenen Leib, seit er 2017 einen Umweltskandal am Izabal-See aufgedeckt hat. Damals färbte sich der See rot, verschmutzt durch Abwasser der Fénix Nickelmine. Die Mine gehört einem Tochterunternehmen der Solway Group, die in Zug registriert ist. Als die Fischer gegen die Minenbetreiber zu protestieren begannen, schickte die Regierung die Polizei. Als diese den demonstrierenden Fischer Carlos Maaz tötete, war Choc da und publizierte die Fotos und die Geschichte. Seither wird er von der Polizei drangsaliert und von der Regierung kriminalisiert und mit Verleumdungsklagen eingedeckt. Über ein Jahr lebte er im Untergrund, um einer Verhaftung zu entgehen. Wir treffen uns in Rio Dulce, in der Nähe seines Heimatdorfs El Estor am Izabal-See. «Während der Militärdiktatur haben sie uns Angst eingeimpft. Uns Indigenen haben sie gesagt, ihr seid Wilde und eigentlich existiert ihr gar nicht. Sie, die korrupte Elite unseres Landes, hat nicht damit gerechnet, dass wir überleben und uns wehren werden gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und ihren Raubbau an der Natur.»

Guatemala hat ungefähr 17 Millionen Einwohner:innen, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Armut und Indigene werden bis heute als Bürger:innen zweiter Klasse behandelt. Korruption ist so weit verbreitet, dass Guatemala auf dem Korruptionsindex von Transparency International jüngst auf den 150. von 180 Plätzen zurückfiel. Es erstaunt nicht, dass die Mächtigen im Land, die seit Jahrzehnten die Fäden in Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei und Armee ziehen, den Übernamen «Pakt der Korrupten» tragen.

Als Bernardo Arévalo im vergangenen August die Stichwahl um das Präsidentenamt gewinnt, sind es die Angehörigen dieses Paktes, die besonders erbost darüber sind, denn sie müssen nun um ihre Pfründe fürchten. Der 64-Jährige ist der Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten und verspricht, wie einst sein Vater, Korruption zu bekämpfen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Während die Amerikaner Juan José Arévalo vor achtzig Jahren noch bekämpft hatten, heissen sie nun seinen Sohn willkommen. Sie hoffen, dass er Arbeitsplätze schaffen und damit den Strom der Migrant:innen in die USA stoppen wird. In der Politik geht es immer um Eigeninteressen. Diese sieht die Elite Guatemalas nun in Gefahr und versuchte deshalb mit Hilfe des Justizapparats, Arévalos Sieg zu annullieren, so dass er im Januar 2024 sein Amt nicht antreten kann. Doch der Druck aus dem Ausland und aus den Dörfern ist gross, und so schaffte es das politische Establishment bislang nur, mit Hilfe der Staatsanwaltschaft Arévalos Partei Movimiento Semilla (Samenkorn-Bewegung) zu suspendieren. Arévalo spricht von einem Staatsstreich, der «Schritt für Schritt» durchgeführt werde. Er weiss, wie wütend die Bevölkerung darüber ist.

Seit Anfang Oktober bauen Indigene, Arbeiter:innen, Gewerkschaftsführer:innen und jene, die sich ihrer Stimme beraubt fühlen, überall im Land Strassensperren auf. Sie fordern, dass die korrupten Staatsanwälte abtreten, dass ihre Hoffnung auf mehr Rechte und Gerechtigkeit nicht im Keim erstickt wird. Auch die Hauptzufahrtsbrücke zu Rio Dulce wird gesperrt. «Wir haben es satt, arm zu sein», singt einer auf der Brücke. «Weg mit den Korrupten» steht in grossen Lettern auf einem Plakat. Nach wenigen Tagen gibt es keine Früchte, kein Gemüse, Mehl oder Zucker mehr in den Supermärkten und an Marktständen. Die Bankomaten sind leer, die Tankstellen auch. Die Lebensmittelpreise steigen. Am 16. Oktober wird der erste Demonstrant erschossen. Niemand scheint das zu erstaunen. Als ob sich alle längst an die Gewalt gewöhnt hätten.

Der indigene Journalist Carlos Ernesto Choc aber fokussiert nicht auf die Gewalt, sondern auf die Hoffnung: «Das ist ein historischer Moment. Zum ersten Mal sind wir, die verschiedenen indigenen Gruppen, die Mestizen, Aktivist:innen und Gewerkschaften vereint gegen die Regierung. Wir alle haben genug von ihrem korrupten, diskriminierenden System.» Deshalb bleiben viele Strassensperren wochenlang bestehen und deshalb demonstrieren die Menschen weiter. «Nur so werden sie uns endlich zuhören und nicht mehr sagen können, dass wir nicht existieren, dass unsere Stimmen nichts zählen. Sie können uns nicht länger ignorieren.»

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© Karin Wenger

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com