Südperspektive

Der Auserwählte untergräbt die grösste Demokratie der Welt

27.06.2024, Weitere Themen

Premierminister Narendra Modi wurde Anfang Juni für eine dritte Amtszeit wiedergewählt. Während er sich im Ausland als «Stimme des Globalen Südens» profilierte, rief er in Indien tiefe soziale Spannungen hervor.

Der Auserwählte untergräbt die grösste Demokratie der Welt

Auf einem Tempel in Ayodhya prangen links Narendra Modi und rechts die hinduistische Gottheit Lord Ram.
© Biplov Bhuyan / IMAGO / SOPA Images

Gastbeitrag von CHARWAKA *

Vertreter:innen der Zivilgesellschaft haben grundlegende Fragen darüber aufgeworfen, wie der Wahlkampf geführt wurde und insbesondere zum anhaltenden Schweigen über Modis verunglimpfende Äusserungen über Muslime und Musliminnen. Mehr als 120 Nichtregierungsorganisationen äusserten am 21. Mai öffentlich ihre grosse Besorgnis darüber, dass es bei der Stimmenauszählung zu Manipulationen kommen könnte. «Wir haben ein ernsthaftes und begrenztes Ziel: dass sich der Wille des Volkes in den Wahlen widerspiegelt, wie auch immer diese ausfallen. Sollte dies nicht der Fall sein, muss die Zivilgesellschaft dagegen vorgehen, um die Bürgerrechte des Volkes durchzusetzen», sagte Prabhakar Parakala im Namen der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Durchgesetzt hat sich am Schluss aber wieder Modi, der die Wahlen allerdings weniger deutlich gewonnen hat als erwartet.

Unflätige Rhetorik

Nach der ersten Wahlphase am 19. April, die eine niedrige Wahlbeteiligung verzeichnete und als kleiner Rückschlag für die Wahlchancen der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) angesehen worden war, startete Modi eine der hasserfülltesten und Angst schürendsten Kampagnen gegen Muslime im unabhängigen Indien. Mit seinen Brandreden wollte Modi die Hindus, die 80 Prozent der 1,4 Milliarden Einwohner:innen Indiens ausmachen, hinter sich scharen. Er bezeichnete die 200 Millionen Muslime in Indien als «Eindringlinge». Er verglich das Manifest seines Erzrivalen und der wichtigsten Oppositionspartei, des Indischen Nationalkongresses, mit der historischen pro-pakistanischen Muslimliga.

Der Premierminister ist ein Anhänger der politischen Hindutva-Ideologie, die die kulturelle Rechtfertigung des Hindu-Nationalismus und den Glauben an die Errichtung einer hinduistischen Hegemonie in Indien umfasst. Unter normalen Umständen hätten Modis wiederholte Angriffe gegen Muslim:innen eine strenge Bestrafung nach sich gezogen, bis hin zum Ausschluss von den Wahlen. Doch die wichtigste Regulierungsbehörde des Landes, die Wahlkommission, schwieg.

Ihre ethischen Richtlinien besagen unmissverständlich: «Keine Partei und kein Kandidat darf sich an Aktivitäten beteiligen, die bestehende Differenzen verschärfen, gegenseitigen Hass erzeugen oder Spannungen zwischen verschiedenen Kasten und Gemeinschaften, religiöser oder sprachlicher Art, hervorrufen könnten.» Dennoch ignorierte die Wahlkommission zahlreiche Beschwerden gegen Modis spaltende Kampagne.

Angriffe auf die Zivilgesellschaft

Eine lebendige Zivilgesellschaft mit unabhängigen und unparteiischen Institutionen wie Medien, Justiz und unabhängigen Aufsichtsbehörden ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz einer Demokratie. Jedes Regime, das es sich zur Aufgabe macht, diese Institutionen zu untergraben, kann die Demokratie nur in eine autoritäre Autokratie verwandeln.

Die Entwicklungen in Indien in den letzten zehn Jahren der Modi-Regierung (2014-24) scheinen darauf hinzudeuten, dass das Land in allen wichtigen Bereichen der Regierungsführung Rückschritte gemacht hat. In seinem Demokratiebericht 2024 stufte das in Göteborg ansässige V-Dem-Institut, das die demokratischen Freiheiten in verschiedenen Ländern überwacht, Indien als «eine der schlimmsten Autokratien» ein.

Trotz einzelner wichtiger Urteile des Obersten Gerichtshofs scheint die unabhängige Funktionsweise der Justiz untergraben zu sein, so mehrere Rechtsexpert:innen. Noch nie in der jüngeren Geschichte Indiens wurden die Medien, insbesondere die unabhängigen Medien, die das Internet nutzen, so stark angegriffen. «Angesichts der Gewalt gegen Journalist:innen, der hohen Medienkonzentration und ihrer politischen Ausrichtung befindet sich die Pressefreiheit in der grössten Demokratie der Welt in einer Krise», heisst es in der neuesten Rangliste, die Reporter ohne Grenzen (RSF) im Mai veröffentlicht hat.

Indien rangiert nun auf Platz 159 von 180 Ländern, die von RSF untersucht wurden. Im Vorfeld der Wahlen gab es gemäss der Organisation Free Speech Collective von Januar bis April in Indien mindestens 134 Verstösse gegen die Meinungsfreiheit. Unter den Betroffenen waren Journalist:innen, Akademiker:innen, YouTuber und Studierende.

Auch Menschenrechts- und Umweltaktivist:innen waren in den letzten zehn Jahren ständigen Schikanen ausgesetzt, die auch zu mehrjährigen Haftstrafen führten. Bei einem der schlimmsten Übergriffe auf Menschenrechtsaktivisten hat die Modi-Regierung 16 Personen, darunter Medienschaffende, Dichter, Anwält:innen und einen Jesuitenpater, aufgrund der drakonischen Gesetze des Landes festgenommen.

Einkommensungleichheit auf dem höchsten Stand

Indiens wirtschaftliche Leistung ist ebenfalls kein Grund zum Jubeln, auch wenn das Land laut Internationalem Währungsfonds und Weltbank als die am schnellsten wachsende Wirtschaft gilt. In einer aktuellen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die steigende Arbeitslosigkeit in Indien wurde festgestellt, dass die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen in städtischen Gebieten markant höher war als in ländlichen Regionen und die jüngeren Jugendlichen (15-19 Jahre) öfters traf als die älteren Jugendlichen (20-29 Jahre). Die Arbeitslosenquote der Frauen war 2019 wesentlich höher als die der Männer, sank aber bis 2022 auf das gleiche Niveau.

Noch schlimmer ist, dass die Einkommensungleichheit in Indien während der Ära Modi auf den höchsten Stand unter den Ländern der Welt angestiegen ist. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht von Ökonomen, darunter Thomas Piketty, heisst es: «Zwischen 2014/15 und 2022/23 ist der Anstieg der Ungleichheit am oberen Ende der Skala besonders ausgeprägt, was die Vermögenskonzentration betrifft.» Somit ist klar: Die Bestätigung der Regierung von Narendra Modi für eine dritte Amtszeit von fünf Jahren wird noch weitere Rückschläge mit sich bringen und Indien in einen Abgrund sozialer, wirtschaftlicher und politischer Not stürzen.

 


* CHARWAKA: Der Autor dieses Artikels – ein Journalist aus Südasien,  der aus der Schweiz berichtet – verwendet aus Sicherheitsgründen ein Pseudonym.

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