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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
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21.03.2022, Internationale Zusammenarbeit
Alliance Sud und ihre Mitglieder setzen sich seit langem für die Kommunikation in den verschiedenen Landessprachen ein – in der Schweiz wie auch im Ausland. Sie fördern so die Pluralität und den nationalen Zusammenhalt, schreibt Valeria Camia.
Dank Einwanderung und TouristInnen ist auch Argentinien ein mehrsprachiges Land: Willkommen in Gaiman, in der Provinz Chubut.
© Ben Roberts / Panos Pictures
Die Mehrsprachigkeit ist eine Konstante der Schweiz. Auch in der Entwicklungspolitik setzt sich Alliance Sud seit mehreren Jahrzehnten dafür ein, ihr Informationsmaterial einer breiten und mehrsprachigen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In ihren Beziehungen zu den Ländern des Südens legen Alliance Sud und ihre Mitgliedsorganisationen grossen Wert darauf, alle Menschen in ihrer Muttersprache zu erreichen, denn es gilt zu vermeiden, ausschliesslich in Englisch oder Französisch zu kommunizieren; an diesen Sprachen haftet oft das Stigma der Kolonialisierung. Dennoch sind sie in vielen Situationen nach wie vor die wichtigsten Kommunikationsmittel, nicht nur im Austausch mit den Regierungen, sondern auch mit den Menschen vor Ort im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Es wird dabei ausgeblendet, dass Englisch und Französisch in der Regel von der lokalen Bevölkerung kaum gesprochen werden und dass ihre Verwendung, auch wenn sie in der internationalen humanitären Hilfe und in mehrsprachigen Regionen ihre Berechtigung haben, zu Kommunikationsschwierigkeiten mit der lokalen Bevölkerung führen und oft Übersetzungsdienste erfordern, die teuer sind und mitunter zu wünschen übrig lassen, wie kürzlich Mia Marzotto von der Organisation «Translators without Borders» in einem Artikel im Magazin «Eine Welt» betonte.
Wie die Mitgliedsorganisationen von Alliance Sud vorgehen, um Sprachbarrieren in ihren Projektländern abzubauen, zeigen die folgenden Beispiele. Das HEKS, das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, setzt sich explizit dafür ein, Workshops in den lokalen Sprachen anzubieten: «Es ist von grundlegender Bedeutung, dass das HEKS die verschiedenen Begünstigten in einer für sie verständlichen Sprache und über ihre bevorzugten Kanäle erreicht.» Solidar Suisse setzt sich für eine Bildung der jungen Generationen ein, die auch die lokalen Sprachen einbezieht; zum Beispiel in Burkina Faso : In diesem Land, «wo 59 Sprachen gesprochen werden, müssen die Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, damit sie dem Unterricht folgen können, zusätzlich zum Französischen, der Sprache der ehemaligen Kolonial-macht. Lange Zeit war dies nicht der Fall, doch in den letzten Jahren haben die Bildungsprogramme von Solidar Suisse Wirkung gezeigt. Der zweisprachige Unterricht wird nun in allen Primarschulen des Landes als Standard eingeführt.»
SWISSAID nennt es eine «wesentliche Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf der Projektarbeit», dass es in den Partnerländern ein Büro gibt, das fast ausschliesslich aus lokalem Personal besteht, das die Projekte koordiniert und das Land, seine Sprachen, Dialekte und Kultur kennt. In Bezug auf die lokalen Sprachen erklärt Petra Winiger (Caritas), wie wichtig es ist, «immer einen respektvollen und kultursensiblen Umgang mit den Partnern zu pflegen. Hier machen wir keinen Unterschied zwischen dem Dialog mit den Behörden, den lokalen NGO-Partnern oder den Begünstigten im Gastland. Um Sprachbarrieren beim Austausch abzubauen, verlassen wir uns bei Bedarf auf die Übersetzung durch unsere lokalen Caritas-KollegInnen oder professionelle DolmetscherInnen. »
Zu all dem kommt noch das direkte Engagement von Alliance Sud im schweizerischen Kontext hinzu: In der Schweiz wirkungsvoll zu kommunizieren, ist das A und O. In unserem Land mit seinen vier Landessprachen stellt Alliance Sud sicher, dass ihre Stellungnahmen und Pressemitteilungen sowie ihre Publikationen auf Deutsch, Französisch und wenn möglich auf Italienisch verfügbar sind. Die Übersetzungsarbeit bedeutet für das Regionalbüro von Alliance Sud in Lugano einen beträchtlichen Aufwand. Darüber hinaus hat das Büro im Laufe der Jahre die Beziehungen und Kontakte zu anderen Organisationen in den verschiedenen Sprachregionen vertieft. Ein weiteres Beispiel aus jüngster Zeit: Im Rahmen der Konzernverantwortungsinitiative (2020) erstellte Alliance Sud ein spezifisches Glossar in drei Amtssprachen des Bun-des, das eine kohärente und treffsichere Kommunikation mit der gesamten schweizerischen Zivilgesellschaft ermöglichte.
Seit 1989 sind die Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit in der italienischsprachigen Presse durch die Veröffentlichung von exklusiven Schwerpunktartikeln zur Entwicklungspolitik in mehreren Tages- und Wochenzeitungen, meist im Kanton Tessin und Italienischbünden, aber auch in anderen italienischsprachigen Sprachkontexten in der Schweiz und in Italien, regelmässig präsent. Für die italienische Schweiz werden jedes Jahr rund 60 Artikel übersetzt und veröffentlicht.
Zahlreiche Informations- und Sensibilisierungskampagnen sind den Radio- und Fernsehauftritten der Büroleiterin von Alliance Sud in Lugano, Lavinia Sommaruga, und ihrem redaktionellen Engagement zu verdanken, das sich unter anderen in drei wichtigen Publikationen niederschlug: « Pour une économie d’équité dans la dignité » (2000), « OSER. Perspectives pour un changement de cap » (2001) und « Entrepreneurs du changement. Agenda 21 local : ne perdons pas d’occasions ! » (2003).
Alliance Sud Lugano teilte ihr entwicklungspolitisches Engagement und ihre Verantwortung mit anderen italienischsprachigen Verbänden wie ACSI, ACLI, InterAgire/COMUNDO, Magasins du monde und vielen anderen; dabei kam es zu eidgenössischen Abstimmungskampagnen, zu denen Alliance Sud Stellung nahm und in die das Büro in Lugano direkt involviert war. Erinnert sei hier unter anderem an die Abstimmungen Nein zu Ecopop 2011, Gentechfrei 2005, den Weckruf gegen Hunger und Armut 2016 und die Welternährungstage in Chiasso (2009) und Bellinzona (2008 und 2010). In den 2010er Jahren setzte sich Alliance Sud Lugano auch in einer Kommission des Bundesamtes für Raumentwicklung ARE für gute Beispiele im Bereich der nachhaltigen Entwicklung ein.
Das wichtigste Dossier, an dem die Koordinatorin für Entwicklungspolitik von Alliance Sud arbeitete, war der faire Handel und die Förderung der Max Havelaar-Stiftung. Während der Sondersession der Eidgenössischen Räte in Lugano im Jahr 2001 wurde für die Kampagne «Wasser als Gemeingut» geworben. Vor zwei Jahren beschloss der Vorstand von Alliance Sud aus finanziellen Gründen, das Büro in Lugano zu schliessen, wenn dessen Leiterin am 1. Mai 2022 in den Ruhestand geht.
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21.03.2022, Internationale Zusammenarbeit
Letzten August übernahmen die Taliban in Afghanistan die Macht. Hunger, Kälte und Verzweiflung dominieren. Aber auch Widerstand und leise Hoffnung gibt es, wie eine in Kabul lebende Afghanin und Mitarbeiterin einer internationalen NGO erzählt.
Afghanische Kinder, die als Strassenverkäufer in Kabul arbeiten, erhalten am 20. Februar 2022 kostenlosen Unterricht bei einer afghanischen Hochschulabsolventin.
© Keystone / EPA
Deprimiert, verzweifelt, kraftlos. So fühlte ich mich in der schlimmsten Phase, den ersten zwei Monaten nach der Machtübernahme durch die Taliban. Hoffnungsvoll bin ich zwar immer noch nicht. Aber ich versuche mich zu motivieren und mir guten Mut zuzureden. Und ja, ich habe wieder mehr Energie als im Herbst. Damals waren da nur Schock, Wut, Chaos und Angst. Eine grosse Angst vor dem, was kommen könnte.
Die Machtübernahme der Taliban kam nicht ganz überraschend. Wir wussten, dass es passieren kann. Und wir Frauen waren uns in den letzten Jahren stets bewusst gewesen, dass wir unsere Freiheiten nicht als selbstverständlich betrachten dürfen, dass unsere Rechte jederzeit wieder beschnitten werden könnten. Wohl deswegen gingen die meisten Mädchen mit besonders viel Elan und Motivation zur Schule, und der Grossteil der Frauen leidenschaftlich gerne arbeiten. Dann, als die Taliban im August wieder kamen, wurden besonders den Frauen auf einen Schlag alle Perspektiven genommen.
Am Tag, als alles wieder anfing, brachte ich morgens meine Nichten in den Kindergarten. Ich lebe – wie die meisten Menschen hier in Kabul – zusammen mit einer grossen Familie in einem Haus: mit meiner Mutter, zwei Brüdern, einer Schwägerin, drei Nichten und einem Neffen. Die Mädchen sind zwischen fünf und sieben Jahre alt. Ich begleitete sie also zum Kindergarten, der sich etwa zehn Minuten von unserem Zuhause in Downtown Kabul befindet. In den Strassen herrschte eine seltsame Stimmung, noch ahnte ich aber nicht, was geschehen würde.
Auf dem Rückweg wollte ich Geld abheben, das ich meiner Mutter bringen sollte, die mit einer schweren Covid-Infektion im Spital lag. Doch der Automat spuckte nichts aus. Also ging ich nach Hause. Und da hörte ich die Nachricht, dass sie die Aussenbezirke von Kabul erreicht hatten, dass sie also kamen und die Gefangenen freigelassen hatten. Das löste Angst und Panik unter der Bevölkerung aus, was schnell zu einem riesigen Verkehrschaos führte. Ich schaffte es noch gerade, meine Nichten vom Kindergarten abholen zu lassen. Zum Glück. Eine Stimmung der Angst hing auf einmal über der Stadt. Wir wussten ja aus der Vergangenheit, was wir von den Taliban zu erwarten hatten.
Während des ersten Monats sassen wir nur zuhause, weinten oft oder diskutierten, wer wie und wohin flüchten könnte. Die Evakuationen verliefen chaotisch, und auf einen Schlag verloren sehr, sehr viele Menschen ihre Arbeit: ehemalige Regierungsangestellte und manche NGO-Mitarbeitende, von denen es in Kabul zahlreiche hatte, zudem ein Grossteil der Lehrerinnen, da Mädchen ab der siebten Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen, also braucht es auch die Lehrerinnen nicht mehr. Niemand fühlte sich sicher, wir wussten nicht einmal, ob und in welcher Kleidung wir auf die Strasse gehen durften.
Einen Monat nach der Machtübernahme hatte ich Geburtstag, ich wurde 41. Da gingen wir zum allerersten Mal wieder raus. Ein seltsames Gefühl – irgendwie normal und doch war nichts mehr wie früher. Praktisch alle in meiner Familie haben ihren Job verloren. Eine meiner Cousinen arbeitet noch als Ärztin, aber sie muss das nun in dieser konservativen Kleidung tun, und man hat ihr einen Drittel des Gehalts gekürzt. Ich finanziere einen Grossteil der Familie. Und wir wissen nicht, wie lange das noch reicht. Die Not in Afghanistan wächst täglich, Millionen von Menschen fehlt es an Essen und Heizmaterial für die nächsten Tage.
Als Frau kann ich mich in der Öffentlichkeit mit Kopfbedeckung bewegen, wie ich sie schon früher getragen habe. Ich begleite meine Nichten wieder in den Kindergarten und gehe auch mal mit ihnen auf den Spielplatz. Und dennoch: Das Leben ist kein Leben mehr, das Leben ist ein Kampf geworden. Wir haben keine Perspektiven, kämpfen ums Überleben. Vor wenigen Wochen wurde eine junge Frau erschossen, bei einem Checkpoint, einfach so, von hinten, ohne Grund. Das ist verstörend und verunsichert einen extrem. Warum tun sie das? Wen trifft es als Nächstes?
Schon zweimal habe ich auf der Strasse erlebt, wie verkrachte Talibangruppen aufeinander losgingen und zu schiessen begannen. Man hört von Hinrichtungen, nur weil jemand auf Facebook einen falschen Kommentar geschrieben hat. Da stellen wir uns schon die Frage, warum Länder wie Norwegen oder die Schweiz die Taliban Anfang dieses Jahres zu Gesprächen einluden. Einige fühlen sich von der Welt im Stich gelassen. Warum sieht die Welt nicht, dass es sich um Terroristen handelt? Was wissen die Menschen da draussen überhaupt von unseren Nöten? Ich verurteile niemanden. Aber ich merke, dass Aussenstehende sich kein Bild machen können von unserer Situation. Läden und Restaurants schliessen, weil sie nicht mehr rentieren, die Not ist riesig, die Aussicht mies. Alle haben zu leiden. Und wir wissen nicht, ob und wann sich dies bessern wird.
Ich hätte zwar die Chance gehabt, das Land zu verlassen, ganz am Anfang, weil ich einen kanadischen Pass habe. Das kam für mich aber nicht in Frage, denn ich wollte meine Familie nicht im Stich lassen; das hätte ich nicht überlebt. Ich verstehe aber alle, die geflüchtet sind. Auch wir überlegen, ob wir vielleicht doch noch ausreisen können, irgendwie, in die Türkei zum Beispiel. Aber nur als ganze Familie. Wir lassen niemanden hier zurück!
Genau jetzt, da ich hier erzähle, würde ich eigentlich Englisch unterrichten. Ich habe nämlich entschieden, interessierte Frauen der Verwandtschaft online zu unterrichten. Eine Cousine schaltet sich dafür aus dem Iran zu und eine aus London, wo sie mit ihrer Familie hin geflüchtet ist, und einige andere weibliche Familienangehörige aus Kabul nehmen ebenfalls teil. Sie alle wollen Englisch lernen, nicht passiv sein. Es gibt viele Frauen in Afghanistan, die sich irgendwie engagieren und sich so gegen das Regime wehren. Wir geben nicht auf.
Natürlich hoffen wir, dass sie uns Frauen dank des internationalen Drucks nicht ganz alles wegnehmen, dass die Unis und Schulen im März überall wieder aufgehen, wie sie es versprochen haben. Ich bin aber nicht sehr optimistisch. Mich motivieren vor allem meine Nichten. Jeden Morgen, wenn ich sie sehe, versuche ich alles, um diese Mädchen zum Lächeln zu bringen. Wenn ich sehe, dass sie glücklich sind, macht mich das auch glücklich. Das gibt mir viel Kraft. Und: In der Familie reden und diskutieren wir dauernd über das, was hier läuft. Das tut gut. Wir vertrauen und stützen einander. Und das wird niemand und nichts zerstören können.
Bemerkung: Der Name der Erzählerin wird hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt. Der Text wurde im Februar 2022 verfasst.
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Medienmitteilung
09.05.2022, Internationale Zusammenarbeit
Nicht die territoriale Sicherheit der Schweiz ist bedroht, sondern die menschliche Sicherheit auf der ganzen Welt. Und diese erfordert eine umfassende Friedenspolitik anstatt einer unsinnigen Aufrüstungsdebatte.
© KEYSTONE/Michael Buholzer
Der Nationalrat behandelt heute eine Motion seiner Sicherheitspolitischen Kommission zur Erhöhung der Militärausgaben. Für Alliance Sud ist das die falsche Antwort auf die falsche Frage: Nicht die territoriale Sicherheit der Schweiz ist bedroht, sondern die menschliche Sicherheit auf der ganzen Welt. Und diese erfordert eine umfassende Friedenspolitik anstatt einer unsinnigen Aufrüstungsdebatte.
Schon kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine hatten bürgerliche PolitikerInnen zwei zusätzliche Milliarden Franken pro Jahr für die Armee gefordert. Viel Geld, vor allem wenn man es mit den bisher vom Bund zusätzlich bereitgestellten 53 Millionen für die humanitäre Hilfe der Schweiz in der Ukraine vergleicht. Und schlecht investiertes Geld, wenn man die Nutzlosigkeit der Schweizer Armee bei den verheerenden globalen Folgen des Krieges vor Augen hat.
Die vorliegende Stellungnahme von Alliance Sud – dem Schweizer Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik – skizziert die wichtigsten 12 Punkte für eine umfassende Friedenspolitik der Schweiz: Eine wirksame internationale Zusammenarbeit, ein gerechtes Wirtschaftssystem und eine starke Demokratie sind grundlegende Voraussetzungen für die menschliche Sicherheit auf der ganzen Welt.
Im Rahmen der laufenden Parlamentsdebatten und im Vorfeld der geplanten Ukraine-Konferenz in Lugano ruft Alliance Sud die Schweizer Politik dazu auf, weitsichtiger und kohärenter als bisher die aktuellen globalen Krisen anzugehen und einfache, aber unbrauchbare Antworten auf die neuen Sicherheitsrisiken zu verwerfen. «Internationale Zusammenarbeit ist die beste Krisenprävention, die Sicherheit der Schweiz hängt nicht von mehr Waffen, sondern von unserer Solidarität und Weltverträglichkeit ab», sagt Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud.
Für weitere Informationen:
Andreas Missbach, Geschäftsleiter Alliance Sud, Tel. +41 31 390 93 30, andreas.missbach@alliancesud.ch
Marco Fähndrich, Medien und Kommunikation, Tel. +41 79 374 59 73, marco.faehndrich@alliancesud.ch
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Artikel
20.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Der Krieg in der Ukraine hat weitere globale Krisen dramatisch verschärft. Und was macht die Schweiz? Bekämpft Scheingefahren mit milliardenschweren Fehlinvestitionen in die Armee.
Der Krieg in der Ukraine lässt in ganz Europa vergessen geglaubte Ängste wiederaufleben. Die politische Antwort darauf: Stärke demonstrieren und Aufrüsten. Auch in der Schweiz hat der Nationalrat einer milliardenschweren Aufstockung der Armeeausgaben auf 1% bis 2030 deutlich zugestimmt. Heute hat der Ständerat die Motion ebenfalls angenommen. Die «Politik der starken Männer» hat sich durchgesetzt. Nur – macht ein globales Wettrüsten die Welt langfristig wirklich sicherer? Und verpassen wir bei diesem engen Fokus auf Panzer und Munition nicht viel wesentlichere sicherheitspolitische Bedrohungen?
Weiten wir unseren Fokus ein wenig aus und wenden uns dem nichtwestlichen «Rest der Welt» zu, sehen wir, dass Krieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen nicht nur in der Ukraine stattfinden (Syrien, Äthiopien und Afghanistan sind nur einige der aktuellen Krisenherde). Diese Länder mögen zwar weiter weg und aus westlicher Sicht auch weniger relevant erscheinen, doch auch diese Kriege führen zu regionaler Destabilisierung, Hoffnungslosigkeit und Gewalt. Auch sie lösen Flüchtlingsbewegungen aus, die – obschon wir versuchen, sie mit allen Mitteln abzuwehren – uns ebenfalls betreffen. Auch diese Menschen sind auf Solidarität und Hilfe angewiesen, sowohl in ihren Herkunftsländern, wie auch bei uns.
Gleichzeitig hat der Krieg in der Ukraine Auswirkungen, die weit über die Grenzen Europas hinausreichen. Die Ukraine und Russland decken rund 30 % der weltweiten Weizen- und Gerstenproduktion und über die Hälfte der globalen Sonnenblumenölproduktion ab. Zudem sind Weissrussland und Russland für etwa 1/5 der globalen Düngemittelproduktion verantwortlich und Russland ist der grösste Gasexporteur und der zweitgrösste Ölexporteur der Welt. Aufgrund von Produktions- und Lieferengpässen, Sanktionen und Hafenblockaden sind seit Ausbruch des Kriegs die weltweiten Nahrungsmittel-, Düngemittel- und Energiepreise massiv angestiegen. Das mag auch bei uns aufs Portemonnaie drücken, in vielen der ärmsten Länder, welche gleichzeitig mit den Konsequenzen der Covid-Pandemie und der Klimakrise zu kämpfen haben, führen diese Preissteigerungen zum Kampf ums Überleben. Der Spielraum der teilweise hoch verschuldeten Regierungen ist zudem massiv eingeschränkt. Seit 2019 haben sich die Zahlen der Menschen, die von Ernährungsunsicherheit bedroht sind, laut Welternährungsprogramm (WFP) verdoppelt, von 135 Millionen auf 275 Millionen; gleichzeitig sind aktuell 49 Millionen Menschen akut vom Verhungern bedroht. In Ostafrika ist die Lage besonders dramatisch. Schon bevor der Krieg in der Ukraine ausbrach, war die Region von Dürren, Heuschreckenplagen und massiven Ernteausfällen betroffen, die dazu führten, dass Millionen von Menschen von Hunger bedroht waren. Mittlerweile stirbt laut der NGO Oxfam etwa alle 48 Sekunden ein Mensch in Ostafrika an Hunger.
Verschiedene Experten warnen vor den globalen Konsequenzen dieses «perfekten Sturms» – wirtschaftliche Rezessionen, Schuldenkrisen, soziale und politische Unruhen sind nur einige davon (eine historische Analyse der UNCTAD zeigt beispielsweise eine klare Korrelation zwischen steigenden Nahrungsmittelpreisen und Volksaufständen). Gleichzeitig spitzt sich auch die globale Klimakrise weiterhin dramatisch zu. Und auch hier zeigt eine neue Studie des internationalen Forschungskonsortiums SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) eine klare Korrelation zwischen Umwelt- und Klimarisiken einerseits, und Sicherheitsrisken andererseits. So ist es kein Zufall, dass diejenigen Länder, welche am meisten vom Klimawandel betroffen sind, auch am häufigsten von Krieg, Krisen und Fragilität betroffen sind. Die Wissenschaft spricht schon lange Klartext: Wenn wir jetzt nicht dringend handeln, drohen nicht nur massive Armut, Hungersnöte und Flüchtlingskatastrophen im globalen Süden, sondern ein kompletter Klimakollaps, der das Leben auf dem gesamten Planeten zerstört.
Diese breitere, globale Perspektive macht die Frage, ob die Erhöhung der Armeeausgaben unsere Sicherheit tatsächlich erhöht, überflüssig. Viel relevanter ist, dass wir endlich die Ursachen für Gewalt, Krieg und Krisen angehen. Und dafür braucht es vor allem eins, wie unsere Stellungnahme «12 Punkte im Krieg für den Frieden» betont: mehr Investitionen in die internationale Zusammenarbeit, in die Armutsreduktion, in die Demokratieförderung, in die Bekämpfung der Klimakrise und in den öko-sozialen Umbau unseres Wirtschaftssystems.
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Global, Meinung
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
China stellt die Dominanz westlicher Werte infrage und wird die Globalisierung verändern, sagt Professor Patrick Ziltener. Interne Stabilität und eine Weltordnung, in der China weiter aufsteigen könne, seien dabei das überragende Ziel.
Patrick Ziltener, Titularprofessor an der Universität Zürich, ist Soziologe und Ostasienspezialist. Er macht «Forschung mit Gebrauchswert» und bedauert, dass es an den Schweizer Universitäten so wenig Chinakompetenz gibt: «Wir haben keine Ahnung, wie stark China die Welt verändert.»
Viele sehen gegenwärtig das Ende der Globalisierung angebrochen: China ist seit den Neunzigerjahren rasant gewachsen. Erwarten Sie, dass China in Zukunft weniger auf die Globalisierung − verstanden als Weltmarktdynamik − zählen kann?
Patrick Ziltener: Alles deutet darauf hin, dass die Globalisierung fortgesetzt wird, aber nicht eins zu eins wie der Globalisierungsschub der letzten 40 Jahre. China macht auch explizit deutlich, dass es an einer Fortsetzung der Globalisierung interessiert ist, aber sie wird stärker chinesisch geprägt sein. Chinesische Regeln, Standards und Methoden werden verbreiteter sein und es wird nicht so sein, dass der Westen die Regeln weiterhin diktiert. Bei uns ist nicht auf dem Radar, dass Ostasien die Globalisierung fortgesetzt hat, als sie im Westen schon stagnierte: China hat das pazifische Projekt der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) vorangetrieben, während Donald Trump die westlich dominierte Transpacific Partnership (TPP) beerdigt hat.
Das heisst, wir haben nicht mehr eine globale Globalisierung, sondern eine geteilte Globalisierung, wobei sich die Einflusssphären in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität globalisieren.
Ja, und zwar Vertiefung und Liberalisierung im Pazifischen Raum – und nichts im Westen. Die WTO ist weiterhin blockiert und China sieht das nicht als Hauptarena, sondern fokussiert auf die regionale Integration und natürlich auf die Neue Seidenstrasse. Früher war China ein «rule taker», jetzt ist China ein «rule maker». Aber wir dürfen nicht vergessen, dass China auf dem Weltmarkt überall kompetitiv schon drin ist. Wenn die Weltbank eine Ausschreibung macht für irgendwelche Projekte, dann gewinnen in 40% der Fälle chinesische Akteure.
China hat jedoch bei seinem Wachstum gerade nicht auf die Rezepte der Globalisierer, verkörpert durch den «Davos-Mann» und den Konsens von Washington, gesetzt. Was waren die Erfolgsfaktoren für den Aufstieg Chinas?
China hat alles studiert, es hat studiert wie Japan, Südkorea, Taiwan oder Singapur aufgestiegen sind und hat daraus gelernt, dass Weltmarktintegration möglich ist und eine sehr starke Dynamik entfalten kann, dass aber das Ganze gesteuert werden muss. Es werden Anreize gesetzt und Räume geöffnet, aber immer schrittweise und nie als «Big Bang» durch eine ideologische Wirtschaftspolitik, sondern ganz pragmatisch. Das fing an mit diesen Sonderwirtschaftszonen Shenzhen und in der Provinz Fujian, dann hat man diese Erfahrungen ausgewertet, man hat Gesetzgebung und Regulierungen angepasst und schrittweise auf andere Branchen ausgedehnt. Diese Kombination von Marktelementen und Steuerungselementen hat eine unglaubliche Dynamik angefacht, die vorbereitet und begleitet wurde durch eine staatliche Infrastrukturpolitik. Das Ganze war nie von der Idee der vollständigen Liberalisierung geleitet.
Und China hat auch den ausländischen Unternehmen nicht einfach freie Hand gegeben.
Es gibt immer rote Linien irgendwo am Horizont und der Spielraum der Unternehmen hängt ganz davon ab, wie sie in die chinesische Agenda passen: Entweder wird ihnen der rote Teppich ausgerollt oder sie sind dazu aufgefordert zu gehen. Deshalb sind die Erfahrungen von UnternehmerInnen so widersprüchlich. Eine Zeit lang sah es auch so aus, als würde der Einfluss der Staatsunternehmen schrittweise abgebaut und verschwinden. Das ist aber nicht mehr der Fall und es ist ganz klar, dass der staatlich kontrollierte Sektor eines der Standbeine ist und immer bleiben wird. Die autoritären Tendenzen zeigen sich auch in der Wirtschaft: In jedem Unternehmen müssen Parteigruppen gebildet werden, auch in ausländischen Unternehmen. Walmart in China hat also eine kommunistische Parteigruppe. In den meisten Fällen haben diese keinen direkten Einfluss auf die operative Tätigkeit der Unternehmen, aber sie sind eine Art Rückversicherung: Wenn irgendetwas nicht in die richtige Richtung läuft, dann gibt es dieses Instrument für Korrekturen im Sinne der Führung.
Wie definiert sich denn die richtige Richtung? Hat sich etwas geändert oder geht es einfach immer um Wachstum und wirtschaftliche Stärke?
Das absolut überragende Ziel ist politische Stabilität, also was man auf Englisch «regime survival» nennt. Danach kommt Wirtschaftswachstum, aber nicht einfach Wirtschaftswachstum, sondern die Herausbildung von weltmarkkonkurrenzfähigen chinesischen Unternehmen, so wie Huawei. Die Politik kommuniziert ganz offen, in welchen Bereichen die Prioritäten liegen, sei es in der Luftfahrt, in der Agrartechnik oder in der Robotik. Da wird es irgendwann Weltmarktkonkurrenz durch einige sehr grosse chinesische Unternehmen geben, die unserer ABB und unserer Novartis und irgendwann auch Nestlé das Fürchten lehren werden.
Zurück zur unmittelbaren Aktualität: Die chinesische Führung ist angesichts des Kriegs in der Ukraine in einem Dilemma: Einerseits möchte sie eine «eurasische» Allianz mit Russland gegen die USA, andererseits ist der Westen für die chinesische Wirtschaft viel wichtiger. Teilen Sie diese Einschätzung? Falls ja, wie wird die chinesische Führung in dieser Situation navigieren?
Das Ganze ist eine äusserst unangenehme Situation für China, das hat man auch in der ersten Pressekonferenz gesehen, als die Sprecherin des Aussenministeriums lavieren musste. Einerseits besteht China auf dem Prinzip der Nichteinmischung und des Nichteinsatzes kriegerischer Mittel. Andererseits, und das gilt auch für die Bevölkerung, gibt man weitgehend dem Westen die Schuld, mit dem Argument, dass die Osterweiterung der Nato und das Eindämmen von Russland die Hauptursachen für den Krieg seien. Eigentlich billigt China also das Verhalten Russlands nicht und das ist aus meiner Sicht die gute Nachricht: China wird aus grundsätzlicher Sicht nie zu einem solchen Mittel greifen, es wird zum Beispiel nie Taiwan ins Mutterland eingliedern, wie Russland das mit der Krim gemacht hat. Das wird hingegen ein strategisches Spiel werden, das bereits begann, als Xi Jinping sagte hat, das Problem Taiwan werde nicht an zukünftige Generationen übergeben.
Aber wie wird das denn ohne militärische Mittel gehen, wenn es Taiwan nicht so toll findet, Teil Chinas zu werden?
Ich halte ein Szenario für am wahrscheinlichsten, das langfristig angelegt ist und schrittweise ein Eingrenzen und ein Abschnüren von Taiwan beinhaltet. Ein erster Zug könnte sein, dass China sagt, es halte die Versorgung Taiwans und den Schiffsverkehr nicht mehr für sicher. Was das an der Börse in Taiwan bewirken würde, ist völlig klar. Dank solchen Methoden, also indem Taiwan das Wasser abgegraben wird, soll es dann irgendwann China wie eine reife Frucht in den Schoss fallen.
Sie haben zur Neuen Seidenstrasse und zum Einfluss Chinas auf Afrika geforscht. Stimmt der oft gehörte Vorwurf, China sei einfach nur eine weitere koloniale Macht?
Meine Definition von Kolonialismus beinhaltet Zwangsmassnahmen, die unter Gewalteinsatz oder unter Androhung von Gewalt durchgesetzt werden. Das ist die berühmte Kanonenbootpolitik, die ich bei China nicht sehe. Jetzt kann man natürlich den Begriff des Neokolonialismus verwenden, also Dominanz und Manipulation durch nicht-militärische Mittel. Das findet teilweise statt, aber vor allem in der frühen Phase der Neuen Seidenstrasse sind die Chinesen gekommen und haben gefragt: «Was wollt ihr»? Und wenn der Präsident eines afrikanischen Landes gesagt hat, er wolle eine Autobahn, die in seine Heimatstadt oder sein Heimatdorf führt, dann wurde diese gebaut, und zwar ohne wirtschaftliche Überlegungen. Das hat sich ein bisschen geändert, die Projekte werden besser ausgesucht und umgesetzt. Das ist für mich sowieso das Bemerkenswerte: Das Ganze ist ein lernender Organismus, es wird ausgewertet, da werden Erfahrungen geteilt und dann werden neue Standards gesetzt, und zwar ständig.
Die Bevölkerung sieht das aber oft anders.
Es gibt erste Forschungsergebnisse, die zeigen, dass durch erfolgreiche Projekte, zum Beispiel eine neuen Eisenbahnlinie in Nigeria, die Haltung gegenüber China positiv beeinflusst wird. Aber in den meisten Ländern, die ich angeschaut habe, ist das Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber der eigenen Regierung sehr gross und genauso gegenüber China. Was die dann zusammen unter nicht transparenten Bedingungen machen, stösst erst Recht auf grosses Misstrauen, im Sinne von «unsere korrupte Elite macht mit China gemeinsame Sache und fischt unsere Rohstoffe ab».
Also doch primär Rohstoffe, wie in der klassischen kolonialen Arbeitsteilung?
China ist interessiert an einer ununterbrochenen Zufuhr von Rohstoffen, die zentral sind für die chinesische Industrie, und zwar für fortgeschrittene Bereiche wie Informatik und Kommunikationstechnologien. Natürlich gibt es das grosse Wettrennen um Rohstoffe, zum Beispiel im Kongo oder in Sambia, und China ist da ebenfalls tätig, als ein Akteur unter anderen; gerade in der Schweiz beherbergen wir ja auch solche zentralen Akteure. Die Forschung zeigt aber einen Unterschied: Chinesische Unternehmen sind an der stetigen Zufuhr dieser Ressourcen nach China interessiert, unabhängig vom Weltmarktpreis, während westliche Unternehmen auf den Weltmarktpreis reagieren und dann die Förderung ausbauen oder zurückfahren, Leute einstellen oder feuern. China macht auch mit diesen Ressourcen sogenannte «Swap Deals», also bietet die Möglichkeit an, dass Infrastrukturprojekte mit Rohstoffen bezahlt werden können. Das ist nicht neu, das gab es schon lange vor China, und China hat das selber auch erlebt: Es gab japanische Infrastrukturprojekte in China, die mit chinesischen Ressourcen bezahlt wurden. China macht aber auch sehr viel mehr, als nur die Rohstoffprojekte zu sichern, nämlich Infrastrukturprojekte wie Staudämme, Sportstadien, Parlamentsgebäude oder das Hauptquartier der Afrikanischen Union. China verkauft das nicht als Entwicklungshilfe, sondern sieht es als «win-win» und ist dabei ganz selbstbewusst der Ansicht, es mache es besser als der Westen.
Und wo liegt hier tatsächlich der Unterschied zu vom Westen finanzierten Infrastrukturprojekten?
Es gibt keine Umweltverträglichkeitsprüfung, keine Sozialverträglichkeitsprüfungen, keine Bedingungen werden daran geknüpft; das macht es natürlich attraktiv für afrikanische PolitikerInnen. Es gibt auch keine Transparenzbestimmungen oder Korruptionsbekämpfung. Der zweite grosse Vorteil für afrikanische Regierungen ist das Tempo. China schafft es in zwei, drei oder vier Jahren, einen Flughafen hinzustellen und gerade dort, wo Wahlen gewonnen werden müssen, spielt das eine sehr grosse Rolle.
Also schwächt China die Demokratie in Afrika – auch so ein Topos – oder trägt sogar zu Autoritarismus bei?
Die selbst erklärte Absicht Chinas, sich nicht in innere Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, ist durchaus glaubwürdig. Der Regimetyp spielt im Prinzip keine Rolle. Ob autoritäre Herrschaft, Diktatur oder Demokratie: Wenn es ein geeignetes Projekt gibt, dann machen sie das. Zweitens strebt China tatsächlich keinen Regime-Export an. China fördert aber die Stabilität dieser verschiedenen Regime, zumindest stellenweise durch Entwicklungserfolge, aber dann gibt es die autoritäre Seite. Was mir dabei besonders bedenklich erscheint: China exportiert auch Methoden zur Stabilisierung von Regimen in Form von Beeinflussung der Öffentlichkeit und durch Überwachungstechnologien. China bildet etwa Experten aus in Manipulationstechniken, die es selber anwendet, zum Beispiel auf den sozialen Medien. Hier liegt also schon die Gefahr des Autoritarismus und auch der Verstärkung autoritärer Tendenzen von Regierungen, die demokratisch an die Macht gekommen sind.
Noch zu einem letzten Topos: China treibt mit seinen Investitionen und mit seinen Projekten Afrika in die Schuldknechtschaft.
Ja, das ist ein Trend, den es gab. Das hängt einerseits damit zusammen, dass China noch nicht so viel Erfahrung mit dem Schuldenmanagement hat und gerade jetzt erlebt, dass Überschuldung zu einem Problem werden kann. Die Forschung konnte aber nicht nachweisen, dass China eine aktive Verschuldungsstrategie verfolgt, damit Länder abhängig werden, ihre Schulden nicht mehr bedienen können und man dann irgendwelche Bedingungen diktieren kann. Es gibt einige wenige Länder, bei denen der Anteil der Schulden gegenüber China so dramatisch ist, dass man sagen muss, diese Länder sind faktisch abhängig von China, zum Beispiel Dschibuti. Die meisten Länder haben aber mehrere Standbeine.
China hat völlig andere wirtschaftliche und politische Ordnungsvorstellungen. Wenn es Alternativen zu den neoliberalen Rezepten des «Washington Consensus» formuliert, kann das positiv sein, aber was geschieht mit dem UNO-System, den Werten, die uns lieb sind: Menschenrechte, Minderheitenrechte, politische Partizipation der Zivilgesellschaft und so weiter?
Hier sollten bei uns die Alarmglocken läuten: China hat auch da ganz offensiv eine Ansage gemacht: «Wir werden dieses System verändern, es wird weniger westlich geprägt sein und es wird stärker asiatische und insbesondere chinesische Eigenschaften haben.» Was aus chinesischer Sicht eine Überbetonung individueller Freiheitsrechte ist, wird relativiert zugunsten von wirtschaftlichen und sozialen Rechten auf Entwicklung und Recht auf Sicherheit; das bedeutet dann eben aus unserer Sicht mehr autoritäre Elemente. Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges formuliert ein Akteur offen eine offensive Agenda, was die Dominanz westlicher Institutionen und westlicher Werte in Frage stellt. Das ist äusserst ernst zu nehmen. Was wir bis jetzt gesehen haben, sind symbolische Aktionen: Zum Beispiel mobilisiert China gegen den Vorwurf der Verschlechterung der Menschenrechtslage seine befreundeten Staaten. China macht dann in der UNO eine Show und sagt, okay, es sind 24 westliche Länder, die uns kritisieren, aber es sind 50 UNO-Mitglieder, die sich dagegen verwahren und sagen «das ist nicht gerechtfertigt». Solche Konflikte werden zunehmen, nicht nur auf symbolischer Ebene. Die UNO wird in vielerlei Hinsicht, und zwar bei den Massnahmen, die der Westen durchgesetzt hat, etwa Sanktionen oder Interventionen zum Schutz der Menschenrechte, weniger handlungsfähig werden.
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Meinung
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Globales Dorf hin oder her – am Ende sind es die Menschen aus dem globalen Süden, die das wahre und janusköpfige Gesicht der Globalisierung am besten kennen. Ihre Geschichten gehen in der westlichen Medienflut oft unter, weil die rund um die Uhr produzierenden News-Fabriken keinen Platz und keine Zeit finden für den Alltag der Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Kein Zufall, haben auch Schweizer Medien trotz Globalisierung in den letzten Jahren immer weniger über Auslandthemen berichtet.
Umso willkommener sind die qualitativ hochstehenden Ausnahmen: Die Journalistin Karin Wenger hat immer wieder für Radio SRF die unsichtbaren Geschichten hörbar gemacht und diesen Frühling drei facettenreiche und lesenswerte Bücher veröffentlicht, die sich am Rande (und dennoch im Herzen) der globalen Gesellschaft abspielen. Wir wollten wissen: Was bewegt die unsichtbaren Gesichter der Globalisierung? Und welche Konsequenzen spüren sie überhaupt?
«Viele spüren die Globalisierung direkt oder indirekt, indem sie zum Spielball der geopolitischen Mächte und Querelen werden», sagt Karin Wenger als Antwort auf unsere Fragen. Zum Beispiel die Konsequenzen der Megaprojekte im Rahmen der neuen Seidenstrasse Chinas in Laos oder Kambodscha oder der Abzug westlicher Gelder aus Afghanistan – eine Folge des schwindenden Interesses des Westens. Ganz direkt wirkt sich die Globalisierung auf die Arbeitsbedingungen beispielsweise von Arbeiterinnen in Textilfabriken in Bangladesch oder Vietnam aus, ganz nach dem Motto: möglichst billig muss es sein. Diese Arbeitsbedingungen sind immer wieder ein konkretes Thema in ihren Büchern.
Im Jahr 1979, als Karin Wenger geboren wurde, marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Sie blieben ein Jahrzehnt und zerschlugen alle Träume, so wie später auch die Taliban. Karin Wenger hat in den letzten Jahren immer wieder über den zermürbenden Krieg und den globalen Kampf gegen Terrorismus in Afghanistan berichtet und dort Mina getroffen, eine mutige und von konservativen Männern verfolgte Sängerin, deren Geschichte im Buch «Verbotene Lieder» (Stämpfli Verlag) erzählt wird. Es ist eine beeindruckende und bedrückende Geschichte, ohne «Happy End», aber trotzdem nicht ganz aussichtslos wie viele andere, die Karin Wenger erzählt («Bis zum nächsten Monsun», Stämpfli Verlag; «Jacob der Gefangene. Eine Reise durch das indische Justizsystem», Matthes & Seitz Berlin).
Es sind Lebenswelten und Extremsituationen, die nur ein Buch und eine Journalistin mit langem Atem und Fingerspitzengefühl wie Karin Wenger erzählen kann. Über Jahre hinweg trifft sie ihre ProtagonistInnen, hört ihre Erfahrungen, spricht mit ihren Verwandten und wird sogar Teil ihrer Geschichte, indem sie zum Beispiel Mina beim Antrag für ein humanitäres Visum beim Schweizer Generalkonsulat in Istanbul unterstützt. Erfolglos. Es sei ein Todesurteil, sagt Mina nach dem negativen Entscheid: «Wir haben keine Papiere, keine Identität, mein Kind kann nicht zur Schule. Das Recht, Mensch zu sein, wurde uns genommen».
Auch Rozina, eine Näherin aus Bangladesch, deren Geschichte Karin Wenger in «Bis zum nächsten Monsun» erzählt, durchlebte eine dramatische Situation: Sie arbeitete im Rana-Plaza-Gebäude, wo internationale Modeketten ihre Kleider produzieren lassen, als dieses am 24. April 2013 einstürzte. 1134 Menschen starben, mehr als 2500 wurden verletzt. Dabei liebte Rozina ihre Arbeit in der Fabrik, obwohl sie im Zuge des Zusammensturzes ihre Schwester und ihren Arm verlor. «Für arme Frauen wie mich ist die Fabrikarbeit ein Geschenk des Himmels», sagt Rozina. Die Arbeit habe sie frei gemacht, weil sie ihr eigenes Geld verdienen konnte.
«Immer wieder», schreibt Karin Wenger im Vorwort ihres Buches «Bis zum nächsten Monsun», «traf ich auf Menschen, die Schreckliches überlebt hatten, und jedes Mal fragte ich mich: Wie lebt jemand nach einer so extremen Grenzerfahrung weiter? Woher nehmen Menschen die Kraft weiterzugehen, ohne zu zerbrechen – weder physisch noch psychisch –, obwohl sie grausame Erfahrungen gemacht haben?»
Die Sehnsucht nach mehr Tiefe und Komplexität sowie der Wunsch, Menschen länger zu begleiten, statt sie nur in News-Flashs zu Wort kommen zu lassen, haben Karin Wenger dazu bewogen, ihre ProtagonistInnen in den Jahren nach den ersten Begegnungen immer wieder aufzusuchen und schliesslich darüber zu schreiben. Entstanden sind drei pulsierende und exzellent geschriebene Bücher, die mehr verraten über die leeren Versprechungen und die Widersprüche der Globalisierung als viele wissenschaftliche Aufsätze, die nur mit Zahlen und Theorien operieren.
Karin Wenger studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalistik und Politologie. Während des Studiums arbeitete sie als Friedensbeobachterin in Chiapas und recherchierte zum Nordirlandkonflikt in Belfast. Ihr letztes Studienjahr verbrachte sie an der Universität Birseit im Westjordanland. Für das Schweizer Radio SRF berichtete sie seit 2009 unter anderem über den Krieg in Afghanistan, Naturkatstrophen in Pakistan und Nepal, die vielschichte Demokratie Indiens oder den Militärputsch in Myanmar.
Wer mehr über die Bücher und Karin Wenger erfahren möchte, findet Angaben dazu auf www.karinwenger.ch
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Meinung
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Der Krieg in der Ukraine hat eine Wertekrise verschärft, die mit der politischen Instrumentalisierung der UNO zusammenhängt. Neutrale Länder wie die Schweiz sollten sich stärker für eine bessere Welt einsetzen, sagt El Hadji Gorgui Wade Ndoye.
Die grosse Krise, in der sich die Vereinten Nationen aktuell befinden, ist im Grunde eine Identitätskrise: Die universellen Werte, die die Nationen vereint haben, bekommen Risse unter dem Druck einer kriegerischen Logik, die die Werte des Friedens und der Menschenrechte vernachlässigt. Der Krieg in der Ukraine macht dies deutlich: Auf der einen Seite gibt es einen Staat, der ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ist und mitten im 21. Jahrhundert einen anderen Staat unter dem Vorwand der Entnazifizierung angreift. Auf der anderen Seite steht ein westlicher Block, der sich verbal überbietet und sich entschlossen dazu verpflichtet, den betroffenen Staat zu bewaffnen.
Abgesehen von der Klimakatastrophe, die vom IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) angekündigt und im Bericht der Weltorganisation für Meteorologie vom 18. Mai bekräftigt wurde, und den humanitären und Nahrungsmittelkrisen, die von einer finanziell schwachen UNO so gut wie möglich bewältigt werden, hat der Krieg in der Ukraine vor allem eine Wertekrise verschärft, die mit der politischen Instrumentalisierung der Weltorganisation zusammenhängt. Auch der Menschenrechtsrat, Erbe der gleichnamigen Kommission mit Sitz in Genf, entgeht dieser Instrumentalisierung nicht immer – obwohl die Vereinten Nationen im Jahr 1945 nicht auf der Asche des Völkerbundes mit einer manichäischen Vision von «Pro» und «Contra» gegründet worden waren.
Makane Moïse Mbengue, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf und Mitglied des Instituts für Internationales Recht, schlägt eine «rhetorische Neuausrichtung auf die Werte, Ziele und Gründungsprinzipien der Vereinten Nationen» vor. In diesem Rahmen kommt dem afrikanischen Kontinent eine wichtige Rolle zu, einem Kontinent, auf dem sich bis vor kurzem fast 70% des Interventionsvolumens der Vereinten Nationen konzentrierten. Der erste Kontinent, der sich keinem Ost-West-Block zugehörig fühlt und angesichts des Wiederaufflammens des Kalten Krieges erneut Zeuge einer Konfrontation ist, könnte der internationalen Gemeinschaft als ältester Sohn der Erde eine «zusätzliche Seele» verleihen. Ebenso sollten sich historisch neutrale Länder stärker für eine bessere Welt einsetzen. Dies gilt insbesondere auch für die Schweiz, umso mehr, wenn sie einem der wichtigsten der sechs Organe der Vereinten Nationen beitreten wird: dem Sicherheitsrat. Wie der Schweizer Soziologe Jean Ziegler gesagt hat: «Die UNO ist der letzte Graben vor dem Chaos.»
Der Juni 2022 ist ein historisches Datum für die Schweiz, da sie von der Liste der 62 Länder, die noch nie im Sicherheitsrat Einsitz nahm, gestrichen wird. Die Schweizerische Eidgenossenschaft, die 2002 Mitglied der UNO wurde, könnte mit dem neuen Vertrauen, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen in sie setzt, einen frischen Wind in die Beziehungen zwischen den fünfzehn Mitgliedstaaten und insbesondere den fünf ständigen Mitgliedern (China, Frankreich, Vereinigte Staaten, Russische Föderation und Grossbritannien) spielen. Trotz der Sanktionen gegen Russland, an denen sie sich beteiligt, können die Glaubwürdigkeit und die Neutralität der Schweiz weiterhin dazu dienen, Brücken zwischen den Nationen zu bauen. So könnte die Eidgenossenschaft zusammen mit anderen Ländern aus dem afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent auf eine Neuausrichtung der Rhetorik im Sicherheitsrat hinwirken, damit diese stärker mit den Idealen der Charta der Vereinten Nationen übereinstimmt.
Die Schweiz kann sich im aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Vermittlerin präsentieren, da sie weder Mitglied der NATO noch der Europäischen Union ist. Dafür muss sie in den zwei Jahren, in denen sie im Rat vertreten sein wird, diesem mächtigen Gremium ihre Werte des Friedens und der partizipativen Demokratie näherbringen. Es wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Vetorecht zu beseitigen, das den fünf ständigen Mitgliedern aufgrund ihrer Schlüsselrolle bei der Gründung der Organisation gewährt wurde. Die Schweiz könnte sich jedoch gemeinsam mit anderen Staaten an der Resolution orientieren, die am 26. April 2022 von der Generalversammlung im Konsens verabschiedet wurde: Jeder Einsatz eines Vetos wird künftig eine Sitzung der Generalversammlung auslösen, in der alle UN-Mitgliedstaaten das Veto prüfen und kommentieren können. Die Resolution «Ständiges Mandat für eine Debatte in der Generalversammlung, wenn im Sicherheitsrat ein Veto eingelegt wird», die ohne Abstimmung angenommen wurde, folgte auf Russlands Gebrauch seines Vetorechts im Rat einen Tag nach seiner Invasion in die Ukraine und forderte dessen bedingungslosen Rückzug aus dem Land. Damit ist ein neues Druckmittel entstanden, das nach einer grösseren Verantwortung der Vetostaaten verlangt. Die Mitgliedstaaten haben dem Rat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen und sind übereingekommen, dass dieser, wenn er in ihrem Namen handelt, jederzeit das grösstmögliche Verantwortungsbewusstsein für die Realisierung «der Ziele und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen» an den Tag legen sollte.
Die Schweiz ist den in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Idealen verpflichtet. Folgerichtig muss ihre Präsenz im Sicherheitsrat ihr Engagement für Frieden und Sicherheit in der Welt und innerhalb der Weltorganisation zum Ausdruck bringen. Das grundlegende Ziel der schweizerischen Neutralität ist insofern vergleichbar mit dem Bestreben der UNO, als diese ein auf dem Recht basierendes System setzt, um «künftige Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren». Tatsächlich kann man feststellen, dass Staaten, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Bezug auf einen Konflikt garantiert ist und die keine direkten nationalen Interessen oder eine versteckte Agenda bei der Konfliktlösung haben, prädestiniert dafür sind, die Rolle des ehrlichen Vermittlers («honest broker») zu übernehmen. Der Sitz im Sicherheitsrat eröffnet der Schweiz neue Möglichkeiten, um zu Frieden, Sicherheit und einer gerechten internationalen Ordnung beizutragen. Auch wenn die UNO bisher nicht alle ihre Aufgaben erfolgreich erfüllt hat, bleibt sie doch «der letzte Graben vor dem Chaos», um es mit den Worten von Jean Ziegler zu sagen.
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Artikel, Global
21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Es brauche eine mutige Agenda 2030 für die Schweiz, denn wie waffenstarrend auch immer sie ist, die Welt endet nicht an den Schweizer Grenzen, schreibt Andreas Missbach zur milliardenschweren und unnötigen Aufstockung der Armeeausgaben.
© Parlamentsdienste, 3003 Bern
Das Parlament will die Militärausgaben ab 2023 schrittweise auf 1 % des Bruttoinlandprodukts erhöhen. Das wären dann 2030 drei Milliarden Schweizer Franken mehr, als heute für die Armee ausgegeben wird. Ein Schnellschuss. Die SchweizerInnen sehen laut Umfragen die Aufrüstung kritisch und selbst die NZZ fragt sich: «Ist das wirklich nötig?» Pälvi Pulli, Chefin Sicherheitspolitik des Verteidigungsdepartements, sagte der «Republik»: «Die Schweiz ist nicht viel stärker bedroht als vor dem Krieg.»
Es ist hingegen keine Frage mehr, dass der andauernde Krieg in der Ukraine dramatische Auswirkungen auf die Länder des globalen Südens hat. Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel und für energieintensiven Dünger waren bereits vor dem Krieg hoch. Dann kam die Invasion, die zu einer zunächst rein spekulativen Preisexplosion führte. Dabei gilt weiterhin, dass die Welt genug Nahrungsmittel produziert. Weniger davon im Futtertrog, auf dem Müll und im Fahrzeugtank würde ausreichen, um den Ausfall der ukrainischen Ernte mehr als zu kompensieren. Dennoch braucht es kurzfristig eine massive Erhöhung der Nahrungsmittelhilfe und mehr Geld, um Menschen vor dem Verhungern zu bewahren und Aufstände zu verhindern.
Auch bei der Verschuldung vieler Länder des Südens setzen die Auswirkungen des Krieges noch einen drauf, nach dem diese durch die Corona-Krise bereits stark angestiegen war. Um Schuldenkrisen mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung zu verhindern, braucht es kurzfristig einen Zahlungsaufschub und dann den Einbezug der Gläubiger – auch Schweizer Banken und Rohstoffhändler – in einen Schuldenerlass. Ebenso muss die Schweiz ihre vom Währungsfonds zugute gestellten und nicht genutzten Mittel (so genannte «Sonderziehungsrechte») schuldengeplagten Ländern überlassen.
Kurz nach Ausbruch des Krieges warnte UNO-Generalsekretär António Guterres: «Wenn sich unsere kollektive Aufmerksamkeit auf den Konflikt richtet, besteht die grosse Gefahr, dass wir andere Krisen vernachlässigen, die nicht verschwinden werden. Es wäre eine Tragödie, wenn die Geberländer ihre Militärausgaben auf Kosten der öffentlichen Entwicklungshilfe und des Klimaschutzes erhöhen würden.»
Um den vielfältigen Krisen im globalen Süden gerecht zu werden, müsste die Schweiz endlich einen angemessenen Beitrag zu deren Bekämpfung leisten. Unser Land sollte drei Milliarden Franken mehr pro Jahr in die Sicherheit des Planeten investieren. Dies würde es erlauben, endlich das UNO-Finanzierungsziel für die internationale Zusammenarbeit zu erreichen (0,7 % des Bruttonationaleinkommens). Zudem könnte die Schweiz ohne Doppelzählung 1 % zur globalen Klimafinanzierung beizutragen, was ihrem fairen Anteil entspricht. Das wäre eine mutige Agenda 2030 für die Schweiz, denn wie waffenstarrend auch immer sie ist, die Welt endet nicht an den Schweizer Grenzen.
Stellungnahme von Alliance Sud: 12 Punkte im Krieg für den Frieden
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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
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29.06.2022, Internationale Zusammenarbeit
Die Zustimmung der Schweizer Bevölkerung für die internationale Zusammenarbeit und die Armutsbekämpfung ist gross − auch in Krisenzeiten und wenn der Staatshaushalt unter Druck gerät. Das zeigt eine repräsentative Umfrage der ETH Zürich.
© ETH Zürich / NADEL
Laut der ersten landesweiten Umfrage «Swiss Panel Global Cooperation» sind 55% der Befragten der Meinung, dass die Ausgaben für die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit erhöht werden sollten. Die meisten Befragten überschätzen allerdings die aktuelle Höhe der Ausgaben; wären sie über die tatsächlichen (niedrigeren) Ausgaben informiert, würde die grosse Unterstützung noch einmal deutlich steigen (auf 71%).
Als wichtigste Gründe für die internationale Zusammenarbeit werden die Wahrung des Weltfriedens (79%), die Reduktion der Folgen des globalen Klimawandels (79%) und die Solidarität angegeben (77%). Die Umfrage bestätigt somit die Forderung von Alliance Sud nach einer umfassenden Friedenspolitik, die die menschliche Sicherheit auf der ganzen Welt vor Augen hat.
Die Umfrage wurde Ende 2021 mit rund 2800 Personen in der ganzen Schweiz durchgeführt. Sie gibt einen guten Einblick in die öffentliche Meinung der Schweizer Bevölkerung und es ist anzunehmen, dass der Krieg in der Ukraine die Unterstützung für die dringend benötigte internationale Zusammenarbeit noch verstärkt hat. Deutlich kritischer ist die Schweizer Bevölkerung gegenüber der Armee eingestellt: Laut einer Umfrage der Meinungsforschungsinstituts Gallup befürworten nur 38% der Befragten eine Aufstockung der Militärausgaben, wie sie in der Sommersession vom Parlament überstürzt beschlossen wurde.
Auch verschiedene entwicklungspolitische Massnahmen, die Alliance Sud immer wieder gefordert hat, werden von den Bevölkerung unterstützt: 70% der Befragten befürworten einen Verzicht auf geistige Eigentumsrechte für Covid-19-Impfstoffe (sogenannter «Trips Waiver»), satte 90% Massnahmen zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung durch Schweizer Unternehmen. Drei Viertel der Befragten halten es zudem für wichtig, Massnahmen zu ergreifen, um den CO2-Fussabdruck der Schweiz zu verringern und multinationale Unternehmen davon abzuhalten, Gewinne aus Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen aus steuerlichen Gründen in die Schweiz zu verlagern. Somit spielen Fragen der globalen Gerechtigkeit eine wichtigere Rolle als wirtschaftliche Interessen: Die Schweizer Bevölkerung ist bereit, auch politische Massnahmen zu unterstützen, die mit potenziellen Kosten für sie selbst verbunden sind.
Nachdenklich stimmen weitere Ergebnisse der Umfrage, die den Wissenstand über die globale Zusammenarbeit in der Bevölkerung betreffen: Fast ein Drittel der Befragten gibt an, dass sie sich nicht gut informiert fühlt und mehr über Armut und globale Ungleichheit erfahren möchte. 88% haben noch nicht oder sehr wenig von den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen gehört (den Sustainable Development Goals, SDGs): ein Armutszeugnis für die Schweiz und insbesondere für die Bundesverwaltung, die es trotz zwei Delegierten immer noch nicht geschafft hat, die Agenda 2030 unter die Leute zu bringen. Die fehlende Information der Bevölkerung sollte auch beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Gelegenheiten zu denken geben: Sie hat den Entwicklungsorganisationen Ende 2020 unterbunden, die Programmbeiträge für die Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit im Inland zu verwenden. Laut Eidgenössischer Finanzkontrolle hat sich dieses Verbot auch negativ auf die Qualität der Beziehungen zwischen einigen NGOs und der DEZA ausgewirkt.
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Meinung
05.07.2022, Internationale Zusammenarbeit
Eins muss man ihm zugestehen: Ignazio Cassis hat sich für «seine» Konferenz in Lugano richtig ins Zeug gelegt. Höchste Zeit, dass der Bundespräsident die gleiche Energie zur Bekämpfung der globalen Hungerkrise und für die Agenda 2030 an den Tag legt.
Nach dem ganzen Brimborium anlässlich der Ukraine-Konferenz in Lugano werden sich die Schweizer DiplomatInnen wohl gegenseitig auf die Schultern klopfen – auch wenn die grossen Namen der Weltpolitik schlussendlich fehlten. Kein Wunder, hat doch auch der Schweizer Aussenminister die globale Konferenz gegen die Hungerkrise in Berlin geschwänzt. Trotzdem hat die «Lugano-Deklaration» zumindest ein Ziel erreicht und die politischen Voraussetzungen festgelegt für den demokratischen Wiederaufbau in der Ukraine, wobei die internationale und lokale Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen wird.
Das Ende des Krieges scheint aber noch in weiter Ferne und bis dann kann der Wiederaufbau nicht umfassend und nachhaltig in Angriff genommen werden. Es gilt weiterhin, die dramatischen Folgen so gut wie möglich zu lindern: in der Ukraine wie global. Und auch in der Schweiz gibt es viel zu tun, da ihr Finanzplatz und Rohstoffhandel die Kriegsführung und die Korruption anderswo oft erst ermöglichen. Gerade auch in Lugano, was Cassis in den letzten zwei Tagen strahlend ausgeblendet hat.
Die Schweizer Bevölkerung hat für die Ukraine eine grosse Solidarität an den Tag gelegt: Fast 300 Millionen Schweizer Franken hat sie via Spenden an Hilfsorganisationen bisher bereitgestellt. Die offizielle Schweiz hat in Lugano zwar angekündigt, dass sie die bilaterale Zusammenarbeit auf 100 Millionen verdoppeln wird; unverständlich ist jedoch die Absicht, dass dieses Geld aus dem aktuellen Budget der internationalen Zusammenarbeit kommen soll.
Für die eigene Armee will das Schweizer Parlament ab 2030 zwei zusätzliche Milliarden pro Jahr einsetzen; für eine umfassende Friedenspolitik auf der ganzen Welt, wie sie eine Mehrheit der Bevölkerung will, ist die Politik aber nicht bereit, tief in die Tasche zu greifen. So wichtig die Unterstützung des Wiederaufbaus und der Zivilbevölkerung in der Ukraine ist – 50 zusätzliche «Milliönchen» sind dabei sicher nicht genug –, so zentral ist es, dass dieses Geld zusätzlich gesprochen wird und nicht auf Kosten der ebenso dringlichen Aufgaben in anderen Ländern geht.
In New York beginnt heute das High-Level Political Forum zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030). Leider wird der Bundespräsident an diesem wichtigen Anlass nicht vor Ort sein, weil scheinbar Wichtigeres auf ihn wartet. Hoffentlich denkt er in dieser Zeit über eine umfassende Friedenspolitik der Schweiz nach und geniesst ein paar Sommertage in seiner Wohngemeinde Collina d’Oro, wo einst auch der Nobelpreisträger für Literatur Hermann Hesse lebte und kurz nach dem ersten Weltkrieg schrieb:
«Im Frieden, als unser Reichgewordenen Landsleute noch unbehindert reisen konnten, da traf man im Sommer keinen von ihnen im Süden an. Im Sommer war der Süden, einem dunklen Gerücht zufolge, unerträglich heiss und von phantastischen Plagen erfüllt, und man zog es vor, in Nordland zu sitzen oder in einem Alpenhotel auf zweitausend Meter Höhe den Sommer durchzufrieren. Jetzt ist das anders, und wer einmal das Glück gehabt hat, seine Person und seine Kriegsgewinne nach dem Süden zu exportieren, der bleibt da und geniesst, unter Gottes allesduldender Sonne, die Segnungen dieses Sommers mit. Wir alte Auslandsdeutsche treten sehr in den Hintergrund, sind auch mit unsren sorgenvollen Gesichtern und Fransen an unsern Hosen nicht recht präsentabel. Dafür wird unser Volk glanzvoll durch eben jene Herrschaften vertreten, die sich hier mit Hilfe der rechtzeitig weggeschmuggelten Gelder Häuser, Gärten, und Bürgerrecht gekauft haben.» (Aus: Sommertag im Süden, Tessin, 1919).
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