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Vereinte Nationen
Nach 80 Jahren wichtiger denn je
24.10.2025, Internationale Zusammenarbeit, Agenda 2030
Der Multilateralismus steckt in der Krise. Und doch ist die UNO-Charta alles andere als passé. Sie erinnert uns an das Versprechen für eine bessere Welt, die nur durch internationale Zusammenarbeit und Dekolonisierung möglich ist.
Noch in den letzten Kriegsmonaten 1945 handeln Delegationen aus aller Welt in San Francisco die UNO-Charta aus, unter Beteiligung einer für die UNO prägenden Mehrheit von Ländern des Globalen Südens.
© Keystone / Photopress-Archiv / Str
Vor 80 Jahren, am 24. Oktober 1945, trat die UNO-Charta in Kraft. Nach ihren geistigen Vätern (und wenigen Müttern) aus den USA und den europäischen Noch-Kolonialmächten sollte sie der Friedenswahrung auf der Basis des Völkerrechts dienen – wobei der Völkerbund gescheitert war – und durch die universelle Mitgliedschaft die Legitimität der Nachkriegsordnung stärken. Wobei es dann doch nicht zu viel der Legitimität werden sollte. Dafür, dass den Mächtigen nicht das Heft aus der Hand gerissen werden konnte, sollte für die Veto-Mächte der Sicherheitsrat sorgen.
Dass es bei der UNO auch um wirtschaftliche Fragen gehen soll, war nicht vorgesehen, denn die wirtschaftliche Nachkriegsordnung hatten die späteren Siegermächte ja bereits 1944 in Bretton-Woods gezimmert. Dabei waren die Länder des Globalen Südens – soweit überhaupt schon unabhängig (wie in Lateinamerika) oder teilautonom (wie Indien) – nur am Katzentisch vertreten. Entsprechend wenig wurde ihr Anliegen, bei ihrer Entwicklung unterstützt und nicht behindert zu werden, aufgenommen. In den Entscheidungsgremien hatten sie durch «one Dollar, one vote» erst recht nichts zu sagen.
Mit «one country, one vote» sollte es bei der UNO anders werden, hofften besonders die lateinamerikanischen Länder – sie stellten mehr Gründungsmitglieder als Europa. Zusammen mit den anderen Ländern des Globalen Südens hatten sie sich erfolgreich für ein Kapitel «Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet» und für einen Wirtschafts- und Sozialrat eingesetzt. In Artikel 55 des entsprechenden Kapitels heisst es, die UNO solle «die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg» fördern.
Auch nicht vorgesehen war, dass die UNO eine zentrale Rolle bei der Dekolonisierung spielen sollte. Als bald eine ihrer Haupttätigkeiten war sie dann aber entscheidend, dass der Weg in die Unabhängigkeit in vielen Ländern gelang. Der zweite UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld bezahlte für seinen Einsatz mit dem Leben, er starb zusammen mit fünfzehn weiteren Menschen bei einem Flugzeugabsturz als er im gerade unabhängig gewordenen Kongo im Konflikt um die rohstoffreiche, abgespaltene Region Katanga vermitteln wollte. Ob und allenfalls von wem sein Flugzeug abgeschossen wurde ist nach vielen Untersuchungen immer noch nicht klar. In anderen Ländern kam es während und nach der Dekolonisierung zu offenen Stellvertreterkriegen der Vetomächte USA und der Sowjetunion – gegen deren Machtpolitik war die UNO chancenlos.
Das Ende des (formal-politischen) Kolonialismus erweiterte die Weltorganisation um viele neue Mitglieder. Dies scheint der NZZ in ihrem Rundumschlag über und grösstenteils gegen die UNO so grosses Unwohlsein zu verursachen, dass der Rassismus nur schwach verhüllt zwischen den Zeilen spricht: «Die Uno ist heute nicht mehr dieselbe Organisation wie 1945 und hat sich von ihren Gründungsprinzipien entfernt. Die Uno zählte damals 51 überwiegend westliche Mitglieder. Heute sind es 193.» Das ist übrigens auch falsch – es waren lediglich 12 westliche Gründungsmitglieder.
Zu den grössten und wichtigsten Errungenschaften der UNO gehört, dass sie in einem langen und konfliktiven Prozess seit 1967 den globalen Konsens erreichte, dass Umwelt und Entwicklung als verzahnte Themen nur gemeinsam angegangen werden können. Trotz der Schwerfälligkeit, die die universelle Mitgliedschaft von (nur in der Generalversammlung) gleichberechtigen Ländern mit sich bringen kann, gelang es, Prozesse zu etablieren, mit denen der Klimawandel angegangen werden könnte: ein zwischenstaatliches wissenschaftliches Gremium (IPCC), das auf dem konsensuellen Stand des Wissens die multilateralen Prozesse informiert, eine Rahmenkonvention und ein weiterführendes Protokoll. Schliesslich gelang es – als bindende Emissionsreduktionen gescheitert waren – mit dem Pariser Abkommen, einen Prozess zu etablieren, der trotz Freiwilligkeit Fortschritte ermöglichen könnte. Es ist nicht der UNO anzulasten, dass die Bewältigung der Klimakrise heute in der grössten Krise seit je steckt. Es ist der Macht der Mächtig(st)en geschuldet: Von Bush 1 (Nicht-Unterzeichnung der Klimarahmenkonvention) bis Trump 2 (no comment). Und Nein NZZ, Trump ist kein «heilsamer Schock», wie der Titel des besagten Artikels behauptete.
Ein Jubiläumstext sollte eigentlich nicht wie eine Grabrede klingen, darum hier Artikel 55 der UNO-Charta im Originalton, als Echo mit dem Versprechen auf eine bessere Welt:
«Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, fördern die Vereinten Nationen
a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg;
b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung;
c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion.»
Süd-Perspektive
Afrika – Schlüsselkontinent für die Energiewende
02.10.2025, Klimagerechtigkeit
In Afrika ist die Zeit reif für einen verantwortungsvollen Rohstoffabbau. Nur so kann der Kontinent von seinen Reserven an Transitionsmineralien profitieren, die Lebensbedingungen seiner Bürger:innen verbessern und die negativen Auswirkungen des Bergbaus abmindern. Von Emmanuel Mbolela.
Wer profitiert vom Coltan, das unsere Zukunft antreibt? Die Rubaya-Minen stehen im Zentrum des Kriegs zwischen der M23-Miliz, Kongo und Rwanda. © Eduardo Soteras Jalil / Panos Pictures
Die globale Energiewende ist eine Conditio sine qua non im Kampf gegen die weltweite Klimaerwärmung und zur Sicherung einer nachhaltigen Energiezukunft für die kommenden Generationen. Seit Jahren prägt das Thema die politische und öffentliche Debatte – im Globalen Norden wie im Süden. Dabei spielt der afrikanische Kontinent – dank seiner aussergewöhnlichen Artenvielfalt zweifelsohne die wichtigste globale Kohlenstoffsenke – eine Schlüsselrolle. Auch ist Afrika reich an verschiedenen Transitionsmineralien (Kupfer, Kobalt, Lithium, Nickel, Coltan, Tantal), die für die Herstellung von Batterien für Elektrofahrzeuge, die Speicherung erneuerbarer Energien sowie für innovative Technologien weltweit unerlässlich sind. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) wird die Nachfrage nach diesen Mineralien bis 2040 um das Vier- bis Sechsfache steigen.
Was bedeutet das für den Kontinent selbst, der diese strategischen Bodenschätze bereitstellt? Wird Afrika weiterhin als Rohstoffquelle ausgebeutet oder kann der Prozess der Energiewende seine Entwicklung massgeblich beschleunigen?
Afrika stand schon immer im Zentrum der grossen Umbrüche, die zu Industrialisierungsschüben führten. Es zahlte dafür einen hohen Preis.
Die Geschichte wiederholt sich
Blicken wir in die Geschichte zurück, stellen wir fest: Afrika stand schon immer im Zentrum der grossen Umbrüche, die zu Industrialisierungsschüben führten. Es zahlte dafür einen hohen Preis. In der Zeit des Sklavenhandels wurden Afrikaner:innen gewaltsam verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen auf Schiffen nach Amerika transportiert, um dort auf Zuckerrohr- und Baumwollplantagen zu arbeiten. Ein weiteres dunkles Kapitel ist jenes des Kautschuks, der zur Herstellung von Autoreifen verwendet wurde. Zwar revolutionierte er die Automobilindustrie, doch liess seine Gewinnung in den afrikanischen Erzeugerländern tiefe Narben zurück. Unvergessen bleiben die grausamen Methoden, von abgehackten Händen bis hin zur Geiselnahme von Frauen und Kindern, mit denen König Leopold II. von Belgien die kongolesische Bevölkerung zwang, mehr von diesem weissen Gold zu fördern. Dessen Verkauf diente ausschliesslich seiner persönlichen Bereicherung und dem Prosperieren des belgischen Königreichs. Ohne die Rohstoffe aus Afrika hätte es die industrielle Revolution des 20. Jahrhunderts nie gegeben. Ganz zu schweigen vom Uran, das im Süden der Demokratischen Republik Kongo abgebaut und für die Herstellung der Atombombe verwendet wurde, die den Zweiten Weltkrieg beendete. Und auch heute sind die Bodenschätze des afrikanischen Kontinents hochbegehrt: Die Entwicklung der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien ist von afrikanischen Rohstoffen – allen voran Coltan – abhängig. Es wird in erster Linie für die Herstellung von Mobiltelefonen und Laptops verwendet.
Doch paradoxerweise befindet sich Afrika am unteren Ende der globalen Entwicklungsskala. Seine Söhne und Töchter gehen auf der Suche nach einem Eldorado unverhältnismässige Risiken ein. Zu Tausenden sterben sie in der Wüste oder auf hoher See, unter den mitwissenden und schuldbewussten Blicken derer, die zwar die Mittel hätten, sie zu retten, dies aber unter dem Vorwand ablehnen, dass dies eine Sogwirkung zur Folge hätte.
Emmanuel Mbolela wurde 1973 in Mbuji-Mayi im Zentrum der Demokratischen Republik Kongo geboren. Er hat in seiner Heimatstadt Ökonomie studiert, musste jedoch aus politischen Gründen 2002 das Land verlassen. Seit 2008 lebt er in den Niederlanden.
Er ist Aktivist und Verfechter der Grundrechte von Migrierenden und Autor des Buches «Mein Weg vom Kongo nach Europa. Zwischen Widerstand, Flucht und Exil», Wien: Mandelbaum. Er ist Gründer einer Vereinigung für Flüchtlinge und Migrant:innen-Gemeinschaften sowie Initiant einer Notunterkunft, in der Migrant:innen und ihre Kinder vorübergehend aufgenommen werden.
Heute nimmt Afrika eine neue Schlüsselrolle ein: als Kohlenstoffsenke gegen die globale Erwärmung und als Lieferant von Rohstoffen, die für die Energiewende unverzichtbar sind.
Heute sind wieder alle Augen auf Afrika gerichtet. Wie zu Zeiten der historischen Umwälzungen der Industrialisierung nimmt der Kontinent bereitwillig eine neue Schlüsselrolle ein: als Kohlenstoffsenke gegen die globale Erwärmung und als Lieferant von Rohstoffen, die für die Energiewende unverzichtbar sind.
Die vergangenen industriellen Revolutionen, die zwar der Entwicklung des Nordens dienten und der dortigen Bevölkerung eine bessere Lebensqualität bescherten, hinterliessen in Afrika vor allem Tod und Zerstörung. So befindet sich die Demokratische Republik Kongo seit 30 Jahren in einem Krieg um die Entvölkerung und Wiederbesiedelung des östlichen Landesteils, wo riesige Minen mit Transitionsmineralien betrieben werden. Obwohl das Land selbst über keine Rüstungsindustrie verfügt, hat dieser bewaffnete Konflikt Millionen von Toten, Hunderttausende Binnenvertriebene und Flüchtlinge gefordert. Die Vergewaltigung von Frauen und Kindern wird im grossen Stil als Kriegswaffe eingesetzt: Die Bevölkerung sieht sich so gezwungen, ihre Städte und Dörfer zu verlassen und ihr Land zurückzulassen, wo unverzüglich mit dem Abbau weiterer Mineralien begonnen wird.
Während die Nachfrage nach Mineralien regelrecht explodiert, werden wir Zeuge räuberischer und illegaler Praktiken bei deren Gewinnung: Kinder arbeiten in Minen, bewaffnete Konflikte werden geschickt provoziert und Vereinbarungen in völliger Undurchsichtigkeit nicht nur von multinationalen Unternehmen, sondern auch von Staaten unterzeichnet. Im Februar 2024 beispielsweise handelte die Europäische Union mit Ruanda ein Abkommen über die Vermarktung kritischer Rohstoffe aus; dies im Wissen darum, dass die von Ruanda auf dem internationalen Markt angebotenen Metalle aus Plünderungen in der Demokratischen Republik Kongo stammen, mit der Ruanda in einem kriegerischen Konflikt stand.
Kobalterz aus den kongolesischen Shabara-Minen, wo Tausende unter widrigsten Bedingungen in einer von Glencore kontrollierten Gegend graben. © Pascal Maitre / Panos Pictures
Am 27. Juni wurde in Washington unter Vermittlung der Trump-Regierung ein Friedensabkommen zwischen der DR Kongo und Ruanda unterzeichnet. Dieses Abkommen, dem Verhandlungen zwischen den amerikanischen und kongolesischen Behörden über den Abbau seltener Rohstoffe vorausgingen, entspricht der Logik von Präsident Trump, Frieden gegen strategische Mineralien einzutauschen. Die Regierung des Geschäftsmanns Trump erklärt sich bereit, die Aggression des Nachbarlandes Ruanda gegen die Demokratische Republik Kongo zu beenden, unter der Bedingung, dass diese beim Abbau ihrer Bodenschätze mit den Vereinigten Staaten kooperiert. Es ist allzu offenkundig, dass dieses von Donald Trump so hochgelobte Abkommen in Wirklichkeit lediglich dazu dient, den USA Zugang zu den unverzichtbaren Mineralien zu verschaffen.
Die multinationalen Unternehmen sind vom Grundsatz der Gewinnmaximierung getrieben und weder an der Schaffung langfristiger Arbeitsplätze noch an nachhaltigen Abbaupraktiken interessiert.
Ein solches Abkommen wird unweigerlich sowohl zu einem «Frieden ohne Brot» als auch zu Konflikten zwischen den Grossmächten auf afrikanischem Boden führen. Dies umso mehr, als die multinationalen Unternehmen, die sich im Kongo ansiedeln dürften, vom Grundsatz der Gewinnmaximierung getrieben sind und deshalb die abgebauten Rohstoffe ausführen werden, um sie in ihren jeweiligen Ländern zu verarbeiten. Sie sind weder an der Schaffung langfristiger Arbeitsplätze noch an nachhaltigen Abbaupraktiken interessiert.
Mit dem Konflikt der Grossmächte, insbesondere zwischen der EU und den USA, der sich auf kongolesischem Boden anbahnt, könnte sich wiederholen, was sich 1997 in Kongo-Brazzaville zutrug. Dort wurde damals eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt, weil Präsident Lisouba Ölförderabkommen mit amerikanischen Unternehmen unterzeichnet hatte, zum Nachteil der französischen Unternehmen, die seit Jahrzehnten im Land ansässig waren. Letztere zögerten nicht, den ehemaligen Präsidenten Sassou-Nguessou wieder zu bewaffnen, mit dem Ziel, Pascal Lisouba zu stürzen. Der Krieg, der ausbrach und hunderttausende Menschenleben forderte, führte zu ebenso vielen Binnenvertriebenen und Flüchtlingen und wurde später als ethnischer Krieg bezeichnet.
Ein weiteres Beispiel ist das von den Vereinigten Staaten initiierte und von der EU unterstützte Megaprojekt zum Bau einer Eisenbahnverbindung zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Sambia bis zum Hafen von Lobito in Angola. Das vom ehemaligen US-Präsidenten Joe Biden in den letzten Tagen seiner Amtszeit in Angola eingeweihte Projekt hat zum Ziel, die Transportwege für Rohstoffe zu verkürzen. Es erinnert an die Projekte der Kolonialzeit, als Strassen und Eisenbahnen nicht mit dem Zweck gebaut wurden, die Kolonien zu erschliessen und zu entwickeln, sondern um die Bergbaugebiete oder -regionen mit den Ozeanen und Meeren zu verbinden und so den Transport von Rohstoffen in die Metropolen zu erleichtern.
Tiefgreifende Reformen müssen der räuberischen Ausbeutung ein Ende setzen, damit die Rohstoffe nicht länger einen Fluch darstellen, sondern der Bevölkerung Glück und Wohlstand bescheren.
Die jungen Afrikaner:innen, die täglich zusehen müssen, wie Tausende von Containern mit diesen Reichtümern den Kontinent in Richtung ferner Ziele (Europa, USA, Kanada, China…) verlassen, fordern tiefgreifende Reformen. Diese müssen der räuberischen Ausbeutung ein Ende setzen, damit die Rohstoffe nicht länger einen Fluch darstellen, sondern der Bevölkerung Glück und Wohlstand bescheren. Insbesondere müssen die Gewinne aus den strategischen Reserven an Transitionsmineralien zugunsten der Abbauländer maximiert werden, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und die sozialen und ökologischen Auswirkungen des Bergbaus zu verringern.
Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen
Es ist deswegen höchste Zeit, die verschiedenen internationalen Massnahmen umzusetzen, die in den Schubladen der Vereinten Nationen schlummern, wie die Leitprinzipien der UNO für Wirtschaft und Menschenrechte, die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und die Leitlinien der Expert:innengruppe des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu Mineralien, die für die Energiewende unerlässlich sind.
Wenn die Energiewende gerecht und fair sein soll, muss das Verursacherprinzip und nicht das Verschmutzerprinzip angewandt werden.
Engagements wie die Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz sind dringend zu unterstützen. Der Erfolg solcher Initiativen hängt auch von ausreichender Sensibilisierung der Bevölkerung über die menschlichen Dramen und Umweltschäden, die im Bergbausektor in Afrika verursacht werden, ab. Solche Initiativen unterstützen die Zivilgesellschaft in den afrikanischen Ländern, die sich Tag und Nacht für die Stärkung der sozialen und ökologischen Verantwortung von Bergbauunternehmen einsetzt.
Beim Abschluss von Bergbauverträgen, die oft undurchsichtig sind und den lokalen Gemeinschaften unbekannt bleiben, befinden sich die Rohstoffmultis in einer Machtposition. Sie nutzen diese, um die Rechte der Bevölkerung und gute Geschäftspraktiken zu umgehen. Weder die Grundregeln der öffentlichen Gesundheit noch die Rechte der lokalen Bevölkerung werden berücksichtigt. So sind sie die Ursache für Luftverschmutzung und Wasservergiftung, welche Krankheiten verursachen, die der Bevölkerung oft unbekannt sind, Menschenleben kosten und die Krise der öffentlichen Gesundheit noch verschärfen.
Die afrikanische Bevölkerung wartet noch immer darauf, dass die Länder des Nordens die Rolle Afrikas anerkennen. Diese Rolle verdient Klimafinanzierung und Ausgleichszahlungen für die Anstrengungen, die von der Bevölkerung im Bereich des Umweltschutzes verlangt werden. Wenn die Energiewende gerecht und fair sein soll, muss das Verursacherprinzip und nicht das Verschmutzerprinzip angewandt werden.
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Umweltverantwortungsinitiative
Die planetaren Grenzen einhalten – ja, bitte!
24.01.2025, Klimagerechtigkeit
Am 9. Februar stimmt die Schweiz über eine Volksinitiative ab, mit der die Schweiz ihren ökologischen Fussabdruck reduzieren muss. Dies ist eine Voraussetzung, um die globale Ungleichheit zu verringern und gemeinsam unseren Planeten zu schützen. Alliance Sud sagt «Ja» zur Umweltverantwortungsinitiative.
© Allianz für Umweltverantwortung
Der Schutz der Erde ist im Interesse aller Menschen, solange kein Umzug auf einen Ersatzplaneten möglich ist. Der schwedische Forscher Johan Rockström erklärte zusammen mit der BBC-Naturlegende David Attenborough vor einigen Jahren in einem Dokumentarfilm, was die Menschheit tun muss, um die Lebensgrundlagen aller zu schützen: Sie muss die «planetaren Grenzen» einhalten. Dieses Konzept zeigt auf, wo die Überbelastung der Natur richtig gefährlich wird, weil das Risiko für Kipppunkte steigt. Kippt das Ökosystem, lässt sich der Verlust der Lebensgrundlagen nicht mehr rückgängig machen. Der starke Verlust der Biodiversität sowie die zu hohen Treibhausgasemissionen zählen zu den Bereichen mit dem dringendsten Handlungsbedarf. Im Pariser Klimaabkommen etwa wurde das Ziel der maximalen Erderwärmung aus diesem Grund auf 1,5 Grad gelegt. Darüber geht die Menschheit ein hohes Risiko für unumkehrbare Schäden ein.
Die Volksinitiative ist eine Antwort darauf, dass Bundesrat und Parlament die Ressourcenfrage nicht ernsthaft diskutieren wollen.
Die Umweltverantwortungsinitiative verlangt, dass die Schweiz ihren Ressourcenverbrauch innert zehn Jahren auf ein Niveau senkt, das ihrem Anteil an der Weltbevölkerung entsprechend nur einen Planeten braucht. Sie berücksichtigt damit, dass es noch viele andere Menschen auf der Erde gibt, die eine lebenswerte Zukunft haben wollen und ein Recht dazu haben. Die UNO-Staatengemeinschaft hat sich mit der «Agenda 2030» zum Ziel gesetzt, dass bis 2030 kein Mensch mehr in Armut leben muss. Armutsbetroffene verbrauchen heute sehr wenig Ressourcen, vor allem im Globalen Süden, aber brauchen künftig etwas mehr davon, um ein Leben ausserhalb von Armut zu führen. Deshalb ist es notwendig, dass die reichen Konsumgesellschaften ihren Ressourcenverbrauch stärker reduzieren als der Weltdurchschnitt. Die Volksinitiative ist eine Antwort darauf, dass Bundesrat und Parlament die Ressourcenfrage nicht ernsthaft diskutieren wollen, obwohl ein «weiter wie bisher» die planetaren Grenzen sprengt.
Mehr Informationen:
Streaming-Tipp: «Breaking Boundaries: The Science of our Planet», 2021, mit Johan Rockström und David Attenborough, verfügbar auf Netflix.
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Credit Suisse-PUK
Eine PUK allein ist nicht genug
20.12.2024, Finanzen und Steuern
Die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) hat einen guten Bericht zum Ende der Credit Suisse vorgelegt. Doch dass dieser ein grundlegendes Umdenken in der Schweizer Finanzplatzpolitik auslösen wird, muss leider bezweifelt werden.
Franziska Ryser (GRÜNE Schweiz / SG), Vizepräsidentin der PUK, spricht an der Medienkonferenz zum Untergang der Credit Suisse. Die PUK fand klare Worte zu den Verfehlungen von Regierung, Behörden und der Grossbank selbst.
© Keystone / Peter Klaunzer
Es ist mittlerweile ein ungeschriebenes Gesetz in Bundesbern: Die brisantesten News werden gerne entweder direkt ins Sommerloch geworfen oder dann hinter dem Christbaum versteckt. So teilte der Bundesrat vor einem Jahr am Freitag vor den Weihnachtsferien mit, wie er die OECD-Mindeststeuer auf den 1. Januar 2024 genau einführen will. Dieses Jahr präsentierte er am letzten Arbeitstag vor den Sommerferien seinen schwer umstrittenen Vorschlag für das Sparbudget 2025. Heute Morgen schliesslich präsentierte die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) zum Ende der Credit Suisse (die erste PUK seit 33 Jahren!) ihren Abschlussbericht und der Bundesrat ein paar Stunden später die Einigung mit der EU bei den Bilateralen III. Dazu kamen am vergangenen Mittwoch – zwei Tage vor Ende der Wintersession – noch die skandalösen finanzplatzpolitischen Entscheide von National- und Ständerat zum regulatorischen Umgang mit zwielichtigen Offshore-Anwälten (Lockerungen der Russland-Sanktionen) und Briefkastenfirmen (Register für wirtschaftlich Berechtigte von Firmen). Versuchen die massgebenden Terminplaner:innen im Bundeshaus vielleicht, politischen Zunder wenn immer möglich im Badiwasser oder im Festtagsalkohol aufzulösen? Beim Budget 2025 hat das sicher nicht funktioniert, bis vorgestern wurde im Parlament darüber heftig gestritten.
Das CS-Eigenkapital reichte nicht
Auch der PUK-Bericht zur Credit Suisse (CS) hat es in sich, und so dürfen wir zumindest hoffen, dass sich auch im neuen Jahr noch einige an ihn erinnern (in der Frühlingssession diskutieren ihn National- und Ständerat dann sowieso). Etwa zur Frage, inwiefern mangelndes Eigenkapital mit ein Grund für das Ende der CS war. Finanzministerin Karin Keller-Sutter hatte in den verrückten Begräbnistagen der CS im März 2023 stets betont, die Eigenkapitaldecke der Grossbank sei ausreichend gewesen. Nicht daran sei die Bank gescheitert, sondern an mangelnder Liquidität, womit sie auf das seit Oktober 2022 erodierende Kundenvertrauen und die damit einhergehenden massiven Kapitalabflüsse und einen Totalabsturz des Aktienkurses nicht mehr reagieren konnte. Die politischen Protektor:innen der Grossbanken (KKS inkl.) reduzierten das ganze Debakel somit auf den Tweet eines australischen Journalisten, der damals schrieb, eine global systemrelevante Bank stünde gerade am Abgrund. Die PUK bestätigt nun, was viele Kritiker:innen der aktuellen «Too-big-to-fail»-Regulierungen für Grossbanken (TBTF) schon lange sagen: Das zu niedrige Eigenkapital der CS spielte sehr wohl eine Rolle. Weil umso höher das Eigenkapital, desto weniger schnell ziehen Kunden und Anleger:innen ihr Geld aus einer Bank ab, wenn sie schlechte Schlagzeilen macht.
Nach der Finanzkrise von 2008/2009 und der staatlichen UBS-Rettung wurden die Eigenkapitalanforderungen der Grossbanken erhöht (wenn auch nicht genug hoch und nicht genug konsequent). Bis zu ihrem Ende schaffte es die CS allerdings sukzessive, ihre Eigenkapitalquote de facto wieder unter das regulatorische Minimum zu senken. Wie die PUK zeigt, half ihr dabei ab 2017 ein buchhalterischer Trick namens «Regulatorischer Filter», der diese Quote «künstlich» hoch hielt. Dieser wurde ihr von der Finanzmarktaufsicht FINMA 2017 grosszügig und offenbar gegen den Widerstand der Nationalbank gewährt. Die PUK schreibt dazu auf Seite 7 ihres Berichts: «Der Filter erlaubte es der CS AG, den Anschein genügender Kapitalisierung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.
Skandalimmunes Bundesbern
Dem wenigen Eigenkapital der CS stehen die zahlreichen Skandale gegenüber, die die Bank in den 2010er Jahren produzierte und die ihren stetigen Reputations- und Vertrauensverlust beförderten. Neben jenen Skandalen, die vor allem auf Kosten der CS-Aktionär:innen gingen (Greensill und Archegos 2021), erwähnt die PUK auch jenen in Mosambik: Dem dortigen Staat gab die CS einen Milliarden-Kredit, der vermeintlich in die Fischfanginfrastruktur hätte investiert werden sollen. Stattdessen wurde das Geld von einer korrupten Elite in die eigene Tasche gesteckt, die CS hatte ihre Aufsichtspflichten krass verletzt. Das Land meldete 2016 deswegen Staatsbankrott an, eine Million Menschen fielen in absolute Armut.
Auch erwähnt sind die «Suisse Secrets» (S. 530): In diesem Datenleak, das der Guardian im Februar 2022 publizierte, ist von 18'000 CS-Konten u. a. von Autokraten und Kriegsverbrechern die Rede. Auch dieser Skandal wirkte sicher nicht «vertrauensbildend»: Hier konnte die CS auf die gütige Mithilfe von Schweizer Offshore-Anwält:innen zählen, die immer dann ins Spiel kommen, wenn es um zwielichtige Geschäfte geht, die Banken nicht an ihren Sorgfaltspflichten vorbeischleusen können. Diese gelten nämlich für Anwält:innen von Kund:innen nicht, die diese bei ihren Anlagestrategien nur beraten. Womit wir wieder beim letzten Mittwoch wären: Im Rahmen der Beratung zum sogenannten «Gesetz über die Transparenz juristischer Personen» sorgte der Ständerat dafür, dass nicht mehr Licht in deren Dunkel kommt. Gleichentags lockerte der Nationalrat die Sanktionierung von Anwaltsgeschäften mit russischen Oligarchen und ihren Firmen. Dass ein Parlament, das nicht einmal in den dreckigsten Ecken des hiesigen Finanzplatzes putzt, im Frühling entschlossen die Lehren aus dem PUK-Bericht zieht und ergo die neue XXL-UBS so reguliert, dass die mannigfaltigen Risiken für die Schweizer Volkswirtschaft auf ein erträgliches Mass reduziert werden, muss leider bezweifelt werden – ein guter, dicker PUK-Bericht hin oder her.
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Kommentar zur COP29 in Baku
Ein Armutszeugnis für die reiche Schweiz
29.11.2024, Klimagerechtigkeit
Nach der Klimakonferenz COP29 in Baku herrscht Fassungslosigkeit bei der internationalen Zivilgesellschaft und den ärmsten Ländern des Globalen Südens ob der brutalen Absage des Globalen Nordens an die Klimagerechtigkeit. Doch die Klimakrise läuft weiter und die Debatte zur Umsetzung in der Schweiz fängt erst an.
Teilnehmende aus dem Globalen Süden protestierten an der COP29 angesichts der ungenügenden Klimafinanzierung, andere waren schlicht entsetzt über die Verhinderungshaltung von Ländern wie der Schweiz. © Keystone / AP Photo / Rafiq Maqbool
Zwei Wochen lang kämpften die Länder des Globalen Südens in Baku um ein neues Klimafinanzierungsziel, das die Kosten aufgrund der Klimakrise gerecht verteilen und eine angemessene finanzielle Unterstützung aus dem Globalen Norden sichern würde. Sie bissen aber bei den reichen Ländern auf Granit. Die Konferenz befand sich bereits in der Überzeit, als die Vertreter:innen aus den ärmsten Ländern und aus den kleinen Inselstaaten ihre Verzweiflung und Wut über die ungenügende Bereitschaft aus dem Globalen Norden für höhere finanzielle Beiträge zum Ausdruck brachten. Sind sie doch durch den Anstieg des Meeresspiegels und weitere verheerende Auswirkungen der Klimaerwärmung bereits existenzieller Bedrohung ausgesetzt. Einige Stunden später waren sie gezwungen, einen kaum besseren Vorschlag anzunehmen, wollten sie irgendeinen Abschluss der Konferenz zur Klimafinanzierung haben.
Die Ausgangslage der COP29 war schlicht eine riesige, ungedeckte Finanzierungslücke im Globalen Süden, um angemessene nationale Beiträge zur Erreichung des 1,5 Grad-Ziels und nationale Anpassungspläne umzusetzen sowie für klimabedingte Schäden und Verluste aufkommen zu können. Ebenfalls gibt es Hindernisse beim Zugang zur bereits bestehenden Klimafinanzierung. Alliance Sud hatte ein Finanzierungsziel von 1000 Milliarden Dollar jährlich gefordert.
Globaler Süden macht Druck
Zahlreiche Studien bestätigen, dass insbesondere für Anpassung sowie insgesamt in den ärmsten Ländern und kleinen Inselstaaten die Lücke nicht mit privaten Investitionen geschlossen werden kann. Denn die Investor:innen kommen nicht, und bereits hoch verschuldete Länder können sich privates Kapital zum entsprechenden Preis gar nicht leisten. Entsprechend wurde von Seiten des Globalen Südens sowie der Zivilgesellschaft Druck aufgebaut, um eine Vervielfachung der öffentlichen Mittel in der Form von Zuschüssen («Grants») sowie stark vergünstigter Kredite im neuen Klimafinanzierungsziel zu erreichen.
Im Gegensatz dazu wurde die Positionierung der bisherigen Geberstaaten von der Zivilgesellschaft als höchst unfair wahrgenommen, da die Geberstaaten keinerlei Angebote zur Erhöhung ihrer eigenen Beiträge an die Klimafinanzierung bereithielten. Dies obwohl sie gemäss Pariser Abkommen klar im Lead und in der Verantwortung stehen. Unter diesem Eindruck ist auch die grosse Skepsis von weiten Teilen der Zivilgesellschaft gegenüber einer Erweiterung der Geberbasis zu verstehen, weil dies vor allem als Ablenkung der Industriestaaten von ihrer Verantwortung interpretiert wurde.
Schweiz schwächt Multilateralismus
Alliance Sud hat die Schweizer Forderung nach dem Einbezug neuer Geberstaaten mitgetragen, aber stets darauf aufmerksam gemacht, dass dies mit einer Erhöhung der eigenen Beiträge verbunden sein muss. Gewisse Aussagen der Schweiz in den Medien während und nach der COP haben aber leider genau das bestätigt, was die Länder im Globalen Süden bereits vermuteten: dass die Industrieländer sich mit dem Argument der Geberbasis vor ihrer eigenen Verantwortung drücken wollen. Mit diesem Verhalten schwächt die Schweiz letztlich den Multilateralismus, von dem sie als kleiner Staat selbst abhängig ist.
Die Schweiz steht nun vor der Aufgabe, das neue Klimafinanzierungsziel umzusetzen und ihren fairen Anteil an den Kosten, die durch die Klimakrise insbesondere in den ärmsten Ländern im Globalen Süden anfallen, zu tragen – dies im ureigenen Interesse. Damit werden weitere Schäden verhindert, Menschenleben gerettet und zusätzliche Fluchtgründe vermieden. Und nur mit einer massiven Aufstockung der Klimafinanzierung gelingt die Transition auf der ganzen Welt, für die sich die Schweiz international einsetzt.
Weitere Artikel zur UN-Klimakonferenz COP29 in Baku
Zu den Resultaten der COP29 siehe auch hier.
Lesen Sie ausserdem den Kommentar von Andreas Missbach zu den bundesrätlichen Absagen gegenüber dem Globalen Süden an der COP29 und erfahren Sie mehr über die Auslandkompensationen der Schweizer Klimapolitik in der Recherche von Delia Berner. Diese zeigt, dass beim Projekt in Ghana grosse Probleme bestehen.
Delia Berner vertrat Alliance Sud an der COP29 in der Schweizer Delegation. Dieser Kommentar wurde im eigenen Namen und nicht im Namen der Delegation verfasst.
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Bundesrat an der COP29
Das Haus der Grossmutter und der Käse von Rösti
29.11.2024, Klimagerechtigkeit
Die UN-Klimakonferenz COP29 ist zu Ende, derweil zerstört die Klimakrise die Lebensgrundlage von Millionen Menschen. Während Delegierte aus dem Globalen Süden die ungenügende Klimafinanzierung kritisieren, schiebt Bundesrat Albert Rösti mit Verweis auf Budgetrestriktionen und die Mobilisierung privater Mittel die Verantwortung der Schweiz von sich. Dies sei ein Affront, schreibt Andreas Missbach.
Vom Hurrikan Beryl entwurzelte Palmen in St. Patrick, Grenada, im Juli 2024. In der ganzen Karibik wurden Häuser und ganze Landstriche zerstört. © Keystone / AP Photo / Haron Forteau
Am 17. Juli 2024 steht Simon Stiell auf seiner Heimatinsel Carriacou in einem beschädigten Haus und sagt: «Ich stehe heute im Wohnzimmer meines Nachbarn. Das Haus meiner Grossmutter die Strasse weiter unten wurde völlig zerstört.» Das war das Werk des Hurrikans Beryl, der über Grenada und viele weitere Länder zog. Er fährt fort: «Wenn man hier steht, ist es unmöglich, nicht zu erkennen, wie wichtig die Klimafinanzierung und der finanzielle Ausgleich für Verluste und Schäden sind: Wir müssen massiv in den Aufbau von Resilienz investieren, vor allem für die am meisten gefährdeten Menschen.»
Simon Stiell ist Generalsekretär der Klimarahmenkonvention der UNO und als solcher verantwortlich für die 29. Vertragsstaatenkonferenz dieser Konvention in Baku. Am 22. November 2024 steht dort Albert Rösti vor einer Fernsehkamera und sagt: «Wir haben Budgetrestriktionen, wir haben ein Sparprogramm …». Was in Bern falsch ist, ist in Baku ein Affront. Ein Affront gegenüber Menschen in Ländern wie Grenada, und es ist ein Affront gegenüber den Delegierten aus dem Globalen Süden. Nach einer aktuellen Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung werden diese Länder als Folge der bereits von den Industrieländern verursachten Emissionen im Jahr 2049 eine 20 bis 30 Prozent geringere Wirtschaftsleistung haben als ohne Klimawandel.
Die offizielle Schweiz hingegen hat trotz rekordtiefer Schuldenquote «Budgetrestriktionen». Sie gehörte laut dem britischen «Guardian» zusammen mit Japan und Neuseeland in der zweitletzten Verhandlungsnacht zu den Ländern, die sich gegen die Erhöhung von sehr mickrigen 250 Milliarden auf mickrige 300 Milliarden Dollar Klimafinanzierung bis 2035 wehrten.
Delegierte aus dem Globalen Süden protestierten auch dann noch, nachdem dieser Entscheid durchgehämmert worden war. Im wörtlichen Sinne, denn der kleine Holzhammer des Vorsitzenden entscheidet mit den Worten «It’s so decided», wann «Konsens» herrscht. Chandni Raina, eine indische Delegierte, bezeichnete die 300-Milliarden-Dollar-Zusage als «inszeniert» und nannte die Schlusserklärung der Konferenz «kaum mehr als eine optische Täuschung». Nikura Maduekwe aus Nigeria doppelte nach: «Das ist ein Witz.»
Ein ganz schlechter Witz war auch, was Bundesrat Rösti vor der Fernsehkamera auch noch sagte: «Wir können das realisieren, indem beispielsweise auch Private beitragen.» Selbst Larry Summers, als früherer Weltbank-Chefökonom, Wirtschaftsberater der US-Regierung und Vize-Finanzminister gewissermassen die Verkörperung des «Washington Consensus», nennt die «Mobilisierung privater Ressourcen» inzwischen ein «Geschwätz» von Leuten, die ohne Geld «sehr staatsmännisch erscheinen wollen oder auf sehr substantielle Subventionen aus sind».
Und Simon Stiell, der musste natürlich als oberster UNO-Verantwortlicher am 25. November 2024 den Entscheid der COP29 schönreden, aber er legte nach: «Es ist keine Zeit für Siegesreden.»
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Kommentar
IZA im Parlament: Wechselbad im Whirlpool
23.09.2024, Entwicklungsfinanzierung
Seit der Sommersession sind die Parlamentsdebatten um die Strategie der internationalen Zusammenarbeit (IZA) und die Armeebotschaft eng verknüpft und sorgen für einen wirren Zahlensalat. Was ist genau passiert? – Ein Beitrag von Andreas Missbach
Abbildung der Sitzungordnung im Nationalrat. Herbstession 2024. © Keystone / Peter Schneider
Normalerweise handelt es sich um ein Routinegeschäft, jetzt hingegen herrscht Schwindelgefahr. Der Reihe nach: Alle vier Jahre entscheidet das Parlament über die Strategie der internationalen Zusammenarbeit, die der Bundesrat vorschlägt. Bei der IZA-Strategie 2025 – 2028 ist alles anders. Schuld daran ist, dass gleichzeitig auch die Armeebotschaft 2024 verhandelt wird. Und was nach zwei ganz unterschiedlichen Geschäften aussehen könnte, wurde in der Sommersession vom Ständerat verknüpft. Er nahm einen Einzelantrag an, der das Armeebudget um 4 Milliarden Franken erhöhen will. Für die Finanzierung will sich der Ständerat beim Budget der internationalen Zusammenarbeit bedienen und dort 2 Milliarden abzuzweigen.
Damit sind nun die beiden Geschäfte IZA und Armee aufs engste verhängt. Das bedeutet, dass 2 Räte, 2 Sub-Kommissionen und 6 Kommissionen sich simultan damit beschäftigen. Und als Kirsche auf dem Chaos-Kuchen kommen noch die Verhandlungen über das Budget 2025 obendrauf, wo ebenfalls über die Armee und die internationale Zusammenarbeit gefeilscht wird. Entsprechend sind natürlich auch die Argumente fröhlich verquirlt. So wird etwa behauptet, dass die Armee auf Kosten der Entwicklungszusammenarbeit ausgeblutet worden sei. Faktencheck: Von 2015 – 2023 wuchsen die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit mit 1,7% deutlich geringer als die ordentlichen Bundesausgaben (2,6%), die Ausgaben für die Armee hingegen mit 3,9% deutlich stärker.
Zwischenstand gegen Ende der Herbstsession
Am 11. September korrigierte der Ständerat bei der Behandlung der IZA-Strategie 2025 – 2028 den Entscheid, den er in der Sommersommersession bei der Diskussion der Armeebotschaft gefällt hatte. Ein Antrag, der die 2 Milliarden Kürzung wieder ins Spiel gebracht hätte, wurde sehr deutlich mit 31 zu 13 Stimmen abgelehnt. Dem Antragssteller aus der FDP fehlte sogar die geschlossene Unterstützung aus seinen eigenen Reihen. Ebenso abgelehnt wurde mit 28 Ja-Stimmen eine Kürzung um 800 Millionen Franken. In der Debatte wurde der frühere Entscheid als «Hüftschuss» bezeichnet. Das Aufatmen von der Monbijoustrasse, wo sich das Büro von Alliance Sud befindet, in Richtung Bundeshaus war deutlich zu vernehmen.
Die Erleichterung hielt nicht lange an, am 19. September entschied der Nationalrat in die Gegenrichtung. Er möchte die zusätzlichen 4 Milliarden für die Armee, die in beiden Räten eine Mehrheit fanden, mit «Kompensationsmassnahmen» –sprich Kürzungen – in vier Bereichen umsetzen, darunter auch bei der internationalen Zusammenarbeit. Ohne allerdings ein Preisschild daran zu hängen und zu sagen, wie viel jede Massnahme bringen soll. Nur zwei Tage später setzte der Bundesrat noch eins drauf. Er möchte in Widerspruch zu seiner eigenen IZA-Strategie im Rahmen des «Entlastungspakets für den Bundeshaushalt» 2027 und 2028 insgesamt 274 Millionen Franken bei der IZA abzwacken. Damit wird Sachpolitik ganz der Finanzpolitik unterstellt.
Ausblick auf den grossen Bazar
Wie geht es weiter: Zwischen den Sessionen werden sich verschiedene Kommissionen über die verhängten Geschäfte beugen. Dass der Vorschlag mit den vier Kürzungsmassnahmen zur Armeefinanzierung des Nationalrates bis zum Schluss überlebt, ist wenig wahrscheinlich und es dürften neue Vorschläge kommen, wo die Millionen und Milliarden zu finden sind. In der Wintersession kommt es dann bei der Armeebotschaft 2024 zur Differenzbereinigung zwischen National- und Ständerat. Die IZA-Strategie 2025 –2028 kommt zum ersten Mal in den Nationalrat und dann gibt es höchstwahrscheinlich auch gleich in derselben Session eine Differenzbereinigung, die natürlich mit der anderen kommuniziert: Der grosse Bazar. Ach ja, die Budget-Kirsche kommt auch noch oben drauf.
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Global, Meinung
Militärcoup im Ständerat bedroht menschliche Sicherheit
21.06.2024, Entwicklungsfinanzierung
Wir sind ein wenig erschrocken bei der genauen Lektüre der IZA-Botschaft 2025 – 2028, als wir über ein Detail gestolpert sind. Der grosse Schock kam dann aber Anfangs Juni, als die IZA auch im Rahmen der Armeebotschaft im Ständerat ins Visier geriet
© Parlamentsdienste / Franca Pedrazzetti
Es war ja bekannt, dass die Landesregierung die Unterstützung der Ukraine vollständig auf Kosten des Globalen Südens finanzieren will, die Ursache des leichten Schreckens bei der Lektüre der IZA-Botschaft, war deshalb nur ein vielsagendes Detail. Zum Rückgang der APD-Quote (auch das wussten wir leider schon) schrieb er in der deutschen Version: «Dies ist darauf zurückzuführen, dass das BNE [Red: das Bruttonationaleinkommen, d. h. die Wirtschaft] aufgrund der finanziellen Massnahmen im Zusammenhang mit der Schuldenbremse stärker gewachsen ist als die der IZA zugewiesenen Mittel.» Waaas? Kann es sein, dass die ganze Welt, die es sich leisten kann, bei Finanzkrisen und Epidemien Schulden macht, um die Wirtschaft anzukurbeln, und man in Bundesbern denkt, die Reduktion der Staatschulden durch die Schuldenbremse würde zu Wirtschaftswachstum führen? Aber dann kam die Entwarnung, es war nur ein Übersetzungsfehler aus der französischen Version.
Sehr fest erschrocken sind wir dann am 3. Juni, als wir die Ständeratsdebatte verfolgten. Zuerst wurde ein Antrag abgelehnt, der die von der bürgerlichen Männermehrheit (es sind grösstenteils Männer) unbedingt gewollte Erhöhung der Armeeausgaben bis 2030 wenigstens ausserordentlich und kombiniert mit der ausserordentlichen Finanzierung der Ukraine-Hilfe gebracht hätte. Aber gleich danach beschloss diese Mehrheit, das Armeebudget für den Waffeneinkauf um vier Milliarden zu erhöhen und dafür im Gegenzug die Entwicklungszusammenarbeit um zwei Milliarden zu kürzen. Ein Frontalangriff auf die IZA! (Ein ärgerliches Detail an der auf diese Art und in diesem Ausmass einmaligen Verknüpfung zwischen Armee und internationaler Zusammenarbeit ist, dass einem ständig militärische Metaphern einfallen…)
Dies, obwohl selbst das neu geschaffene Staatssekretariat für Sicherheitspolitik sagt: «Eine direkte militärische Bedrohung durch einen Angriff auf die Schweiz zu Land oder aus der Luft ist kurz- und mittelfristig unwahrscheinlich.» Hingegen hätten sich die Bedrohungen etwa durch Cyberangriffe verschärft. Vergessen oder nie zur Kenntnis genommen worden ist, was der Bundesrat im sicherheitspolitischen Bericht schreibt: «Sie [die Aussenpolitik] trägt zur Stärkung internationaler Sicherheit und Stabilität bei, indem sie gute Dienste anbietet, Beiträge zur Friedensförderung leistet, sich für Völkerrecht, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzt, die Ursachen von Instabilität und Konflikten mit der Entwicklungszusammenarbeit bekämpft und mit humanitärer Hilfe zur Linderung der Not der Zivilbevölkerung beiträgt.» Dass sogar der Begriff der menschlichen Sicherheit bei der Ständeratsmehrheit angekommen wäre, ist hingegen wirklich zu viel verlangt.
Doch noch ist die Schlacht um die Rettung der IZA nicht verloren, der Gegenangriff läuft und wir kapitulieren nicht! Bitte entschuldigen Sie die militärischen Metaphern.
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Hinter den Schlagzeilen
Das vermeintliche Paradies
28.06.2024, Weitere Themen
Türkisfarbenes, kristallklares Wasser, weisser Sand und Palmen, keine Sandflöhe, dafür Stachel-, Adlerrochen und Ammenhaie, die elegant durchs Wasser gleiten: Cayo Albuquerque ist wunderschön, aber auch ein Umschlagplatz für Menschen und Kokain.
Auf zwei winzigen Inseln vor Nicaraguas Küste tummeln sich neben Fischern auch Küstenwache, kolumbianische Soldaten und Menschen auf der Flucht in den Norden. © Karin Wenger
Die Reise von Panama in die Bahamas dauert mit dem Segelboot ungefähr zehn Tage. Für uns ist sie nach 18 Stunden bereits zu Ende. Mitten in der Nacht, bei rauer See, entdecken wir, dass Meerwasser ins Boot eindringt. Wir müssen notankern, um das Leck zu finden und zu beheben. Das nächste Land liegt fast so weit weg wie Panama. Es ist ein winziges Atoll mit zwei Inseln und heisst Cayo Albuquerque. Auf den ersten Blick ein Paradies. Das Atoll ist kolumbianisches Staatsgebiet, obwohl es viel näher an Nicaragua als an Kolumbien liegt. Es gibt hier zwei Inseln, die so klein sind, dass man sie in zehn Minuten umrundet hat. Auf der einen Insel wohnen kolumbianische Soldaten. Sie kommen vom Festland, sind jung und manche sehen zum ersten Mal das Meer. Ihre Aufgabe ist es zu verhindern, dass Nicaraguaner:innen die Inseln erobern und dass die Inseln nicht zum Umschlagplatz für Menschen und Kokain werden. Bloss: Die Soldaten haben zwar Internet, Strom und Funk, aber kein Boot. Sie sind sozusagen Gefangene auf ihrer eigenen Insel. Vor der zweiten Insel liegen die kleinen Boote der Fischer. Diese kommen von der nahe gelegenen und grösseren Insel San Andrés und bleiben so lange im Atoll, bis sie mit genügend Thunfisch, Barracudas, Makrelen und Lobster zurückfahren können. Auf ihrer Insel gibt es weder Strom noch Wasser, doch Boote mit denen manche nicht nur Fisch transportieren.
Als wir zwischen den zwei Inseln Anker werfen, sind wir erschöpft und erleichtert. Wir haben es geschafft, sind nicht untergangen. Bald finden wir das Leck zwischen Anker- und Segelkasten und Kabine und flicken es. Doch dann sehen wir ein nächstes Problem: Das Wellenlager ist lose. Das Boot muss aus dem Wasser, den Motor sollten wir nicht mehr gebrauchen. Wir müssen zurück nach Panama segeln – bloss, Wind gibt es keinen, drei Wochen lang nicht. So liegen wir hier vor Anker und merken bald, dass dieser unbekannte Fleck Erde für uns ein Paradies sein mag, für andere ist er eine Zwischen¬station auf einem Höllenritt.
Frauen mit Kindern, Alte und Junge. Sie hatten nicht mehr dabei als die Kleider, die sie trugen. Natürlich haben wir geteilt.
Brinell Archbold, Fischer
«Hier und hier und hier sassen sie und warteten. Frauen mit Kindern, Alte und Junge. Sie hatten nicht mehr dabei als die Kleider, die sie trugen. Sie bettelten um Wasser und Nahrung. Natürlich haben wir geteilt», erzählt Brinell Archbold, einer der Fischer. Er zeigt auf das Palmenwäldchen, in dem leere Dosen und anderer Müll zwischen Gestrüpp liegt. Sie, das sind Flüchtlinge auf dem Weg in den Norden, Ziel: USA. Die meisten kommen aus Venezuela. Fast acht Millionen Venezolaner:innen haben seit 2014 auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Land verlassen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der UNO ist es der grösste Exodus in Südamerikas jüngster Geschichte und eine der schlimmsten Flüchtlingskrisen der Welt (siehe dazu global #90). Um den gefährlichen Darién-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama zu umgehen und Panama und Costa Rica zu überspringen, fliegen sie vom kolumbianischen Festland auf die Insel San Andrés. Hier werden sie von Fischern abgeholt und zum Cayo Albuquerque gebracht und dann von Nicaraguaner:innen weiter Richtung Norden transportiert. «Manche Schlepper versprechen den Flüchtlingen, dass sie sie nach Mexiko oder in die Bahamas bringen, doch dann transportieren sie sie nach Albuquerque, um Sprit zu sparen und lassen sie hier gestrandet zurück», sagt Daniel Acosta von der Küstenwache, als diese eines Tages im Atoll erscheint, um unser Boot zu durchsuchen. Später besuchen die Männer auch die Fischerinsel, finden illegale Nicaraguaner:innen, aber lassen sie ziehen. Ein Boot voller Kokain scheint sie mehr zu interessieren als eines mit Flüchtlingen. Es verstreichen nur wenige Tage und sie finden, wenige Meilen von Albuquerque entfernt, was sie suchen: ein schnelles, kleines Boot mit 3,3 Tonnen Kokain.
Ich weiss, was es bedeutet, auf der Flucht zu
sein. Ich bin selbst vor FARC und
Paramilitärs geflohen.Lokaler Fischer auf Cayo Albuquerque
«Ich weiss, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Ich bin selbst vor der FARC und den Paramilitärs geflohen», erzählt ein alter Fischer, mit dem ich einen Tag lang auf seinem wackeligen Boot auf dem Meer fischen gehe. Der Fischer war vor dreissig Jahren selbst geflohen, als die FARC und die Paramilitärs Dutzende von Männern in seinem Dorf im Hochland umgebracht hatten. Seither arbeitet er als Fischer, obwohl er nicht schwimmen kann. Überfischung habe die Fischbestände und sein Einkommen reduziert. «Früher haben wir in einem Tag so viel gefangen wie heute in einer Woche.» Deshalb suchte er nach einem Zusatzeinkommen und wurde Schlepper. Für einen Flüchtlingstransport von San Andrés nach Albuquerque bekam er 400 US-Dollar von den Auftraggebern. Mehrere Male ging alles gut; dann, als er 14 Venezolaner an Bord seines kleinen Bootes hatte, fiel der Motor aus und sprang nicht mehr an. «Wir hatten kein Essen und wenig Wasser dabei. Ich sagte: ‘Die Kinder haben Priorität, sie bekommen ein halbes Glas Wasser am Tag, wir Erwachsenen eine Verschlusskappe voll, um den Mund zu netzen.’» Fünf Tage trieben sie so dahin. Am Ende rettete sie die Strömung, die sie direkt auf die Küste Nicaraguas zutrieb. Dort verschwanden die Flüchtlinge und suchten sich ihren eigenen Weg. Andere haben weniger Glück. Im Oktober 2023 verschwand ein Flüchtlingsboot auf dem Weg von San Andrés nach Nicaragua. Von den 35 Venezolaner:innen fehlt bis heute jede Spur. Nachdem der Fischer in Nicaragua an den Strand gespült worden war, wurde er nach San Andrés zurückgebracht. Seither transportiert er keine Flüchtlinge mehr.
Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.
Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
© Karin Wenger
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global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Gastkommentar
Die Mär von der fehlenden Wirksamkeit
19.06.2024, Internationale Zusammenarbeit
Immer wieder wird die Wirksamkeit von Entwicklungsprojekten in Zweifel gezogen. Ein Blick in den neuen Rechenschaftsbericht von DEZA, Seco und der Abteilung Frieden und Menschenrechte räumt die Zweifel rasch aus: Die evaluierten Massnahmen weisen insgesamt eine Erfolgsquote von 80 Prozent aus. Angesichts der krisenhaften Weltlage und anspruchsvollen Situation in vielen Schwerpunktländern ein überaus sehenswertes Resultat. Patrik Berlinger und Bernd Steimann
In der Sommersession wurde die internationale Zusammenarbeit massiv bedrängt, oft mit selektiven Zahlen und kurzsichtigen Argumentationen, z.B. von SVP-Ständerat Werner Salzmann.
© KEYSTONE / Alessandro della Valle
Gastkommentar von Patrik Berlinger, Verantwortlicher politische Kommunikation und Bernd Steimann, Koordination Entwicklungspolitik bei Helvetas
Als der Ständerat am 3. Juni 2024 kurzerhand beschloss, bei der Internationalen Zusammenarbeit 2025-2028 (IZA) zwei von elf Milliarden Franken einzusparen, um das Armeebudget zu erhöhen, wurde von bürgerlicher Seite das Argument kolportiert, fast die Hälfte der Schweizer Entwicklungsprojekte sei unwirksam. Benjamin Mühlemann von der FDP meinte dazu salopp: «Es laufen bestimmt wichtige Projekte, aber es laufen auch solche, die man an Effektivität kritisch hinterfragen darf.»
Der aktuelle Rechenschaftsbericht des Bundes zur IZA-Strategie 2021-2024 beinhaltet zahlreiche Zahlen. Einzig diejenige herauszupicken, mit der sich Schlagzeilen machen lässt, ist Polemik. Ja, gemäss Bericht weisen lediglich 55% der DEZA- und Seco-Projekte eine «dauerhafte Wirkung» auf. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit – eigentlich sogar lediglich ein Sechstel der Wahrheit. Denn die Evaluator:innen messen Entwicklungsprojekte gemäss internationalen Standards nicht nur anhand ihrer «Nachhaltigkeit», sondern beurteilen noch fünf weitere Dimensionen. Dabei zeigt sich, dass erstens 86% der Projekte und Programme einen messbaren Unterschied machen («Impakt»), zweitens 85% aller untersuchten Interventionen ihre gesteckten Ziele erreichen («Effektivität») und drittens 97% der Massnahmen auf die Bedürfnisse und Prioritäten der Begünstigten, der Partnerorganisationen und des jeweiligen Landes abgestimmt sind («Relevanz»). Viertens liefern die Massnahmen in 73% aller Fälle auf wirtschaftliche und zeitnahe Weise Ergebnisse («Effizienz»), wobei fünftens die Projekte in 85% der Fälle gut mit anderen Interventionen in einem Land oder Sektor abgestimmt sind («Kohärenz»).
Auch wenn die Qualität der Evaluationen infolge heterogener und teils nicht vollständig transparenter Erhebungsmethoden in Frage gestellt werden darf, so liefern die Daten dennoch einen Anhaltspunkt für eine informierte Debatte. Zwar wird die IZA bereits heute im Vergleich zu anderen Bereichen wie Landwirtschaft, Bildung oder Armee am detailliertesten gemessen und öffentlich dokumentiert. Verbesserungspotenzial gibt es aber immer. Deshalb sollen das Monitoring und die Projektevaluation in drei Feldern ausgebaut werden: Verbesserung der Datenlage, Modernisierung der Datenverarbeitung dank Digitalisierung sowie bessere Abrufbarkeit und Kommunikation zu Entwicklungsresultaten.
Über alles gesehen eine gute Erfolgsquote von 80 Prozent
Bei sämtlichen Dimensionen ausser bei der «Nachhaltigkeit» liegt die Erfolgsquote also zwischen 73% und 97%. Insgesamt weist die Querschnittsauswertung von jährlich zwischen 80 und 100 externen Evaluationen von Projekten, Länderprogrammen und umfassenden thematischen Portfolios eine Erfolgsquote von 80 Prozent aus – unbestritten ein sehr akzeptabler Wert angesichts des herausfordernden Kontexts, in dem Entwicklungsprogramme, Friedensinterventionen und wirtschaftsfördernde Massnahmen durchgeführt werden.
Ohne Zweifel ist der tiefe Wert bei der «Nachhaltigkeit» unbefriedigend. Allerdings gibt es dafür eine Reihe Erklärungen: So fielen die untersuchten Interventionen in eine Phase, die geprägt war von Krisen und politischen Umbrüchen in zahlreichen Ländern wie Mali, Burkina Faso und Niger sowie Afghanistan, Sudan und Myanmar. Gleichzeitig haben zunehmende Klimaverwüstungen, die Covid-Pandemie und der Krieg in der Ukraine eine Polykrise ausgelöst: Sich überlappende Krisen liessen Lebenshaltungskosten, Ungleichheit und die Staatsschulden ansteigen. Und sie verschärften die Ernährungsunsicherheit, die Menschenrechtslage und unfreiwillige Wanderungsbewegungen in vielen Partnerländern.
Viele konkrete Erfolge dank der IZA
Trotz der krisenhaften Weltlage und der teils sehr anspruchsvollen Situation in vielen Schwerpunktländern hat die Schweizer IZA in den Jahren 2020-2022 grosse Erfolge zu verzeichnen. Der Rechenschaftsbericht zeigt zum Beispiel: Im Bereich der «Wirtschaftsförderung» wurden weltweit über 50’000 Mitarbeitende in Finanzverwaltungen ausgebildet und knapp 900 Gemeinden in 19 Partnerländern bei der Mobilisierung von zusätzlichen Steuereinnahmen unterstützt. Die Lebensqualität von mehr als 12 Millionen Menschen in 237 Städten verbesserte sich dank nachhaltiger Entwicklung von städtischen Räumen und Infrastrukturen. Tausende Arbeitsplätze konnten geschaffen und zahlreiche Länder bei rechtlichen und regulatorischen Reformen unterstützt werden, sodass knapp 400’000 KMUs Zugang zu Kapital erhielten. In Bezug auf das Ziel «Umwelt- und Klimaschutz» hat die Entwicklungszusammenarbeit über 16 Millionen Menschen bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützt – z.B. durch agrarökologische Landwirtschaft, angepasste Bewirtschaftung von Wald- und Berggebieten oder einen besseren Umgang mit Katastrophenrisiken. Zudem wurde knapp 20 Millionen Menschen der Zugang zu erneuerbarer Energie in Form von Fernwärme, Biomasse und Photovoltaik ermöglicht.
Im Bereich «menschliche Entwicklung» konnten das IKRK, UNHCR und das Welternährungsprogramm dank Beiträgen der DEZA eine Million Menschen in der Ukraine, über eine Million in Afghanistan und über eine halbe Million im Sudan humanitär unterstützen. Darüber hinaus wurden fünf Millionen Menschen in der Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten sensibilisiert und für 1,6 Millionen Kinder ein Zugang zu Primar- oder Sekundarschulbildung geschaffen. Schliesslich hat die Schweizer IZA im Bereich «Frieden und Gouvernanz» 21 Friedensprozesse, unter anderem in Kolumbien und Kosovo, massgeblich mitgeprägt, und in sieben Ländern Waffenstillstandsabkommen verhandelt. In unzähligen Ländern hat die Schweiz Massnahmen zur Korruptionsbekämpfung ausgebaut, transparente und verantwortungsbewusste Verwaltungen gefördert und mehr politische Teilhabe durch die Zivilgesellschaft unterstützt.
Noch eine Behauptung hält einer Prüfung nicht stand
Anlässlich des Entscheids des Ständerats vom 3. Juni 2024, bei der Internationalen Zusammenarbeit 2025-2028 (IZA) zwei von elf Milliarden Franken zugunsten der Armee einzusparen, behauptete Lars Guggisberg von der SVP: «Die Entwicklungshilfe ist massiv gewachsen. Es gab eine Verdreieinhalb-fachung in den letzten Jahren.» Die offiziellen Zahlen zur IZA zeigen jedoch ein anderes Bild: Die öffentliche Entwicklungshilfe (Aide Publique au Development, APD) ist in den vergangenen zehn Jahren lediglich von rund 2,8 auf 3,4 Milliarden Franken angewachsen.
Gar rückläufig sind die Entwicklungsausgaben im Verhältnis zum BIP – die sog. APD-Quote: Gemäss aktuellem Stand der IZA-Strategie 2025-2028, die im Winter 2024 im Parlament verabschiedet werden soll, wird die APD-Quote (ohne Berücksichtigung von Asylausgaben in der Schweiz) künftig 0,36 Prozent betragen. Seit 2014 verzeichnete die APD-Quote mit jeweils 0,45 Prozent ihre höchsten Werte in den Jahren 2020 und 2021. Mit dem ständerätlichen Vorschlag, jährlich 500 Millionen von der IZA zur Armee zu verschieben, würde diese Quote aller Voraussicht nach sogar unter 0,3 Prozent rutschen – und damit unter den durchschnittlichen Wert aller OECD-Geberländer (0,37 Prozent im Jahr 2023). Ein für die wohlhabende und «humanitäre» Schweiz beschämend tiefer Wert. Das UNO-Ziel von 0,7 Prozent, das mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung bekräftigt wurde, verlöre die Schweiz komplett aus den Augen.
Nicht nur hat sich die IZA im Verhältnis zur schweizerischen Wirtschaftskraft (BIP) nicht erhöht. Auch die Wirksamkeit der IZA ist viel besser als gewisse Politiker immer wieder gerne behaupten. Parlament und Bundesrat sollten sich daher vergegenwärtigen: Soll die Sicherheit und Stabilität hierzulande und in Europa verbessert werden, darf die Schweiz nicht nur die Aufrüstung im Inland in Betracht ziehen, sondern muss weiterhin in die Internationale Zusammenarbeit investieren, also in zivile Friedensförderung und die Stärkung der Menschenrechte, in langfristige Entwicklungsprogramme und humanitäre Hilfe, in Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen sowie in nachhaltige Entwicklung und die Stärkung der lokalen Wirtschaft in ärmeren Ländern.
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