Die Südperspektive

Eine geschwächte Demokratie im Sog des Populismus

22.03.2024, Internationale Zusammenarbeit

Bolivien leidet unter einer schweren politischen Krise und einer wirtschaftlich düsteren Lage. Und trotzdem bietet die zunehmende Urbanisierung auch Chancen bei der nachhaltigen Armutsbekämpfung, schreibt Martín del Castillo.

Eine geschwächte Demokratie im Sog des Populismus

Markt in Coroico, Yungas, wo viele Jugendliche Kokablätter verkaufen.   © Meridith Kohut / The New York Times

In ganz Lateinamerika schwanken die Bukeles und Mileis, die Ortegas und Morales mit radikalen Diskursen und populistischen Forderungen zwischen der einen und der anderen Seite. Das Pendel schwingt aber nicht mehr zwischen den ideologischen Extremen, zwischen Verstaatlichung privater Unternehmen und radikalem Liberalismus. Es scheint, dass das Hin und Her jetzt den geopolitischen Interessen einiger strategischer Verbündeter dient: Vereinigte Staaten, China, Russland, Europäische Union. Sie unterstützen die besonderen Interessen und die Machtkonzentration der «messianischen Führer», indem sie deren politische Diskurse für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Diese Dynamik der letzten zwei Jahrzehnte hat mehrere gemeinsame Nenner: schwache Staaten, Präsidialsysteme, Machtkonzentration in den Händen weniger Personen, kooptierte und korrupte Justizsysteme, geringe Legitimität des Parteiensystems und der nationalen Parlamente sowie wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland. Bolivien ist kein Ausreisser und feiert demnächst 20 Jahre Populismus (davon 17 Jahre von der Linken und zwei von der Rechten dominiert), mit all den genannten und einigen anderen landesspezifischen Merkmalen.

Wie in den meisten Ländern der Region fehlt es den politischen Parteien an Legitimität. Die politische Elite sucht sich andere Kanäle, wie Kirchen oder zivilgesellschaftliche Organisationen oder Gewerkschaften, die die Kokabauern und -bäuerinnen vertreten (die wichtigste soziale Bewegung in Bolivien, aus der Evo Morales' politische Basis stammt). Letztere werden auf der Grundlage klientelistischer Interessen mobilisiert. Die Bolivianer:innen organisieren sich, beschweren sich, protestieren, aber machen keine konstruktiven Vorschläge.

Ebenso verfügt Bolivien über ein schwaches, weitgehend korruptes und illegitimes Justizsystem. Andere staatliche Einrichtungen haben begrenzte Kapazitäten, eine hohe Personalfluktuation, extreme Bürokratie und weisen fragwürdige Verwaltungsergebnisse auf. Ende des letzten Jahrtausends lagen 25% der Mittel für öffentliche Investitionen in den Händen der nationalen Regierung und 75% bei den lokalen Regierungen; letztere haben sich bis heute auf 20% reduziert. Die Zentralisierung der öffentlichen Entscheidungen und Haushalte bringt die institutionelle Schwäche Boliviens klar zum Ausdruck.

Seit der Präsidentschaft von Evo Morales (2005 bis 2019) hat Bolivien die Armutsquote deutlich gesenkt: die extreme Armut von 38% auf weniger als 15%, die moderate Armut von 60% auf 39%. Das makroökonomische Niveau blieb einigermassen stabil: Die Inflation liegt unter dem zweistelligen Bereich, das Wirtschaftswachstum beträgt durchschnittlich fast 4%.

 

Der lange Atem der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit

Während der Pandemie waren Beatmungsgeräte eine Mangelware, gerade ärmere Länder hatten keinen Zugang zu den überlebenswichtigen Maschinen. In Bolivien musste etwa medizinisches Personal per Hand Beatmungen durchführen. Aus der Not entwickelte eine bolivianische Universität ein kostengünstiges und schnell baubares automatisches Beatmungsgerät, das zum Selbstkostenpreis an abgelegene Gemeinden und ins Ausland verkauft wurde. Dies war nur dank der Unterstützung durch die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit möglich, die die Arbeit finanziert und Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren aufgebaut hat. Anlässlich der Schliessung des DEZA-Büros in Bolivien und des laufenden Ausstiegs der bilateralen Zusammenarbeit aus Lateinamerika und der Karibik im Jahr 2024 wird der freie Journalist Malte Seiwerth für Alliance Sud eine Reportage schreiben, die Sie ab April auf der Website lesen können.

 

Bolivien, die stabilste Wirtschaft in der Region?

Trotz solch vielversprechender Zahlen ist die derzeitige Wirtschaftslage in Bolivien nicht ermutigend: Der Anteil der informell erwerbstätigen Bevölkerung liegt bei fast 80%. Diese Menschen haben keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen, erhalten keine Arbeitnehmer:innen-Leistungen und werden nicht besteuert. Hinzu kommt, dass die nachgewiesenen Gasreserven – die wichtigste Einnahme- und Exportquelle des Landes – drastisch zurückgegangen sind, der öffentliche Sektor erheblich gewachsen ist und die Subventionen für Treibstoffe für den Staatshaushalt nicht mehr tragbar sind.

Dies führte ab 2014 zu jahrelangen Haushaltsdefiziten und einer Abnahme der Devisenreserven. Die öffentliche Verschuldung, sowohl die externe als auch die interne, stieg exponentiell an. Heute leiden die Bolivianer:innen, insbesondere diejenigen, die im Importgeschäft tätig sind, unter einem drastischen Devisenmangel, der zu einem Schwarzmarkt und hohem Abwertungs- und Inflationsdruck geführt hat.

Ein weiteres Element ist das beschleunigte Wachstum der Städte. Ein beträchtlicher Teil der städtischen Bevölkerung lebt unter prekären Bedingungen in den Metropolen und Städten oder migriert zur Pflanz- und Erntezeit in die landwirtschaftlichen Gebiete. Das verursacht eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Grenzen des Landes und setzt die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen in städtischen und stadtnahen Gebieten unter Druck.

In diesem Kontext verfolgt die nationale Regierung eine zweideutige Umweltpolitik. Unter dem Vorwand, die Besiedlung grosser unbewohnter Gebiete zu fördern, erleichtert sie die Migration im Tiefland. Dabei fördert sie die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Grenzen und die Zunahme der Produktion von Kokablättern – meist für den illegalen Gebrauch. Gleichzeitig greift die Regierung auf Brandrodungen zurück, um mehr Land für den Anbau zur Verfügung zu stellen, wodurch Fauna und Flora geschädigt werden. Abholzung und Waldbrände sind eine Konstante im Amazonas und im Chiquitano-Trockenwald. Zudem sind die nationalen Verpflichtungen beim Klimaschutz noch lange nicht erfüllt.

Politische Krise als Chance

Derweil leidet die Regierungspartei (MAS - Movimiento al Socialismo) unter einem Zersetzungsprozess. Dem derzeitigen Präsidenten Luis Arce – dem ehemaligen Wirtschaftsminister von Evo Morales – ist es gelungen, einen grossen Teil der parteinahen Organisationen auf seine Seite zu ziehen. Evo Morales wiederum kontrolliert die wichtigsten regierungsfreundlichen Persönlichkeiten im Parlament und ist der derzeitige Vorsitzende der Partei sowie der wichtigste Anführer der Kokabäuerinnen und -bauern. Dieser Machtkampf hat zu Spaltungen in allen staatlichen Einrichtungen geführt und die öffentliche Verwaltung verlangsamt. Diese Entwicklung wird wohl bis zu den Wahlen im Jahr 2025 anhalten.

In diesem schwierigen Umfeld sind Chancen ein rares Gut, aber sie sind vorhanden und sollten genutzt werden. Die städtische Konzentration ist ein Motor für Innovation und Unternehmertum. Die Rolle des Privatsektors und der Wissenschaft kann für integrative sowie partizipative Entwicklungslösungen verstärkt werden. Die günstige Altersstruktur mit ihren vielen potenziellen Arbeitskräften ist beträchtlich und konzentriert sich auf mittelgrosse Städte und schnell wachsende Ballungsräume. Die ökologische Vielfalt, grosse Wälder und Gebirge bieten interessante Möglichkeiten.

Um die Chancen zu nutzen, sind Anstrengungen in der Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, integrativer wirtschaftlicher Entwicklung, nachhaltiger Stadtentwicklung oder Abwasser- und Abfallwirtschaft nötig. Die internationale Zusammenarbeit muss diese Themen unterstützen und technische Begleitung leisten. Und schliesslich sind die Bürger:innen dafür verantwortlich, die Umsetzung der Entscheide und Massnahmen einzufordern. Dies kann dazu beitragen, dass die Bevölkerung, die aus der Armut herausgekommen ist, nicht wieder in Armut zurückfällt.

 

Foto von Martín Del Castillo

Martín del Castillo ist Wirtschaftswissenschaftler und Politologe mit Masterabschlüssen der Universitäten in Sucre, Bolivien, und Genf. Seit 2007 arbeitet er für Helvetas.

Global, Meinung

Mythos Schuldenbremse: Rumpelstilzchen regiert

02.04.2024, Internationale Zusammenarbeit, Finanzen und Steuern

Ist Sparen wirklich das Gebot der Stunde? Ein umfassendes Umdenken ist dringend nötig, denn die Schuldenquote ist die beste Freundin der internationalen Zusammenarbeit. Dank ihr kann es sich die Schweiz mehr als leisten, die Kosten für die Ukrainehilfe ausserordentlich zu verbuchen und so die Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des Globalen Südens zu retten.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Mythos Schuldenbremse: Rumpelstilzchen regiert

Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud. © Daniel Rihs

 

Im Geschichtsstudium haben wir gelernt, dass der wissenschaftliche Fortschritt in den Fussnoten stattfindet. Erfreut habe ich kürzlich festgestellt, dass das auch für Bundesbern gilt. So weist die eidgenössische Finanzverwaltung in einer Fussnote zum Legislaturfinanzplan 23 – 27 auf die Diskrepanz zwischen dem internationalen Standard zur Nachhaltigkeit von Schulden und der Schweizer Praxis hin: Einerseits gibt es das Nachhaltigkeitskonzept, das «dem international von OECD, IWF und EU-Kommission anerkannten Standard (entspricht). Danach sind die öffentlichen Finanzen nachhaltig, wenn die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP (Schuldenquote) auf einem ausreichend tiefen Niveau stabilisiert werden können. Die Schuldenbremse des Bundes ist restriktiver. Sie stabilisiert die Schulden des Bundes zu ihrem nominalen Wert in Franken.»

Auch in Franken waren die Schulden 2022 – trotz Corona – niedriger als 2002 bis 2008, als die Schweiz auch nicht gerade darnieder lag. Aber eben, entscheidend sind sowieso nicht die absoluten Schulden, sondern ihr Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (man kann diesen Satz nicht oft genug sagen). Wie hoch ist denn diese Quote? Schauen wir nach in der jüngsten Ausgabe von «Grundlagen der Haushaltsführung des Bundes», einer Publikation der Finanzverwaltung, die sich an die Parlamentarier:innen richtet. 2022 betrug die Schuldenquote gemäss Maastricht-Definition der EU 26.2% und die Nettoschuldenquote, so wie sie der internationale Währungsfonds IWF berechnet, lag bei 15,3%. Gemäss Legislaturfinanzplan hingegen (der ein Monat nach den «Grundlagen» publiziert wurde) beträgt die Nettoschuldenquote aber 18,1%. Offensichtlich haben nicht nur das Verteidigungsdepartement und der Armeechef ein Problem mit den Zahlen (für 2023 liegt die Quote laut der Finanzministerin in der Frühlingssession bei 17,8%).

«Die Schuldenbremse ist meine beste Freundin», sagte Karin Keller-Sutter gegenüber der NZZ. Uns scheint allerdings eher, dass die Schuldenbremse Rumpelstilzchen ist: «Ach wie gut, dass niemand weiss …». Wobei – und auch diesen Satz kann man nicht oft genug wiederholen –, egal wie man die Schuldenquote der Schweiz misst, sie ist in jedem Fall im internationalen Vergleich lächerlich gering.

«Wiegt der Nutzen tiefer Schulden deren Kosten auf? Denn Schuldenabbau ist nicht gratis. Jeder Franken, der für Rückzahlung von Staatsschulden eingesetzt wird, ist ein Franken, der nicht für andere Staatsleistungen zur Verfügung steht», gibt Marius Brülhart, Volkswirtschaftsprofessor der Uni Lausanne, zu bedenken. Wo er das schreibt, ist ein Silberstreifen am Horizont, in der «Volkswirtschaft» nämlich, dem wirtschaftspolitischen Magazin des SECO. Bei Mitte-Präsident Gerhard Pfister, der sich für eine ausserordentliche Finanzierung der Ukraine-Kosten (Flüchtlinge und Wiederaufbau) ausspricht, ist das Thema angekommen. Ein umfassendes Umdenken ist dringend nötig, denn die Schuldenquote ist die beste Freundin der internationalen Zusammenarbeit. Dank ihr kann es sich die Schweiz mehr als leisten, die Kosten für die Ukrainehilfe ausserordentlich zu verbuchen und so die Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des Globalen Südens zu retten.

 

Wiegt der Nutzen tiefer Schulden deren Kosten auf? Denn Schuldenabbau ist nicht gratis. Jeder Franken, der für Rückzahlung von Staatsschulden eingesetzt wird, ist ein Franken, der nicht für andere Staatsleistungen zur Verfügung steht.

(Marius Brülhart)

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Hinter den Schlagzeilen

Die mystische Welt von San Blas

22.03.2024, Weitere Themen

An Panamas Ostküste liegt ein Archipel, bestehend aus mehr als 350 Inseln. Es ist das autonome Gebiet der Gunas, einer indigenen Gemeinschaft, die zwischen Fluch und Segen der Moderne hin- und hergerissen ist. Von Karin Wenger

Die mystische Welt von San Blas

San Blas, ein Archipel an Panamas Ostküste, wird von den Gunas, ca. 50 000 Personen, bewohnt und als autonomes Gebiet Guna Yala verwaltet.   © Karin Wenger

Wie eine mystische Märchenwelt wirkt das Inselparadies San Blas, als wir langsam an den winzigen Inselchen vorbeisegeln. Hunderte von kleinen Sandhaufen liegen hier verstreut im glasklaren, türkisfarbenen Wasser. Auf manchen stehen ein paar Kokospalmen, ein oder zwei Hütten mit Palmblattdächern, auf anderen leben nur Pelikane oder Sandflöhe. San Blas wird von den Gunas, ca. 50 000 Personen, bewohnt und als autonomes Gebiet Guna Yala verwaltet.

Vor der Insel Salardup werfen wir Anker. Es geht nicht lange und zwei Gunas, die Fische und Langusten zum Verkauf anbieten, paddeln vorbei. Wenig später tuckert ein weiteres Boot heran. Eine Frau hält eine Küchenschürze und einen Weinflaschenhalter aus bunten, übereinander gestickten Stoffen hoch, traditionelle Molas, Stickereien, die in alter Tradition die bösen Geister abhalten sollen. Die Frau ist im ganzen Archipel als Mola Lisa bekannt. Als sie vor 62 Jahren zur Welt kam, war sie kein Mädchen, sondern ein Junge. «Als ich sechs Jahre alt war, merkte meine Mutter, dass ich anders bin, einzigartig. Sie lehrte mich, Molas zu fertigen, erklärte mir die mystische Bedeutung der verschiedenen Stickereien und kleidete mich in Mädchenkleider. Mädchen und Frauen sind bei uns die Hüterinnen von Tradition und Wissen, und wenn ein Junge ein Mädchen sein will, wird das willkommen geheissen.»

Mola Lisa ist eine «Omeggid», was in der Sprache der Gunas «wie eine Frau» bedeutet. Mola Lisa ist zwar nicht verheiratet, aber sie hat die Erziehung ihrer Nichte und ihres Neffen übernommen, nachdem deren Vater die Familie verlassen hat. Sie verrichtet die gleichen Arbeiten wie andere Frauen und hat auf ihrer Insel die Stellung einer Frau. Das bringt in einer Gemeinschaft wie jener der Gunas viel Ansehen. Bei den Gunas haben bis heute die Frauen das Sagen, auch wenn die meisten offiziellen Posten von Männern besetzt werden. Doch es sind die Frauen, die das Geld und den Besitz verwalten und wichtige Entscheide in der Familie fällen. Nach der Hochzeit ziehen die Ehemänner zu den Familien ihrer Bräute. Die wichtigsten Feiern, wie beispielsweise der Übertritt in die Pubertät, werden für Frauen abgehalten. «Noch heute pflegen wir unsere Traditionen. Sie sind es, die uns Zusammenhalt geben und schützen», sagt Mola Lisa.

Smartphones, Segelboote und Strassen

Schützen vor was? Vor den Veränderungen. Tourist:innen und moderne Kommunikationsmittel haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Einzug auf dem Archipel gehalten. «Als ich vor 16 Jahren mit meinem Segelboot hier angekommen bin, musste ich Ersatzteile per Schiff oder mit einem winzigen Propellerflugzeug einfliegen lassen, weil es noch keine Strasse durch den Dschungel gab. Telefonverbindungen existierten nicht, Internet auch nicht», erinnert sich die 82-jährige Amerikanerin Susan Richter, die den Archipel zu ihrer Wahlheimat gemacht hat. Jetzt gibt es eine geteerte Strasse durch den Dschungel, die direkt von San Blas nach Panama Stadt führt. Seit die Regierung einen Mobilfunkmasten auf einer Insel errichtet habe, seien auch die Gunas über ihre Smartphones, die ebenfalls die Inseln erobert hätten, mit der Welt verbunden. Susan war eine der ersten Segler:innen, die sich mit ihrem Schiff hier niedergelassen hat, doch längst wurde das Archipel von Charter-Anbietern und anderen Seglern als Geheimtipp entdeckt. Mit den ausländischen Gästen kamen die Dollars.

 

Abfall an einem Strand von San Blas.

Traditionalist:innen machen den Tourismus für das wachsende Abfallproblem verantwortlich.
© Karin Wenger

Mola Lisa im Wald von San Blas. Sie trägt Crocs und hält ihr Smartphone in der Hand.

Zwischen Tradition und Moderne: Seit die Regierung einen Mobilfunkmasten errichtet habe, seien auch die Gunas mit der Welt verbunden, sagt Mola Lisa.   © Karin Wenger

 

«Früher waren Kokosnüsse unsere Währung, heute dreht sich alles ums Geld. Jeder von uns will es haben», sagt der 73-jährige Guna Victor Morris. Er lebt mit seiner Frau und vier weiteren Familien auf einer Insel neben einem besonders beliebten Ankerplatz. Hier schwimmen Stachelrochen und Ammenhaie an den Booten vorbei, doch Fische sieht man kaum noch. Die Langusten, die die Gunas aus ihren Kanus feilbieten, sind meist noch klein und jung. Selbst in der Schonzeit von März bis Mai würden sie gejagt und zum Verkauf angeboten, sagt die Seglerin Richter. Auch Mola Lisa spricht von Überfischung: «Als ich Kind war, fischten wir mit Leinen aus Holzkanus. Heute sind die meisten unserer Boote motorisiert und wir haben Schleppnetze. Früher fischten wir dreissig, vierzig Fische am Tag und verteilten sie unter allen Dorfbewohner:innen. Heute gibt es viel weniger Fischer und was wir fangen, verkaufen wir an die Tourist:innen.»

 

Wenn wir lernen, unsere Traditionen zu schützen, und gleichzeitig unser Wissen über moderne Zusammenhänge erweitern, werden Tourismus, Geld und Öffnung ein Segen sein. Wenn nicht, sind sie ein Fluch.

 

Während die Traditionalist:innen in den Dörfern die Tourist:innen für den Fischmangel und auch das wachsende Abfallproblem verantwortlich machen, sagt Mola Lisa: «Nicht die Tourist:innen sind schuld, wir sind es. Wir haben die Tourist:innen willkommen geheissen, weil wir ihr Geld wollten. Wir fangen zu viele Langusten und Fische, weil wir nicht verstehen, dass wir uns damit unsere Lebensgrundlage zerstören.» Eigentlich gäbe es Regeln, aber das Archipel ist so gross, und Regeln durchzusetzen, wo jemand sie brechen wolle, sei schwierig. Das Einzige, was helfen würde, sei Ausbildung, das Verständnis für Zusammenhänge, Verantwortung, sagt Mola Lisa, die ihre Nichte und ihren Neffen deshalb nach Panama zur höheren Ausbildung geschickt hat. Dann verabschiedet sie sich.

 

Zwei Männer auf einem kleinen mit Lebensmitteln gefüllten Boot in San Blas.

Laut Mola Lisa wurde früher mit Leinen in Holzkanus gefischt. Heute werde mit motorisierten Booten, Schleppnetzen und dem erhöhten Bedarf durch den Tourismus Überfischung zunehmend ein Problem.
© Karin Wenger

 

Auf ihrer Insel hat eben ein grosser Kongress der «Sailas», der Amtsträger des Archipels, begonnen. Vier Tage lang werden sie altes Wissen ihrer Gemeinschaft an die Jungen weitergeben. Tourist:innen haben in dieser Zeit keinen Zutritt zu ihrer Insel. «Wenn wir lernen, unsere alten Traditionen zu schützen, und gleichzeitig unser Wissen über die modernen Zusammenhänge erweitern, werden Tourismus, Geld, Öffnung ein Segen sein. Wenn nicht, sind sie ein Fluch», sagt Mola Lisa, startet den Motor ihres Boots und fährt davon.

 

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Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.

Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

© Karin Wenger

Kommentar

In Abu Dhabi bestätigt sich die Krise der Globalisierung

02.03.2024, Handel und Investitionen

Am Freitagabend endete in Abu Dhabi die 13. Minister:innenkonferenz der WTO, ohne ein substanzielles Resultat zu erzielen. Lediglich zwei Moratorien wurden verlängert, darunter das zu elektronischen Übertragungen. Während sich China zur neuen Vorkämpferin einer Globalisierung neoliberaler Prägung entwickelt hat, halten sich die USA im Hintergrund. Derweil hat die Schweiz eine neue Verbündete, die mit Vorsicht zu behandeln ist.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

In Abu Dhabi bestätigt sich die Krise der Globalisierung

© Alliance Sud / Isolda Agazzi

Nach mehrmaliger Verlängerung ging die 13. Minister:innenkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Abu Dhabi am späten Freitagabend zu Ende. Die Ausbeute ist mager: Die Mitgliedstaaten – inzwischen 166, nachdem an der Konferenz die Komoren und Osttimor beigetreten sind – schafften es bei kaum einem Thema, sich zu einigen.

In einer zunehmend fragmentierten Welt, lange von einem traditionellen Nord-Süd-Graben, aber seit geraumer Zeit auch durch wachsende Bruchlinien im Süden geprägt, will es der WTO nicht mehr gelingen, nach Konsensprinzip Entscheide zu fällen, so wie es ihre Statuten vorsehen. Aber auch unzählige plurilaterale Abkommen fanden im Plenum kein Gehör, da es die Mitglieder verpassten, deren Integration in die WTO in Betracht zu ziehen.

Keine Investitionserleichterungen durch die WTO

Am weitesten fortgeschritten war das 2017 in Buenos Aires initiierte und mittlerweile 124 Mitglieder umfassende Abkommen zur Erleichterung von Investitionen in Entwicklungsländern. Gefördert wurde es von China, mit Unterstützung von Ländern des Nordens sowie des Südens, jedoch nicht der USA, während die Europäische Union und die Schweiz an Bord waren. Aus Entwicklungsperspektive enthält das Abkommen hoch problematische Bestimmungen, obwohl es vorgibt, ebendiese Entwicklung voranzubringen.

So ermöglicht unter anderem eine Bestimmung zur «Transparenz» ausländischen, multinationalen Konzernen jegliche Gesetzes- und Verordnungsentwürfe, beispielsweise zu Umweltschutz oder Arbeitsrechten, bereits im Vorfeld zu kommentieren. Sollten die Konzerne mit den Entwürfen nicht einverstanden sein, könnten sie auf diese Weise Druck auf die nationalen Regierungen ausüben.

Das ist ein Einfallstor für weitere massive Deregulierungen zugunsten von Investitionen. Für China mag dies in Bezug auf seine Projekte entlang der Neuen Seidenstrasse äusserst vorteilhaft sein, aber es ist ganz bestimmt nicht im Interesse der Länder, die versuchen, sich einen gewissen Handlungsspielraum zu bewahren.

Südafrika, Indien und Indonesien wehrten sich bis zuletzt gegen eine Integration des Abkommens in die WTO, da sie dieses als illegal betrachten, und waren schliesslich erfolgreich. Die Befürworter des Abkommens beteuerten, dass diejenigen, die es nicht mitausgehandelt haben, von den Vorteilen profitieren würden, ohne dabei die Pflichten übernehmen zu müssen. Ein Argument, das die Gegenseite offensichtlich nicht überzeugen konnte. Die Frage bleibt nun, wie es mit dem Abkommen weitergeht, denn die Verhandlungen dazu sollen in Genf fortgeführt werden.

Moratorium gegen Zölle auf elektronische Übertragungen knapp verlängert

Ein weiterer wichtiger Schauplatz der Konferenz war die erneute Verlängerung des Moratoriums zu den Zöllen auf elektronische Übertragungen. Dabei geht es um das Verbot, Zölle zu erheben auf Filme, Musik und andere aus dem Internet herunterladbare Angebote und Dienstleistungen, sowie auf digitale Kommunikation.

Neben anderen Ländern wehrten sich abermals Indien, Südafrika und Indonesien entschieden gegen eine Verlängerung des Moratoriums. Sie sind der Ansicht, dass jedes Land selbst entscheiden sollte, ob es Zölle erheben möchte, um seine Industrie zu stärken und so seine digitale Souveränität sicherzustellen.

Die Vereinigten Staaten, die Schweiz, China und viele andere Staaten wollten das Moratorium unbedingt verlängern, doch diesmal war es ein harter Kampf. Um ihr Ziel zu erreichen, hätten die USA und die Schweiz womöglich bei einem anderen Moratorium nachgeben müssen, dessen Verlängerung sie ablehnen: Jenes zu Klagen bei Nichtverletzung des TRIPS-Abkommens, welches Indien und Südafrika im Gegenzug dringend verlängern wollen.

Diese unsägliche Bezeichnung steht für eine rechtliche Garantie für Länder, insbesondere Entwicklungsländer, dass sie nicht von einem anderen Mitgliedsstaat vor das WTO-Schiedsgericht gezerrt werden. Dies, wenn der Mitgliedsstaat der Meinung ist, seine Gewinne seien durch die Einführung anderer Massnahmen geschmälert worden, obwohl das TRIPS-Abkommen eingehalten wurde. Dabei ist es äusserst schwierig, ein konkretes Beispiel für einen solchen Fall zu nennen, da er aufgrund des geltenden Moratoriums nie eingetreten ist.

Scheitern bei Landwirtschaft und Fischerei

Auch sonst kamen keine substanziellen Ergebnisse zustande. Indien kämpfte bis zuletzt für eine dauerhafte Lösung in der Frage der Pflichtlagerhaltung in der Landwirtschaft. Diese würde es den Entwicklungsländern ermöglichen, ihre Bäuer:innen und Konsument:innen zu unterstützen, ohne eine Klage vor der WTO zu riskieren. Auf der Minister:innenkonferenz 2013 in Bali wurde eine Friedensklausel vereinbart, die so lange gelten sollte, bis eine dauerhafte Lösung gefunden ist. Diese ist jedoch nach wie vor nicht in Sicht.

Auch zu den Fischereisubventionen gab es keine Einigung; diesen Text lehnte auch die Zivilgesellschaft ab, da er ihrer Meinung nach die grossen Fischereibetriebe begünstigt hätte.

China, die neue Vorkämpferin einer wirtschaftsliberalen Globalisierung

Besonders China verkörpert das neue Gesicht der internationalen Handelsbeziehungen. Nach dem WTO-Beitritt im Jahr 2005 hielt sich China, die grosse Gewinnerin der Globalisierung, noch bedeckt. Nun drängt das Land hingegen bei den wirtschaftsliberalsten Abkommen und beim Abwärtswettlauf im Sozial- und Umweltbereich.

Die Vereinigten Staaten hingegen sind weniger wirtschaftsliberal als üblich, insbesondere wenn es um Investitionen geht. Sie haben kürzlich industriepolitische Massnahmen ergriffen, welche als protektionistisch beurteilt werden. Dasselbe im elektronischen Handel: Die Biden-Regierung versuchte jüngst, Big Tech sachte zu regulieren. Hinsichtlich Fischerei verlangten die Vereinigten Staaten, dass ein Text zum Verbot von Zwangsarbeit auf Hochseeschiffen aufgenommen wird, was China entschieden und letztlich erfolgreich ablehnte.

In vielen Bereichen hat die Schweiz mit China jetzt eine überraschende Verbündete. Allerdings wird sie darauf achten müssen, entsprechend auch die Einhaltung von Menschenrechten sowie von Sozial- und Umweltstandards einzufordern.

Die Konferenz hat vor allem gezeigt, dass die neoliberale Globalisierung, deren Speerspitze die WTO seit 29 Jahren ist, in der Krise steckt. Es ist mehr denn je an der Zeit, gerechtere internationale Handelsbeziehungen aufzubauen.

Kommentar

Tonnage Tax: Das rühmliche Ende einer unrühmlichen Geschichte?

21.02.2024, Finanzen und Steuern

Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats (WAK-S) empfahl ihrem Rat am 20. Februar, nicht auf die Vorlage zur Einführung einer «Tonnage Tax» einzutreten. Nun steht dieses Steuerdumpinginstrument für Schweizer Reedereikonzerne und Rohstoffhändler vor dem Ende. Die gesetzgeberische Odyssee, die diesem Entscheid voranging, wirft allerdings ein sehr schlechtes Licht auf das Eidgenössische Finanzdepartement – insbesondere auf die eidgenössische Steuerverwaltung.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Tonnage Tax: Das rühmliche Ende einer unrühmlichen Geschichte?

© Keystone / Laif / Patricia Kühfuss

Die Tonnage Tax würde auf den ersten Blick vor allem Unternehmen der Hochseeschifffahrt stark privilegieren. Sie sorgte dafür, dass diese nicht wie alle anderen Unternehmen in der Schweiz der Gewinnsteuer unterliegen, sondern pauschal anhand der Ladekapazität ihrer Schiffe besteuert würden. Politisch als Förderinstrument für den Reedereistandort Schweiz deklariert, wäre die Tonnage Tax aber faktisch auch ein Steuerschlupfloch für Rohstoffhändler in der Schweiz, also für Konzerne, die in den letzten Jahren exorbitante Profite eingefahren haben. Wegen der Pandemie und den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten sind die Preise für gewisse Rohstoffe und den Schiffstransport massiv gestiegen. Das hat den Rohstoffhändlern und Reedereien Rekordgewinne beschert. Anstatt diese angemessen zu besteuern, würde just denselben Konzernen mit der Tonnage Tax ein neues Steuergeschenk beschert. Denn diese sind gemäss Recherchen von Public Eye die eigentlichen Schifffahrtsunternehmen hierzulande: 2’200 Schiffe kontrollieren sie auf den Weltmeeren. Die klassischen Schweizer Reedereien kommen nur auf 1’400 Schiffe, der Bundesrat sprach bisher sogar nur von 900 Schiffen. Diese Zahl stammt vom Schweizer Reedereiverband. Deren unkritische Übernahme könnte den Fiskus bei einer Annahme der Tonnage Tax teuer zu stehen kommen – aus folgenden Gründen:

  • Ein Blick in jene Länder, die bereits eine Tonnage Tax kennen, zeigt, dass die damit begünstigten Unternehmen im globalen Durchschnitt von einem effektiven Steuersatz von lediglich 7% profitieren, wie die Jurist:innen Mark Pieth und Kathrin Betz in ihrem Buch «Seefahrtsnation Schweiz - vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen» gezeigt haben. Dass es noch tiefer geht, zeigt der Hamburger Reedereigigant Hapag-Lloyd, welcher dank Tonnage Tax im Jahr 2021 nur 0,65% Steuern zahlte. Selbst Klaus-Michael Kühne, der 30% an Hapag-Lloyd hält und Mehrheitsaktionär des Schwyzer Logistikunternehmens Kühne + Nagel ist, stimmte der Aussage zu, dass durch die Tonnage Tax «obszön wenig» Geld in die Steuerkasse fliesse.
  • Schweizer Rohstoffhändler wiederum könnten mit der neuen Steuer auch Gewinne aus dem Handel auf ihre Schiffe verschieben und die normale Gewinnsteuer umgehen. Entsprechend massiv wären die Verluste für den Schweizer Fiskus. Daran ändert auch die kürzlich angenommene OECD-Mindeststeuer von 15% nichts, denn davon ist die internationale Schifffahrt explizit ausgenommen.
  • Die Tonnage Tax widerspricht wohl der Bundesverfassung, weil sie das dort festgeschriebene Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verletzt: Werden Frachtschiffbetreiber nach dem Umfang der Fracht ihrer Schiffe besteuert und nicht gemäss ihrer Profitabilität, ist dieses Prinzip ausser Kraft und würde die rechtliche Bevorzugung einer einzelnen Branche bedeuten. Das wäre in der Schweiz nur erlaubt, wenn es sich dabei um eine existentiell bedrohte Industrie handeln würde, was offensichtlich weder für die Schweizer Hochseeschifffahrt noch für den Rohstoffhandel gilt.

Zwielichtige Rolle des Finanzdepartements

Alliance Sud und Public Eye formulierten diese Kritikpunkte anlässlich von Anhörungen sowohl in der Wirtschaftskommission des National- wie auch des Ständerates. Während der Nationalrat der Vorlage im Dezember 2022 trotz sehr vieler Ungereimtheiten noch bedenkenlos zustimmte, nahm der Ständerat diese auf und verlangte von der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) bereits zweimal entsprechende Klärungen: Zum ersten Mal vor einem Jahr, zum zweiten Mal im letzten Oktober. Beide Male konnte die ESTV die offenen Fragen zur Abgrenzung des Rohstoffsektors von der Seefahrt, zu den fiskalischen Folgen der Einführung der Sondersteuer und ihrer Verfassungsmässigkeit in entsprechenden Berichten nicht ausreichend beantworten. Folgerichtig will die WAK-S nun also auf die Vorlage nicht eintreten.

Offen bleibt auch die viel grundsätzlichere und unangenehme Frage, weshalb das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) – zu dem die ESTV gehört – nicht fähig ist, zentrale Fragen zu einem Gesetzesprojekt zu klären, das es selbst aufgegleist hat. Eine mögliche Erklärung für dieses dilettantische Vorgehen einer in Steuerfragen eigentlich hochkompetenten Verwaltungsstelle lieferte kürzlich eine sehr verdienstvolle Recherche von reflekt.ch. Diese Plattform für investigativen Journalismus zeigte nämlich, dass die Vorlage überhaupt erst auf exzessives Drängen der «Mediterranean Shipping Company» (MSC), einer der weltweit grössten Reedereien mit Sitz in Genf, zustande kam. Nachdem sich der ehemalige SVP-Finanzminister Ueli Maurer als wohlwollender Pate für die Anliegen der Reederei entpuppte, die auch schon ins Zwielicht der internationalen Drogenmafia geriet, begann zwischen der ESTV und MSC eine intensive Zusammenarbeit. Dies zeigen E-Mails aus der Verwaltung, die Reflekt mit Hilfe des Öffentlichkeitsgesetzes erhalten hat. Statt im Interesse der Allgemeinheit dafür zu sorgen, dass hochprofitable Konzerne ihre (in der Schweiz sowieso schon sehr niedrigen) Steuern bezahlen und das Parlament in die Lage versetzt wird, informierte Entscheidungen in der Steuerpolitik zu treffen, betätigte sich die eidgenössische Steuerverwaltung also als Steueroptimierungs-Beraterin eines multinationalen Konzerns. Wenn das stimmt, ist das ein veritabler Skandal – unabhängig davon, ob die Tonnage Tax, so wie es die Wirtschaftskommission empfiehlt, versenkt wird. Ganz so weit ist es aber noch nicht: Beschliesst auch das Plenum des Ständerats in der kommenden Frühlingsession Nicht-Eintreten, müsste der Nationalrat danach nochmals über die Bücher.

 

Meinung

Eine verletzliche Welt

23.03.2020, Entwicklungsfinanzierung

Die Ausbreitung des Coronavirus stellt die Welt vor enorme Herausforderungen. Dasselbe gilt schon seit Jahren für die Klimakrise. Was auf den globalen Süden und die Entwicklungszusammenarbeit zukommt, lässt sich in ersten Umrissen erkennen.

Eine verletzliche Welt
Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud.
© Daniel Rihs/Alliance Sud

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Das Gleichgewicht auf unserem Planeten ist fragil, unsere Welt ist verletzlich geworden. Die verheerenden Folgen des Klimawandels zeigen immer deutlicher, dass nationale Grenzen keinen Schutz vor globalen Problemen bieten. In den reichen Industrieländern, wo der weltweite Temperaturanstieg weniger unmittelbaren Schaden anrichtet als in vielen Entwicklungsländern, werden seine Auswirkungen jedoch weiterhin allzu oft kleingeredet. Es gibt zu wenig technische und finanzielle Unterstützung für besonders verwundbare Länder des globalen Südens, und was bezahlt wird, kommt in der Regel aus den knappen Budgets der Entwicklungszusammenarbeit. Das geht auf Kosten der genauso dringend notwendigen Unterstützung bei der Armutsreduktion, der Stärkung der Zivilgesellschaft, der Frauenförderung, dem Ausbau des Bildungs- und des Gesundheitswesens.

Die rasche Ausbreitung des neuen Coronavirus über sämtliche Kontinente hinweg lässt sich weniger leicht ignorieren als der Klimawandel. Er löst auch Ängste über eine Abkühlung der Weltkonjunktur aus. Die Folgen für die Entwicklungsländer sind noch kaum abzuschätzen. Gerade die ärmsten Länder Afrikas, die in engstem wirtschaftlichem Austausch mit China stehen, sind gegen Epidemien äusserst schlecht gewappnet, ebenso gegen deren Wirtschaftsfolgen. Die Weltbank, die ihre gemeinsame Frühlingstagung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im April erstmals per Videokonferenz durchführen wird, hat den Schwellen- und Entwicklungsländern Anfang März 12 Milliarden US-Dollar Hilfskredite für den Kampf gegen das Coronavirus versprochen. Allerdings soll nur die Hälfte des Geldes der Stärkung der Gesundheitssysteme und dem Schutz der Bevölkerung zugutekommen. Die andere Hälfte wird über die Finanzkorporation IFC, den Privatsektor-Arm der Weltbank, bereitgestellt. Er ist für Unternehmen reserviert, die wegen der Epidemie wirtschaftliche Einbussen erfahren könnten.

Das Coronavirus wird mit Sicherheit auch ein Thema sein, wenn das Parlament demnächst über die Strategie und Finanzierung der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit für die nächsten vier Jahre debattiert. Rechtspopulistische Kräfte werden sich voraussichtlich noch penetranter als sonst für Kürzungen bei den Rahmenkrediten der internationalen Zusammenarbeit aussprechen – wohl auch mit dem Argument, das Geld für die Entwicklungshilfe werde jetzt dringend benötigt, um die Schweizer Wirtschaft vor den finanziellen Folgen des neuen Virus zu schützen. Aufgeklärtere Kräfte werden betonen, dass jetzt erst recht ein hohes Mass an internationaler Solidarität gefragt ist und unsere verletzliche Welt eine umso stärkere grenzübergreifende Zusammenarbeit braucht. Hoffentlich wird sich die Mehrheit diesen progressiven Stimmen anschliessen.

Meinung

Nicht aufgeben lohnt sich

05.10.2020, Internationale Zusammenarbeit

2019 berichtete «global» über die Schweizer Agrarfirma GADCO in Ghana. Die Verantwortlichen wehrten sich gegen die Darstellung. Gastautor Holy Kofi Ahiabu, der ghanaische Mitarbeiter von Alliance Suds Kristina Lanz wurde eingeschüchtert.

Nicht aufgeben lohnt sich

Holy Kofi Ahiabu

von Holy Kofi Ahiabu

Seit 2014 arbeitete ich mit an mehreren von Kristina Lanz durchgeführten Studien über die Auswirkungen des GADCO-Landerwerbs auf Dörfern in der Volta-Region ganz im Süden Ghanas. Die Ergebnisse unserer Arbeit wurden mit den DorfbewohnerInnen sowie FirmenvertreterInnen und VertreterInnen der lokalen Autoritäten mehrmals an öffentlichen Versammlungen diskutiert. Die Menschen beklagten sich unter anderem, dass ihnen GADCO ihr Ackerland ohne angemessene Entschädigungen abgeluchst habe, dass Fischteiche und Trinkwasserquellen zerstört, der Zugang zu Brennholz erschwert worden seien, dass Zufahrtswege blockiert und die Landbevölkerung schikaniert wurde, die gegen den Verlust ihres Farmlands protestierte.

Unser Ziel war es immer, Lösungen für die Probleme zu finden, die unsere Forschung aufgedeckt hat. Auch nach Abschluss der Forschungsarbeiten besuchte ich die Gemeinden häufig, um zu sehen und zu hören, wie sich die Dinge verändert haben – leider meist zum Schlechten. Zusammen mit einer Kollegin von Brot für alle nahm Kristina Lanz schliesslich Kontakt mit dem Schweizer Eigentümer von GADCO auf. Viele der Probleme sind kurz- bis mittelfristig nicht zu lösen; also beschlossen wir, vom GADCO-CEO den Bau einer Brücke über den von der Firma gebauten Kanal zu fordern. Ohne eine solche Brücke bliebe das Dorf Kpevikpo von seinen Nachbargemeinden abgeschnitten. Wenn der Kanal Wasser führte, konnten Kinder nicht mehr zur Schule, Frauen nicht mehr zum Markt gehen, die Menschen hatten keinen Zugang mehr zu sozialen Diensten oder konnten nicht an Versammlungen teilnehmen.

Schliesslich erklärte sich der GADCO-CEO bereit, an einem von mir organisierten Gemeindetreffen in Kpevikpo teilzunehmen. Er sollte mich am besagten Tag in der naheliegenden Stadt Sogakofe abholen, damit ich ihn zu dem Treffen führen konnte. Anstatt nach Kpevikpo wurden wir jedoch zum GADCO-Büro gefahren. Zu meiner Überraschung warteten dort mehrere Vertreter der traditionellen Dorfautoritäten, die mit GADCO gemeinsame Sache gemacht hatten; ich wurde als Drahtzieher von Kristina Lanz‘ «global»-Artikel beschimpft und wegen meiner Teilnahme an den Forschungen verunglimpft. Kristina ihrerseits erhielt einen Brief von den Chiefs, in dem unsere Forschung diskreditiert und uns beiden mit rechtlichen Schritten gedroht wurde.

Nach dem Treffen ging es zusammen mit den Chiefs doch noch zum Gemeindetreffen, wo der GADCO-CEO schliesslich dem Bau der Brücke zustimmte und versprach, jeden Haushalt in Kpevikpo mit Solarpanels zu versorgen. Als Verfechter der nachhaltigen Gemeindeentwicklung wollte ich seither sicherstellen, dass es nicht nur bei Versprechen blieb. Nach vielen Mails und einigem Hin und Her war es im Juli 2020 tatsächlich soweit: Die Brücke wurde gebaut (Bild). Auf die versprochenen Solarpanels warten die Leute allerdings immer noch.

Mein oberstes Ziel bleibt es, für positive Veränderungen einzustehen. Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen, auch wenn dies nicht immer einfach ist, da ich dem Risiko von Einschüchterungen ausgesetzt bin und als Einzelperson, die nicht mit einer Organisation verbunden ist, dafür – abgesehen von der temporären Unterstützung aus der Schweiz – auch nicht bezahlt werde.

Der Autor, Holy Kofi Ahiabu ist Forschungsassistent und verteidigt eine nachhaltige Gemeindeentwicklung in Sogakofe, Region Volta, Ghana

Meinung

Corona-Nebenwirkungen treffen nicht alle gleich

10.12.2020, Internationale Zusammenarbeit

In Nigeria stieg während der coronabedingten Abriegelung die Gewalt gegen Frauen und Mädchen. UN Women hat diese weltweit beobachtete Tatsache als «Schattenpandemie» bezeichnet.

Corona-Nebenwirkungen treffen nicht alle gleich
Die Autorin – die nigerianische Agrarökonomin und Ökofeministin Oladosu Adenike Titilope – hat sich international einen Namen gemacht für ihr unermüdliches Engagement als Aktivistin für Klimagerechtigkeit, die sich u.a. auch für die Wiederherstellung des Tschadsees einsetzt. In Nigeria leitete Adenike als Vizepräsidentin im National Youth Service Corps (NYSC) mehrere Gemeindeprojekte zur Umsetzung der SDG. Weitere Artikel finden Sie auf ihrem Blog: http://womenandcrisis.blogspot.com/
© Oladosu Adenike Titilope

von Oladosu Adenike Titilope

Das nachhaltige Entwicklungsziel Nummer 5 will die Gleichstellung der Geschlechter erreichen. Wie überall stellen auch in Nigeria Frauen und Mädchen die Hälfte der Bevölkerung und damit die Hälfte des Entwicklungspotenzials dar. Doch die Ungleichheit der Geschlechter im Land ist omnipräsent und behindert den sozialen Fortschritt und die Entwicklung. Zwar verliehen die Millenniumsentwicklungsziele der Einschulung von Kindern auf der Primarstufe einen enormen Schub, doch in der Sekundarstufe bleiben die Mädchen bis heute weit hinter den Knaben zurück. Vor allem in den Dörfern auf dem Land bleiben Mädchen aus armen Familien stark benachteiligt.

Es ist unbestritten, dass der gleichberechtigte Zugang von Frauen und Mädchen zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, menschenwürdiger Arbeit und ihre Vertretung in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen die Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft sind. SDG 5 («Gender Equality») ist zwar ein eigenständiges Ziel, doch auch die anderen Ziele können nur erreicht werden, wenn den Bedürfnissen von Frauen dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt wird wie denen von Männern. Im Jahr 2000 unternahm Nigeria den mutigen Schritt, die nationale Frauenpolitik an der globalen Konvention über alle Formen der Diskriminierung von Frauen (CEDAW) auszurichten und dies gesetzlich zu verankern. Das Land formulierte Politiken und Programme, die darauf abzielen, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im sozioökonomischen und politischen Bereich zu verringern. Diese Politik ist jedoch zur Farce verkommen. So waren die nigerianischen Frauen während des Corona-Lockdowns mit einer doppelten Pandemie konfrontiert: Zu den wirtschaftlichen Folgen hatten sie einen sprunghaften Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt zu ertragen. Wie die Frauen über alle Kontinente und Kulturen hinweg fordern Nigerianerinnen das Recht, ihr Leben frei von Gewalt, in Frieden und Würde zu leben.

Zusätzliche Gewalt im Lockdown

Neuere Studien zeigen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Schutz der  Frauenrechte und der sozialen Entwicklung. Die Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt während der Abriegelungen hat die UNO als «Schattenpandemie» bezeichnet, die das Leben und die Existenzgrundlagen von Frauen und Mädchen bedroht. Für Nigeria weisen aktuelle Untersuchungen jedoch darauf hin, dass diese Krise schon lange schwelt. Nicht weniger als 30% der Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren haben sexuellen Missbrauch erlebt. Mangelnde Koordination zwischen den verschiedenen Stellen, welche die geschlechterdiskriminierenden Normen der Regierung durchsetzen sollten, behindern eine effektive Bekämpfung geschlechterbezogener Gewalt. Die Covid-19-Pandemie hat das bloss noch akzentuiert. Die ForscherInnen Jessica Young und Camron Adib schreiben in einem gemeinsamen Beitrag, dass die Pandemie zu einer Verlagerung von Prioritäten und Ressourcen geführt und eine Welle von Berichten über geschlechtsspezifische Gewalt ausgelöst habe; dies nachdem die Regierung Lockdowns über Lagos – den bevölkerungsreichsten Wirtschaftsraum Afrikas –, den Hauptstadtbezirk und den Bundesstaat Ogun verhängt hatte.  

Aus den Daten der beiden AutorInnen zeigte sich, dass die Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt nach der Verfügung des Lockdowns Ende März in 23 von 36 nigerianischen Bundesstaaten um 149% angestiegen sind. Während in den drei Bundesstaaten Federal Capital Territory, Lagos und Ogun die Zahl der Fälle von 60 im März auf 238 im April anstieg, was einem Anstieg von 297% entspricht, betrug der Anstieg in den Bundesstaaten Benue, Ebonyi und Cross River nur 53%. Dort hatten die jeweiligen Kommunalverwaltungen weniger strikte Sperren verfügt.  

Schwieriger Zugang zur Justiz für Opfer

Darüber hinaus hatte der Lockdown die Schliessung von Notunterkünften zur Folge, was den  Zugang zu lebensrettenden Diensten aber auch zur Justiz massiv erschwert;  also just in einer Zeit als diese am dringendsten benötigt wurden. Generell ist zu beobachten, dass der  Zugang zur Justiz, zu Rechtsschutz und Wiedergutmachung für Opfer immer schwieriger wird. Untersuchungen aus früheren Gesundheitskrisen wie der Ebolakrise in Westafrika haben gezeigt, dass der Verlust der Lebensgrundlagen darüber hinaus die Gefahr birgt, dass Frauen in die Prostitution gezwungen werden. Weil in Nigeria über 80% der erwerbstätigen Frauen im informellen Sektor mit wenig oder gar keinem sozialen Schutz und Sicherheitsnetz beschäftigt sind, ist diese Gefahr während der Coronakrise speziell ausgeprägt.  

In Nigeria sind zudem 18 Millionen Schülerinnen von Schulschliessungen betroffen. Die Schliessung der Schulen setzt heranwachsende Mädchen auch einem erhöhten Risiko von Kinderheirat und Teenagerschwangerschaften aus. Frühe Eheschliessungen sind an sich bereits weit verbreitet, denn 44% der Mädchen heiraten in Nigeria bevor sie 18jährig sind. In Nordnigeria, wo die Tradition der Bildung der Mädchen zusätzlich Steine in den Weg legt, haben arme Familien ihre Töchter während der Pandemie gezwungen zu heiraten, um entsprechende Brautgelder und Geschenke zu erhalten. Schon vor Covid-19 hatte Nigeria weltweit die dritthöchste absolute Zahl von Kinderbräuten; dieses Problem droht sich noch weiter zu verschärfen.  

Hindernisse beseitigen, Bedürfnisse abdecken

Die Herausforderungen, die das Coronavirus für Frauen darstellt, erfordert Engagement und Vertrauen. Die Bildung muss sich auf ganzheitlichere Massnahmen stützen, die über den Zugang zur Bildung hinausgehen und auch andere Hindernisse angehen, denen Mädchen und junge Frauen beim Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen begegnen. Hierfür muss die nigerianische Regierung für die Zeit nach der Pandemie strategische Pläne entwickeln. Die Abriegelungen haben gezeigt, dass die Regierung landesweit in die Computerinfrastruktur der Schulen investieren muss, um den Unterricht in Krisenzeiten zu garantieren; es braucht Pläne für ein Krisenmanagement und die Bereitstellung der dafür nötigen Gelder. Ministerien und Agenturen sollten nach Geschlechtern getrennte Daten erheben, um zu erfahren, wie die Schülerinnen und Schüler von den Schulschliessungen betroffen wurden. In allen 777 Bezirken Nigerias soll den Opfern von sexuellem Missbrauch Gerechtigkeit widerfahren; dafür müssen die auf Genderfragen spezialisierten Abteilungen der Behörden ausgebaut werden.

In der Nach-Coronazeit muss die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen gefördert werden, denn es sind die Frauen, die das Leben ihrer Familien und der Haushalte organisieren. Lobenswerte Regierungsprogramme zur Finanzierung der Händler- und Bauern müssen mit geschlechtsspezifischen Projekten für Mädchen und Frauen gestärkt werden. In einer Welt, die von Covid-19 hart getroffen worden ist, sind konkrete Politiken gegen die tödlichen Auswirkungen des Virus auf die Wirtschaft und die Frauen dringend notwendig.

Meinung

Der Globale Süden darf nicht von der Bildfläche verschwinden

01.02.2024, Weitere Themen

Bundesrat Albert Rösti will die Radio- und Fernsehabgabe deutlich senken. Ein solcher Schritt würde die Berichterstattung über vergessene Länder und Krisen weiter schwächen – und dadurch auch das Verständnis für globale Zusammenhänge und die Rolle der Schweiz.

Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

Der Globale Süden darf nicht von der Bildfläche verschwinden

Geografische Verteilung der Sendezeit in der Schweizer Tagesschau im Jahr 2022.

© Ladislaus Ludescher

Die vorgesehene Änderung der Radio- und Fernsehverordnung umfasst eine schrittweise Senkung der Abgabe von 335 auf 300 Franken pro Haushalt bis zum Jahr 2029 und die Befreiung weiterer Unternehmen von der Abgabepflicht. Seit 2019 zahlen Betriebe mit einem jährlichen mehrwertsteuerpflichtigen Gesamtumsatz bis 500'000 Franken keine Abgabe mehr. Neu soll diese Limite auf 1.2 Millionen Franken Jahresumsatz erhöht werden.

Durch diesen Kompromissvorschlag soll der Volksinitiative «200 Franken sind genug!» («SRG-Initiative») Wind aus den Segeln genommen werden. Dadurch legitimiert der Bundesrat aber auch einen Abbau, der verheerende Folgen für die umfassende Informiertheit der Bevölkerung haben würde.

Für die aussenpolitische Information der Bevölkerung ist nämlich der Leistungsauftrag der SRG zentral, wie auch Bundesrat Ignazio Cassis kürzlich in der Fragestunde des Parlaments betont hat. Laut Art. 6 der Konzession für die SRG SSR soll diese in ihren Informationsangeboten für eine umfassende, vielfältige und sachgerechte Berichterstattung sorgen. Sie soll insbesondere über politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle und soziale Zusammenhänge informieren und den Schwerpunkt auf die Darstellung und Erklärung des Geschehens auf internationaler, nationaler und sprachregionaler Ebene legen.

Bei entwicklungspolitischen Themen haben immer weniger Medien die nötigen Ressourcen, um dies zu tun. Gemäss Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich (fög) nehmen die Auslandberichterstattung und deren geographische Vielfalt in der Schweiz seit Jahren zunehmend ab. Auch die SRG beschränkt sich laut einer Studie immer mehr auf einzelne Regionen und Krisen, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Dies, obwohl laut einer Umfrage der ETH 46% der Befragten im Jahr 2022 angegeben haben, dass sie gerne mehr über die Lebensumstände an anderen Orten der Welt erfahren würden.

Das Aussendepartement hat leider schon mehrmals gezeigt, dass es dieses Anliegen sträflich ignoriert: Es hat den NGOs verboten, Programmbeiträge des Bundes für die Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit im Inland zu verwenden. Zudem hat es seine eigene Zeitschrift «Eine Welt» und die Finanzierung für die Medienförderung der Vereine «real21» und «En Quête d’Ailleurs» eingestellt.

Eine Senkung der Abgabe würde die Informationsangebote und insbesondere die Ausland-berichterstattung über den Globalen Süden zusätzlich schwächen. Dies ganz besonders in der lateinischen Schweiz, da die Auslandberichterstattung kosten- und ressourcenintensiv ist. In seinem letzten Buch hat auch der kürzlich verstorbene Tessiner Politiker Dick Marty auf blinde Flecken in der Medienberichterstattung hingewiesen und dafür plädiert, dass uns die Lage im Jemen oder in Äthiopien nicht egal sein darf.

Das Verständnis der Bevölkerung für globale Zusammenhänge und die Aufmerksamkeit für vergessene Krisen und komplexere entwicklungspolitische Themen ist eine Voraussetzung für die informierte Meinungsbildung in einer international stark vernetzten Schweiz. Im Zeitalter der Desinformation und der Finanzierungskrise des Journalismus ist ein gewichtiger, unnötiger Abbau des medialen Service public deshalb auch ein Angriff auf die Demokratie.

 

Meinung

Migration und Entwicklung nicht vermischen

16.08.2016, Internationale Zusammenarbeit

Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) stellt sich hinter den bundesrätlichen Vorschlag für die zukünftige Ausrichtung der Schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit.

Migration und Entwicklung nicht vermischen

© pixabay.com

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) stellt sich hinter den bundesrätlichen Vorschlag für die zukünftige Ausrichtung der Schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Erfreulicherweise wurde die Forderung nach deren Neuausrichtung auf Herkunftsländer von Asylsuchenden in der Schweiz zurückgezogen.
In der Debatte um die zukünftige Ausrichtung der Schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit wird immer wieder gefordert, Entwicklungszusammenarbeit soll in erster Linie in Herkunftsländern von in der Schweiz Asylsuchenden geleistet werden. Diese Forderung basiert auf dem Missverständnis, die Schweiz leiste vor allem Budgethilfe an ausländische Staaten. Stattdessen unterstützt sie zivilgesellschaftliche Organisationen, damit diese von ihren Regierungen eine verantwortungsvolle und entwicklungsfördernde Politik einfordern können. Diese sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit fordert eine breitere Mitsprache und Teilhabe an der Zukunftsgestaltung eines Landes und ist von Machthabern nicht unbedingt erwünscht. Dementsprechend kann sie nicht als Pfand in migrationspolitischen Verhandlungen mit Staatschefs dienen. In der APK-S wurde nun eine entsprechende Motion von Ständerat Thomas Minder (SVP/SH) zurückgezogen.
Leider verpasst es die APK-S aber, angesichts der gestiegenen internationalen Herausforderungen auf dem  früheren Parlamentsbeschluss zu bestehen, die APD-Quote bei 0.5% zu halten. Angesichts der aktuellen globalen Krisen sollte die Schweiz alles daran setzen, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf die international zugesagten 0.7% des BNE zu erhöhen. Mit dem Weckruf gegen Hunger und Armut verlangen über 75 Organisationen vom Parlament, dieses Versprechen endlich einzulösen.