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Meinung
Freihandelsabkommen mit Indien: Welches Risiko entsteht für Generika und Saatgut?
23.01.2024, Handel und Investitionen
Wirtschaftsminister Guy Parmelin gab am Sonntag bekannt, dass er mit Indien eine grundsätzliche Einigung über den Abschluss eines Freihandelsabkommens erzielt habe. Über dieses wurde seit 16 Jahren verhandelt. Ohne weitere Details zu nennen, versicherte er, dass sich die beiden Parteien auch beim grössten Zankapfel, dem Patentschutz, geeinigt hätten.

Indische Wissenschaftlerinnen arbeiten in einem Labor des Forschungs- und Entwicklungszentrums in Hyderabad, Indien.
© Keystone / AP / Mahesh Kumar
Es ist nicht bekannt, was diese Vereinbarung genau beinhaltet: Die Verhandlungen sind geheim und noch nicht abgeschlossen. Alliance Sud und indische Organisationen wie das Third World Network (TWN) sind allerdings beunruhigt. Bisher hat die indische Regierung immer beteuert, dass sie die Rechte an geistigem Eigentum (im Jargon TRIPS+ genannt) in Freihandelsabkommen nicht stärken will. Es ist aber gut möglich, dass die Schweiz TRIPS+-Bestimmungen als Bedingung für den Abschluss des Freihandelsabkommens gefordert hat. Somit ist zu befürchten, dass solche Bestimmungen in den endgültigen Text aufgenommen werden könnten.
Aus Sicht des Rechts auf Gesundheit wäre dies gravierend: Indien ist der weltweit grösste Hersteller von Generika, die in den Globalen Süden exportiert werden. Nach geltendem Recht und wie im TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO) festgehalten, beträgt die Laufzeit von Patenten 20 Jahre ab dem Anmeldetag. Das Freihandelsabkommen könnte eine Verlängerung der Patentlaufzeit über 20 Jahre hinaus vorsehen, wodurch sich die Markteinführung von Generika verzögern würde.
Ausserdem sieht das derzeitige indische Gesetz keine Datenexklusivität vor. Das bedeutet, dass ein Medikament jederzeit zugelassen werden kann, egal ob es sich um ein neues Produkt oder um ein Produkt handelt, das irgendwo auf der Welt zugelassen wurde. Das Freihandelsabkommen könnte Indien dazu zwingen, sein Gesetz zu ändern, um die Datenexklusivität einzuführen, was die Markteinführung von Generika ebenfalls verzögern würde.
Schliesslich erteilt Indien im Rahmen des derzeitigen Systems keine Patente für die neue Verwendung eines bekannten Moleküls (Evergreening). Das Freihandelsabkommen könnte von Indien verlangen, eine solche Verpflichtung einzuführen.
Wenn das Abkommen diese Bestimmungen enthält, wird Indien das Patentgesetz ändern und die darin vorgesehene Flexibilität einschränken müssen. Dies wäre ein Präzedenzfall auch in den laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkommen zwischen Indien und der Europäischen Union, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten.
Ein weiteres Problem könnte sich mit Blick auf das Saatgut ergeben. Normalerweise verlangt die Schweiz von den Ländern im Globalen Süden, mit denen sie Freihandelsabkommen aushandelt, dass sie UPOV 91 beitreten. Dieses Übereinkommen privatisiert das Saatgut, so dass es für Bäuer:innen schwieriger wird, es wiederzuverwenden und zu tauschen. Sollte sich diese Bestimmung auch im Abkommen mit Indien wiederfinden, würde dies das Recht auf Nahrung von Kleinbäuer:innen gefährden, die sich patentiertes Saatgut nicht leisten können oder wollen.
Alliance Sud fordert den Bund auf, den Schleier über diese Verhandlungen zu lüften: Das Recht auf Gesundheit der indischen Bevölkerung und der Zugang zu Saatgut dürfen nicht gefährdet werden, insbesondere für die verletzlichsten Menschen.
Meinung
Krisenhilfe zu Lasten der Ursachenbekämpfung
18.09.2015, Internationale Zusammenarbeit, Entwicklungsfinanzierung
Alliance Sud kritisiert den Entscheid des Bundesrats, wie die Nothilfe für Syrien und andere Krisenländer aufgestockt wird. So nötig das ist, so kurzfristig ist es, diese Mittel bei der langfristigen EZA einzusparen.

© Pascal Mora
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Der Bundesrat hat heute medienwirksam angekündigt, er wolle die Nothilfe für Syrien und andere Krisenländer aufstocken. Das ist dringend nötig. Alliance Sud kritisiert jedoch den Entscheid, einen grossen Teil dieser Mittel bei der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit einzusparen, als kurzsichtig.
Der heutige Entscheid war absehbar: Aussenminister Didier Burkhalter hatte in den Medien bereits mehrfach darauf hingewiesen, es brauche mehr Geld für die humanitäre Hilfe in Krisensituationen. Heute beschloss nun der Bundesrat, zusätzliche 70 Millionen Franken für Nothilfeeinsätze in Syrien und anderen krisengeplagten Ländern zu beantragen. Für Alliance Sud, die entwicklungspolitische Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Hilfswerke, ist Nothilfe in Krisengebieten ausgesprochen wichtig. Sie begrüsst deshalb die heute angekündigte Aufstockung, kritisiert aber scharf, dass der Bundesrat die Nothilfe gegen die langfristige Entwicklungszusammenarbeit ausspielt.
Denn die Finanzierung soll zu einem beträchtlichen Teil auf Kosten des Budgets für die langfristige Zusammenarbeit gehen. 2015 sind zugunsten der heute beschlossenen zusätzlichen Krisenhilfe Einsparungen bei der Entwicklungszusammenarbeit von bis zu 20 Millionen vorgesehen. Weiter ist damit zu rechnen, dass im Jahr 2016 nochmals 20 Millionen von der Entwicklungszusammenarbeit abgezwackt werden. Dazu will sich das EDA vorderhand aber nicht äussern.
«Es ist zynisch und kurzsichtig, wenn der Bundesrat die Krisenhilfe aufstockt und gleichzeitig bei der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit spart», betont Mark Herkenrath, Geschäftsleiter von Alliance Sud. Noteinsätze können Leben retten und sind in der aktuellen Krisensituation unabdingbar, aber nur die langfristig angelegte Entwicklungszusammenarbeit kann die Ursachen von Armut und Not bekämpfen. Zusätzliche Nothilfe ist deshalb zusätzlich zur Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren. «Wenn der Bundesrat heute bei der Entwicklungszusammenarbeit sparen will, muss er morgen wieder mehr Geld für kurzfristige Kriseneinsätze ausgeben», warnt Herkenrath.
Trotzdem hat der Bundesrat bereits in den vergangenen Wochen massive Sparmassnahmen bei der Entwicklungszusammenarbeit angekündigt. Sein bisheriger Budgetentwurf für 2016 sieht bei der Entwicklungszusammenarbeit der Deza Kürzungen von rund 60 Millionen Franken vor. Bei der Ostzusammenarbeit sollen rund 8 Mio. Franken und bei der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit des Seco sogar rund 20 Mio. gespart werden. Die heute beschlossene Aufstockung der Krisenhilfe dürfte nochmals weitere Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit bedeuten.
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Süd-Perspektive
Übergangsjustiz als Ultima Ratio
12.12.2023, Weitere Themen
Der Prozess zur Entschädigung der «Genocost»-Opfer in der Demokratischen Republik Kongo geht nur schleppend voran. Einige Fortschritte sind jedoch zu verzeichnen.

Eine Frau wartet an einer Registrierungsstelle für Binnenvertriebene, die vor dem Konflikt in der Provinz Kasai fliehen, 2017 in Gungu, Demokratische Republik Kongo.
© John Wessels / AFP
von Caleb Kazadi, Korrespondent von Justice Info in Kinshasa (RDC)
Nach drei Jahrzehnten der Gewalt steht fest: Die Zahl der Opfer in den verschiedenen Regionen der riesigen Demokratischen Republik Kongo (DRK) ist schier unermesslich, jedoch schwer quantifizierbar. Einige offizielle Schätzungen gehen von bis zu 10 Millionen Toten aus, welche dieser «Genocost» (der Begriff steht für Verbrechen aus Profitgier) gefordert hat. Mehrere zehntausend Frauen wurden über die Dauer des Konflikts in vielen der betroffenen Regionen der DRK Opfer sexueller Gewalt. Im Jahr 2020 betonte der Ministerrat unter dem Vorsitz des kongolesischen Präsidenten Tshisekedi, wie wichtig die Unterstützung des Prozesses und der Mechanismen der Übergangsjustiz sei, um Verantwortlichkeiten zu klären, Gerechtigkeit zu schaffen und Versöhnung zu ermöglichen. Drei Jahre später warten die Opfer immer noch auf den Beginn der Wiedergutmachung.
Mimie Witenkate, ein Gründungsmitglied der Congolese Action Youth Platform (CAYP), fordert die Regierung auf, die Empfehlungen des Mapping-Berichts der UNO umzusetzen, der die Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo zwischen 1993 und 2003 dokumentiert. Der Bericht sieht insbesondere drei Nachbarländer in der Verantwortung: Burundi, Ruanda und Uganda. Die Aktivistin betont anlässlich des Gedenktages des kongolesischen Völkermords dass «ohne Gerechtigkeit keine Wiedergutmachung möglich ist. Frauen, die vergewaltigt wurden, erhalten einen kleinen Geldbetrag. Doch was ist danach? Ein paar Meter weiter wohnen Menschen, die Frauen und ihre Familienmitglieder verbrannt haben. Wie ist so ein Zusammenleben möglich?».
Ein neues Gesetz und ein Fonds zur Wiedergutmachung
Einige Fortschritte sind jedoch zu verzeichnen. Zum einen hat das Land im Dezember 2022 ein neues Gesetz verabschiedet, das den Schutz und die Wiedergutmachung für Opfer sexueller Gewalt in Verbindung mit Konflikten, Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschen zum Gegenstand hat. Das Gesetz soll es ermöglichen, « Gewalt zu vermeiden und unsere Bevölkerung ein für alle Mal vor dem Wiederaufflammen solcher Gräueltaten zu schützen», so die Schirmherrin des Gesetzes, First Lady Denise Nyakeru Tshisekedi.
Ferner hat die DR Kongo zwei öffentliche Fonds für die Entschädigung von Opfern schwerer Verbrechen eingerichtet. Dabei handelt es sich um den Sonderfonds für die Entschädigung der Opfer der illegalen Aktivitäten Ugandas in der Demokratischen Republik Kongo, FRIVAO, und den nationalen Fonds für die Entschädigung der Opfer konfliktbedingter sexueller Gewalt und der Opfer von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschen, FONAREV. Der FRIVAO, der im Mai 2023 geschaffen wurde, ist für die Opfer des Sechstagekrieges von 2000 in Kisangani im Nordosten der DRK bestimmt, an dem ugandische Streitkräfte beteiligt waren. Der zweite Fonds wurde für die Opfer anderer schwerer Verbrechen eingerichtet, die seit 1993 begangen wurden.
Träger Entschädigungsprozess
Der Fall des FRIVAO steht symbolisch für die Trägheit, mit der dieser Prozess vonstattengeht. Im September 2022 überwies Uganda die erste Rate der Reparationszahlungen für die seinem kongolesischen Nachbarn zugefügten Schäden in Höhe von 65 Millionen US-Dollar, basierend auf einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs. Fast ein Jahr später ist noch immer nichts davon an die Opfer ausgezahlt worden. Obwohl der Sitz von FRIVAO eigentlich in Kisangani geplant war, begnügt sich die Einrichtung derzeit mit einem Verbindungsbüro in den Räumlichkeiten des Justizgebäudes in Kinshasa.
Der Fonds ist mit keinen zweckgebundenen betrieblichen Mitteln ausgestattet, um sein Funktionieren zu gewährleisten. Laut einer mit dem Fall vertrauten Quelle ist der gesamte ugandische Geldbetrag ausschliesslich für die Opfer bestimmt, sodass kein Cent für andere Zwecke zur Verfügung steht. Im Protokoll des Ministerrats vom 18. August heisst es jedoch, die Zuweisung der ersten Zahlung von 65 Mio. USD, die Uganda im September 2022 geleistet hatte und die sich auf einem Übergangskonto befand, sei soeben ausgelöst worden. Aktuell wird an der Ausarbeitung eines strategischen Plans für die Übergangsjustiz gearbeitet. Dieses Dokument soll als Kompass für alle Massnahmen der Übergangsjustiz dienen, erklärt Joseph Khasa, Berater des Menschenrechtsministers, der für Fragen der Übergangsjustiz zuständig ist.
Schürfgebühren für die Opferentschädigung
Der Nationale Fonds für die Entschädigung von Opfern sexueller Gewalt (FONAREV) steht hingegen vor einem anderen Finanzierungsproblem. Für diese öffentliche Einrichtung waren ursprünglich 100 Millionen US-Dollar vorgesehen, die jedoch gegenwärtig nicht verfügbar sind. Gemäss dem Gesetz zur Einrichtung des FONAREV muss seine Finanzierung unter anderem aus Schürfgebühren oder externen Beiträgen – von Geldgebern, internationalen und philanthropischen Organisationen – stammen. Der Fonds hält sich zwar bezüglich dieser externen Beiträge wie auch zu seinem Budget im Allgemeinen bedeckt, doch erliess die Regierung Mitte August ein Dekret, das die Modalitäten für die Erhebung und Verteilung der Schürfgebühren festlegt. Der Text bestätigt den prozentualen Anteil von 11% der Schürfgebühren zugunsten des FONAREV. Dabei dürfte es sich um eine beträchtliche Summe handeln, spülen diese Gebühren doch jährlich mehrere hundert Millionen US-Dollar in die Staatskasse.
Justice Info
Justice Info ist ein Medium der Fondation Hirondelle, das über aktuelle Gerechtigkeitsinitiativen in Ländern berichtet, die mit schwersten Gewalttaten wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Völkermord konfrontiert sind. Die vielgestaltige und sich ständig weiterentwickelnde Übergangsjustiz (transitional justice) ist eine grosse Chance für den Wiederaufbau eines Volkes. Das Leitmotiv der Chefredaktion von Justice Info, die sich aus Fachjournalist:innen von unbestrittener internationaler Glaubwürdigkeit zusammensetzt, lautet: «Damit Gerechtigkeit geschaffen werden kann, muss sie auch sichtbar sein». Die Aufgabe von Justice Info besteht darin, all diese Prozesse zugänglich und verständlich darzustellen. Es geht darum, die Übergangsjustiz zu demokratisieren, sie in ihrer Lesart im weitesten Sinne populär zu machen und so einen Dialog zwischen ihren Akteuren und ihren Begünstigten zu ermöglichen.
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Hinter den Schlagzeilen
Mit der Pistole auf dem Jetski
12.12.2023, Weitere Themen
Als Bernardo Arévalo im vergangenen August in Guatemala die Präsidentschaftswahl gewinnt, ist das eine Sensation und eine grosse Überraschung. Arévalo ist der Hoffnungsträger der Unterdrückten, Armen und Indigenen. Doch die Hoffnung hält nicht lange an.

© Karin Wenger
von Karin Wenger
An die Waffen gewöhnen wir uns nur mit Mühe. Selbst in der Werft am Rio Dulce, in der wir seit Anfang August unser Segelboot auf den Pazifik vorbereiten, sehen wir sie überall. Die Reichen, die hier ihre Schnellboote unterbringen und am Wochenende für Spritztouren auf dem See in Helikoptern angeflogen kommen, tragen ihre Pistolen in Halftern über der Badehose. Selbst wenn sie auf ihre Jetskis steigen, legen sie die Waffen nicht ab. Einmal gibt es eine Schiesserei im Städtchen und bei einem Volksfest mit Rodeo, das zu Ehren eines Heiligen abgehalten wird, tragen die Männer ihre Waffen spazieren wie die Frauen ihre Handtaschen.
Was ist das für ein Land, in dem Gewaltbereitschaft so natürlich zur Schau gestellt wird? Eines mit einer gewaltsamen Vergangenheit. Dabei hätte Guatemalas Geschichte auch ganz anders verlaufen können, denn 1945 war der Beginn eines kurzen demokratischen Frühlings. Juan José Arévalo wurde in den ersten freien Wahlen des Landes zum Präsidenten gewählt. Er versprach Landreformen, mehr soziale Gerechtigkeit, ein Ende der halbfeudalen Strukturen und dass er Guatemala zu einem unabhängigen Land machen werde. Guatemala war damals faktisch eine US-amerikanische Kolonie unter der Kontrolle der United Fruit Company. Diese besass unter anderem riesige Ländereien, auf denen sie Bananen anpflanzte. Das Land war eine «Bananenrepublik» im wahrsten Sinne des Wortes und so sollte es auch bleiben. Arévalos Regierung konnte zwar mehrere Putschversuche abwehren, doch am 18. Juni 1954 putschte eine kleine Exilarmee mit Hilfe der CIA Arévalos Nachfolger weg. Arévalo floh ins Exil. In Guatemala folgte darauf eine Militärdiktatur auf die nächste. Die USA lebte gut mit ihnen und schaute zu, als guatemaltekische Regierungstruppen im Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 schätzungsweise 250'000 Guatemaltek:innen, die meisten von ihnen Indigene, ermorden oder verschwinden liessen.
Der Bürgerkrieg ist zwar längst vorbei, aber noch heute gehört Guatemala zu den Ländern mit den meisten politischen Morden. Indigene, Menschenrechtler:innen, Umweltaktivist:innen und Journalist:innen müssen weiterhin um ihr Leben fürchten, wenn sie Kritik üben. Der 41-jährige Journalist Carlos Ernesto Choc, ein Indigener der Maya Q’eqchi, spürt diese Repression am eigenen Leib, seit er 2017 einen Umweltskandal am Izabal-See aufgedeckt hat. Damals färbte sich der See rot, verschmutzt durch Abwasser der Fénix Nickelmine. Die Mine gehört einem Tochterunternehmen der Solway Group, die in Zug registriert ist. Als die Fischer gegen die Minenbetreiber zu protestieren begannen, schickte die Regierung die Polizei. Als diese den demonstrierenden Fischer Carlos Maaz tötete, war Choc da und publizierte die Fotos und die Geschichte. Seither wird er von der Polizei drangsaliert und von der Regierung kriminalisiert und mit Verleumdungsklagen eingedeckt. Über ein Jahr lebte er im Untergrund, um einer Verhaftung zu entgehen. Wir treffen uns in Rio Dulce, in der Nähe seines Heimatdorfs El Estor am Izabal-See. «Während der Militärdiktatur haben sie uns Angst eingeimpft. Uns Indigenen haben sie gesagt, ihr seid Wilde und eigentlich existiert ihr gar nicht. Sie, die korrupte Elite unseres Landes, hat nicht damit gerechnet, dass wir überleben und uns wehren werden gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und ihren Raubbau an der Natur.»
Guatemala hat ungefähr 17 Millionen Einwohner:innen, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Armut und Indigene werden bis heute als Bürger:innen zweiter Klasse behandelt. Korruption ist so weit verbreitet, dass Guatemala auf dem Korruptionsindex von Transparency International jüngst auf den 150. von 180 Plätzen zurückfiel. Es erstaunt nicht, dass die Mächtigen im Land, die seit Jahrzehnten die Fäden in Politik, Wirtschaft, Justiz, Polizei und Armee ziehen, den Übernamen «Pakt der Korrupten» tragen.
Als Bernardo Arévalo im vergangenen August die Stichwahl um das Präsidentenamt gewinnt, sind es die Angehörigen dieses Paktes, die besonders erbost darüber sind, denn sie müssen nun um ihre Pfründe fürchten. Der 64-Jährige ist der Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten und verspricht, wie einst sein Vater, Korruption zu bekämpfen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Während die Amerikaner Juan José Arévalo vor achtzig Jahren noch bekämpft hatten, heissen sie nun seinen Sohn willkommen. Sie hoffen, dass er Arbeitsplätze schaffen und damit den Strom der Migrant:innen in die USA stoppen wird. In der Politik geht es immer um Eigeninteressen. Diese sieht die Elite Guatemalas nun in Gefahr und versuchte deshalb mit Hilfe des Justizapparats, Arévalos Sieg zu annullieren, so dass er im Januar 2024 sein Amt nicht antreten kann. Doch der Druck aus dem Ausland und aus den Dörfern ist gross, und so schaffte es das politische Establishment bislang nur, mit Hilfe der Staatsanwaltschaft Arévalos Partei Movimiento Semilla (Samenkorn-Bewegung) zu suspendieren. Arévalo spricht von einem Staatsstreich, der «Schritt für Schritt» durchgeführt werde. Er weiss, wie wütend die Bevölkerung darüber ist.
Seit Anfang Oktober bauen Indigene, Arbeiter:innen, Gewerkschaftsführer:innen und jene, die sich ihrer Stimme beraubt fühlen, überall im Land Strassensperren auf. Sie fordern, dass die korrupten Staatsanwälte abtreten, dass ihre Hoffnung auf mehr Rechte und Gerechtigkeit nicht im Keim erstickt wird. Auch die Hauptzufahrtsbrücke zu Rio Dulce wird gesperrt. «Wir haben es satt, arm zu sein», singt einer auf der Brücke. «Weg mit den Korrupten» steht in grossen Lettern auf einem Plakat. Nach wenigen Tagen gibt es keine Früchte, kein Gemüse, Mehl oder Zucker mehr in den Supermärkten und an Marktständen. Die Bankomaten sind leer, die Tankstellen auch. Die Lebensmittelpreise steigen. Am 16. Oktober wird der erste Demonstrant erschossen. Niemand scheint das zu erstaunen. Als ob sich alle längst an die Gewalt gewöhnt hätten.
Der indigene Journalist Carlos Ernesto Choc aber fokussiert nicht auf die Gewalt, sondern auf die Hoffnung: «Das ist ein historischer Moment. Zum ersten Mal sind wir, die verschiedenen indigenen Gruppen, die Mestizen, Aktivist:innen und Gewerkschaften vereint gegen die Regierung. Wir alle haben genug von ihrem korrupten, diskriminierenden System.» Deshalb bleiben viele Strassensperren wochenlang bestehen und deshalb demonstrieren die Menschen weiter. «Nur so werden sie uns endlich zuhören und nicht mehr sagen können, dass wir nicht existieren, dass unsere Stimmen nichts zählen. Sie können uns nicht länger ignorieren.»

© Karin Wenger
Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
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Interview
Solidarität der Schweiz auf dem Prüfstand
21.11.2023, Internationale Zusammenarbeit
Professor Jacques Forster hat mit drei Büchern die Doppelmoral staatlicher Entwicklungspolitik beleuchtet. Er plädiert für mehr Solidarität und Multilateralismus – und kann nicht verstehen, weshalb der Bund die Bildungsarbeit der NGOs nicht mehr unterstützt.

Jacques Forster hat viele Jahre am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf (IHEID) unterrichtet. Davor hat er zehn Jahre für die DEZA gearbeitet, unter anderem als Verantwortlicher für Lateinamerika. Zwischen 1999 und 2007 war er Vizepräsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
© Alliance Sud
In Ihrem neuen Werk «Coopération Nord-Sud: la solidarité à l’épreuve» (Zusammenarbeit Nord-Süd: Solidarität auf dem Prüfstand) bringen Sie 100 Jahre internationaler Zusammenarbeit auf den Punkt. Macht es heute überhaupt noch Sinn, von «Süden» und «Norden» zu sprechen?
Die Vorstellung einer nachholenden Entwicklung ärmerer Länder ist tatsächlich überholt. Die reichen Länder selbst haben grosse Entwicklungsprobleme! Was aber weiterhin besteht, sind die enormen Ungleichheiten auf der Welt. Insofern soll das Konzept «Nord-Süd» an diese Kluft erinnern und uns dazu bewegen, die Armutsbekämpfung stärker in den Fokus zu nehmen.
Internationale Organisationen werden von nationalen Eigeninteressen überschattet. Was müsste ein solidarischer Staat heute tun?
Es ist leider offensichtlich, dass die Staaten für die internationale Zusammenarbeit immer weniger Interesse zeigen. Ein Ausweg liegt auf der Hand: Die zweckgebundenen (earmarked) Beiträge für multilaterale Organisationen sollten frei zur Verfügung gestellt werden, was keinen zusätzlichen Franken kosten und den Handlungsspielraum der UNO erhöhen würde.
Müsste ein reiches Land wie die Schweiz nicht auch mehr Mittel bereitstellen?
Für ein Land, das sich so stolz zeigt auf sein internationales Genf und seine humanitäre Tradition, macht die Schweiz eindeutig zu wenig: Ihre multilateralen Beiträge liegen unter dem Durchschnitt der OECD/DAC-Mitglieder.
Sollte man nicht auch die Definition der öffentlichen Entwicklungshilfe selbst überdenken?
Sicher, denn um das Volumen der öffentlichen Hilfe zu erhöhen, hat der DAC die Liste dessen, was als Entwicklungshilfe angerechnet werden kann, verlängert: z. B. um die Kosten für die Verwaltung der Hilfe in den Geberländern selbst oder bestimmte Kosten, die mit der Aufnahme von Asylsuchenden in diesen Ländern verbunden sind. Diese Neudefinition sollte im Rahmen der Vereinten Nationen erfolgen, denn es ist heute nicht vorstellbar, dass nur die Geberländer, die Mitglieder des DAC sind, diese Definition überarbeiten. Die Länder des Südens, die öffentliche Entwicklungshilfe leisten (z. B. China, Brasilien, die arabischen Öl- und Gasexporteure), sowie Vertreter der Empfängerländer und NGOs sollten ebenfalls an dieser Aufgabe beteiligt werden.
Mit der neuen IZA-Botschaft erreicht die Schweiz einen neuen historischen Tiefpunkt der letzten Dekade: 0,36% statt 0,7% des Bruttonationaleinkommens wie im Rahmen der UNO beschlossen. Wie beurteilen Sie die neue Strategie?
Welche neue Strategie? Ich bin entsetzt über die Tatsache, dass in dieser ausserordentlichen Krisenzeit so stark auf Kontinuität gesetzt wird. Der Fokus auf Armutsbekämpfung, wie er gesetzlich verankert ist, wird nicht berücksichtigt. Beispielsweise erreichte die Hilfe der Schweiz für die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) im Jahr 2021 nicht das von den Vereinten Nationen empfohlene Mindestniveau von 0,2% des Bruttonationaleinkommens!
Ist es ein politischer Entscheid des Aussenministeriums oder en kollektives Versagen, das die wahre «Unsolidarität» der Schweiz aufdeckt?
Ich hatte mal die öffentliche Entwicklungshilfe der kleinen Länder untersucht. Die meisten Staaten haben gleichzeitig damit begonnen, aber ihre Ausgaben sehr unterschiedlich erhöht. Wissen Sie warum?
Weil an der Spitze unterschiedliche Parteien standen?
Eher spielte eine Rolle, dass gewisse Länder, vor allem in Skandinavien, die nationale Solidarität mit der internationalen Solidarität verknüpft haben. Trotz zunehmenden Interdependenzen hat die Schweiz dies immer noch nicht verstanden.
Haben Sie eine Vermutung, weshalb dem so ist?
Die Schweiz profitiert von der wirtschaftlichen Globalisierung, engagiert sich aber weniger bei der internationalen Bewältigung anderer globaler Herausforderungen.
Trotzdem beruft sich die Schweizer Aussenpolitik immer wieder auf ihre humanitäre Tradition. Warum hält sich dieser Mythos immer noch so hartnäckig?
Einerseits wegen des Gründers des Roten Kreuzes, Henry Dunant, der die humanitäre Bewegung stark geprägt hat; andererseits wegen der Neutralität, die für das humanitäre Engagement immer zentral war. Man ist also an das Bild der Schweiz gebunden, das die humanitäre Hilfe projiziert. Sogar die SVP, die gegenüber der Entwicklungszusammenarbeit sehr kritisch ist, befürwortet die humanitäre Hilfe, weil sie gut für die Reputation ist. Was die Neutralität angeht, wäre es Zeit, sie in einer sich verändernden Welt zu überdenken.
Am Schluss Ihrer Trilogie betonen Sie die wichtige Rolle der NGOs. Inwiefern können diese einen Unterschied machen in einer Welt, die immer stärker von wirtschaftlichen Akteur:innen und Interessen dominiert wird?
NGOs spielen eine zentrale Rolle, nicht nur in der Projektarbeit, sondern auch politisch. Sie teilen in der Regel die gleichen Werte über kulturelle Grenzen hinweg und bringen international Themen wie die Menschenrechte voran. Deshalb kann ich nicht verstehen, wenn die Schweizer Behörden ihnen Steine in den Weg legen und die DEZA es nicht mehr erlaubt, dass mit den Programmbeiträgen auch Aktivitäten zur Bildung und Sensibilisierung in der Schweiz unterstützt werden. Diese wären gerade für ein besseres Verständnis der Bevölkerung für den Globalen Süden zentral. Und davon würde auch die DEZA profitieren.
Haben Sie trotzdem noch Grund zur Hoffnung?
Ganz bestimmt. Ich bin beeindruckt und ermutigt vom Engagement der jungen Generation, die am besten verstanden hat, wie dringend es ist, auf eine nachhaltigere und damit gerechtere Weltgesellschaft hinzuarbeiten. Sie muss von den heutigen Entscheidungsträger:innen gehört werden.
Die drei Bücher von Jacques Forster sind bei Editions Livreo-Alphil, Neuchâtel, auf Französisch erschienen. Ein viertes Buch ist in Planung zum Thema «Fragile Staaten und gefährdete Gemeinschaften».
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WTO: Afrikas Revanche
15.02.2021, Handel und Investitionen
Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala ist die neue Chefin der Welthandelsorganisation (WTO) mit Sitz in Genf: Eine Premiere für Afrika und für eine Frau. Die Ökonomin muss sich nun für eine Entwicklung einsetzen, die niemanden zurücklässt.

Ngozi Okonjo-Iweala
© Isolda Agazzi
Die Wahl der 66-jährigen Ngozi ist nicht zu unterschätzen in einer Zeit, in der der Multilateralismus von allen Seiten untergraben wird und die WTO zum Stillstand gekommen ist. Aber was bedeutet schon "Stillstand"? Seit der Gründung der WTO im Jahr 1995 hat sich die Welt verändert und die Machtverhältnisse haben sich verschoben. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Industrieländer den Entwicklungsländern ihren Willen diktieren konnten. Die Entwicklungsländer lassen sich nicht mehr zu einer Liberalisierung zwingen, die vor allem den Interessen des Kapitals in den Ländern des Nordens dient.
Der Beweis: Seit dem Abkommen über Handelserleichterungen im Jahr 2015 wurde kein multilaterales, alle Mitglieder verpflichtendes Abkommen mehr geschlossen. In Buenos Aires einigte man sich 2017 darauf, plurilaterale Verhandlungen - in kleinen Gruppen – zu einigen wenigen Themen aufzunehmen: elektronischer Handel, Investitionserleichterungen, Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und innerstaatliche Regelungen im Dienstleistungsbereich. Das einzige multilaterale Abkommen, das derzeit verhandelt wird, ist jenes über Fischereisubventionen, das eigentlich bis Ende 2020 hätte abgeschlossen werden sollen. Das war nicht der Fall und die TeilnehmerInnen hoffen, es noch vor der diesjährigen Ministerkonferenz in Kasachstan unter Dach und Fach zu bringen, falls sie denn überhaupt stattfindet.
Die meisten afrikanischen Länder nehmen nicht an den e-trade-Verhandlungen teil, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Nigeria, das die Erklärung in Buenos Aires gleich zu Beginn mitunterzeichnete. Sie befürchten eine "digitale Kolonisierung" und glauben, dass sie zunächst ihren Zugang zum Internet verbessern müssen.
Neue Herausforderungen mit der Corona-Pandemie
Die Coronavirus-Krise hat neue Herausforderungen mit sich gebracht. Nach Schätzungen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) werden die 47 ärmsten Länder der Welt (fast alle davon in Afrika) mit einem Rückgang ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) um durchschnittlich 0,4% die schlechteste Wirtschaftsleistung der letzten 30 Jahre verzeichnen. Noch schlimmer: Die UNCTAD schätzt, dass in denselben Ländern zusätzliche 32 Millionen Menschen in die extreme Armut gedrängt wurden, wodurch jahrzehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte gemacht wurden. Es wird erwartet, dass weltweit mehr als 100 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze fallen werden.
In diesem Zusammenhang ist es wichtiger denn je, dass die WTO ein starkes Bekenntnis zu den armen Ländern abgibt und dass ihre Mitglieder sich bereit erklären, Handelsabkommen, die ihnen nicht viel gebracht haben, neu auszutarieren. Die Tatsache, dass eine afrikanische Frau zur Generaldirektorin gewählt wurde und dass sie ihr Engagement für Entwicklung bekräftigt hat, ist vielversprechend. Ein erleichterter Zugang für arme Länder zu Impfstoffen, Tests und anderen Schutzausrüstungen gegen Covid ist lebenswichtig, und es ist inakzeptabel, dass reiche Länder, einschliesslich der Schweiz, sich dem von Südafrika und Indien geforderten und von rund 50 Ländern unterstützten Verzicht auf geistige Eigentumsrechte in Zeiten der Pandemie widersetzen.
Die WTO muss den am wenigsten entwickelten Ländern (Least Developed Countries, LDCs) eine Befreiung von allen Verpflichtungen im Rahmen des TRIPS-Abkommens (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum) gewähren, solange sie LDCs sind und 12 Jahre darüber hinaus, wie sie es gerade beantragt haben – ein Antrag, der von der internationalen Zivilgesellschaft, darunter Alliance Sud, unterstützt wird.
Ngozi Okonjo-Iweala, überzeugte Liberale
Aber machen wir uns nichts vor: Ngozi Okonjo-Iweala war zweimal Nigerias Finanzministerin und arbeitete 25 Jahre lang bei der Weltbank, bis sie die Nummer zwei der Institution wurde. Sie ist also eine überzeugte Liberale, die die Privatisierungen in ihrem Land mit den uns bekannten dramatischen sozialen Folgen angeführt hat. Aber sie zeichnete sich auch im Kampf gegen die Korruption aus und erreichte eine Reduzierung der Staatsverschuldung um 65%.
2021 könnte das Jahr von Afrika werden. Am 1. Januar trat die Panafrikanische Freihandelszone (AfCFTA) in Kraft, eine der grössten Freihandelszonen der Welt mit 1,2 Milliarden Menschen und einem BIP von 2.500 Milliarden US-Dollar. Ein Fortschritt angesichts der Tatsache, dass der Handel zwischen den afrikanischen Ländern immer noch sehr begrenzt ist. Die regionale Integration könnte aber auch zu einem zweischneidigen Schwert für die Schwächsten werden: Kleinbauern, kleine Händler, indigene Völker. Freier Handel bringt immer Gewinner und Verlierer mit sich, sei es zwischen Ländern des Nordens und des Südens oder zwischen Ländern des Südens selbst – und die Verlierer müssen geschützt werden.
Heute wurde eine Afrikanerin an die Spitze der WTO gewählt. Hoffen wir, dass dies ein gutes Omen ist zu einer Zeit, in der Afrika eine beeindruckende Dynamik und einen eisernen Willen zeigt, die Coronavirus-Krise zu überwinden und seine Entwicklung fortzusetzen.
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Meinung
«Der Kampf für Gerechtigkeit geht weiter»
02.10.2023,
Der Krieg in Darfur hat seine Heimatstadt Nyala zerstört. Aber nicht den Ruf nach Gerechtigkeit und Frieden, schreibt der sudanesische Journalist und Menschenrechtsbeobachter Ahmed Gouja.

Im Jahr 2021 begannen viele der Binnenvertriebenen in Nyala, in benachbarte Dörfer umzusiedeln. Doch der blutige Konflikt der letzten Monate im Sudan zwang diese Frauen, erneut zu fliehen.
© Ala Kheir
Wochenlang hatten Explosionen und Schüsse unser Viertel erschüttert; wir schlossen uns in unseren Häusern ein und die Kinder versteckten sich unter den Betten. Dann geschah das Unvermeidliche: Eine Granate durchschlug das dünne Blechdach unseres Hauses. Mein achtjähriger Neffe Muhanad sass auf dem Schoss seiner Mutter, als die Granate fast geräuschlos in unserem Wohnzimmer einschlug. Sie traf ihn am Kopf und verwundete ihn so schwer, dass er beinahe gestorben wäre. Geschichten wie diese sind in meiner Heimatstadt Nyala, der grössten Stadt der sudanesischen Region Darfur, an der Tagesordnung. Wie ein grosser Teil von Darfur wurde sie durch den im April ausgebrochenen Krieg zwischen der Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces zerstört.
Als Journalist und Menschenrechtsaktivist habe ich jahrelang den Konflikt in Darfur dokumentiert. Aber nichts konnte mich darauf vorbereiten, wie es sich anfühlt zu sehen, wie meine Stadt geplündert wird, wie meine Verwandten und Freunde getötet werden, wie meine Nachbarn ihre Arbeit verlieren und allmählich verhungern. Ich habe gelernt, dass Krieg nicht nur Tod und Zerstörung bedeutet. Krieg wirkt sich auch auf unser Handlungsbewusstsein aus: Er gibt uns das Gefühl, machtlos zu sein, nichts tun zu können, um die Dinge zu verbessern.
Als mein Neffe von der Granate getroffen wurde, brachten wir ihn in ein örtliches Krankenhaus und mussten feststellen, dass alle Ärzte geflohen waren und es nicht einmal ein Bett für ihn gab. Stundenlang sassen wir mit Verbandszeug da und versuchten, die Blutung zu stoppen. Wir fühlten uns völlig hilflos. Später an jenem Tag begaben wir uns zu einem der wenigen privaten Krankenhäuser, die noch geöffnet waren. Die Operation kostete Tausende von Dollar. Wir konnten das Geld aufbringen; andere Familien, die mit sterbenden Angehörigen kamen, konnten dies nicht.
Der Onkel tot, der Nachbar erschlagen
Ich wurde 1985 geboren, nur wenige Jahre bevor unser ehemaliger, autokratischer Präsident Omar al-Bashir durch einen Militärputsch an die Macht kam. Er hielt sich drei Jahrzehnte lang an der Macht und terrorisierte die Darfuris in seiner Amtszeit. 2003, als der Krieg in Darfur ausbrach, besuchte ich die Sekundarschule. Rebellen mit überwiegend nicht-arabischem Hintergrund protestierten gegen ihre Ausgrenzung und lehnten sich gegen die Regierung von al-Bashir auf. Dieser reagierte mit der Bewaffnung der als Janjaweed bekannten arabischen Miliz von Darfur, welche Millionen von nicht-arabischen Menschen aus Darfur vertrieb und sich dann deren Land aneignete. Später wurde sie in die Rapid Support Forces (RSF) umgewandelt ̶ jene paramilitärische Gruppierung, die heute gegen die Armeeeliten kämpft, die sie selbst hervorgebracht hat.
Der derzeitige Krieg brach in Khartum aus, breitete sich aber schnell auf Darfur aus. In einigen Gebieten verüben die RSF und verbündete arabische Milizen Angriffe auf die nicht-arabische Bevölkerung und setzen damit das fort, was vor 20 Jahren begann. In Städten wie Nyala hingegen kämpfen sie hauptsächlich gegen die Armee. Die ersten Wochen des Konflikts in Nyala waren die schwierigsten. Verwandte zu beerdigen, wurde für die Menschen zu einer traurigen Alltagsbeschäftigung. Das Artilleriefeuer der Armee war omnipräsent. Dann kam die Nachricht, dass ein Bekannter in Stücke geschnitten worden war.
Die Motorradmiliz und illegale Märkte
In diesen ersten Wochen erlebte ich oft, dass Erwachsene aus dem Nichts zusammenbrachen und weinten. Bei uns zu Hause herrschte die Gewissheit, dass wir sterben würden, dass wir keine Überlebenschancen hatten. Und als ob die Angst, von einer Granate getroffen zu werden oder ins Kreuzfeuer zu geraten, nicht schon gereicht hätte, kam bald noch ein weiterer Schrecken hinzu: Eine mit der RSF verbündete arabische Miliz in Zivil, welche die Stadt auf Motorrädern unsicher macht und ausplündert. Diese Miliz weckt Erinnerungen an den Darfur-Konflikt von 2003. Damals überfielen berittene Janjaweed-Kämpfer Dörfer und plünderten Vieh und Hausrat. Der Unterschied zu heute besteht darin, dass die Miliz Grossstädte ins Visier nimmt.
In Nyala zeigt sich ein Bild der Zerstörung: Die Miliz und die RSF-Kämpfer haben Ministerien geplündert, Krankenhäuser, Märkte, Geschäfte und Häuser der Bevölkerung sowie die Büros internationaler Hilfsorganisationen leergeräumt.
Die Schlafsäle einer Schule für Waisenkinder in Nyala wurden ebenso zerstört wie ein Berufsausbildungszentrum, das einer neuen Generation von Jugendlichen in der Region handwerkliche Fähigkeiten vermittelt. Auch ein grosses Medikamentenlager, in dem Vorräte für die Menschen in ganz Darfur gelagert wurden, fiel den Raubzügen zum Opfer. Eine Druckmaschine zur Herstellung von Büchern für Primar- und Sekundarschüler in der gesamten Region wurde aus dem Gebäude des Bildungsministeriums entwendet.
Einige Zivilpersonen begannen, sich zu bewaffnen, um sich vor den Plünderungen zu schützen, andere wiederum beteiligten sich traurigerweise selbst daran. Nachdem die Milizen die besten Stücke mitgenommen hatten, zerpflückten Zivilist:innen den Rest: Möbel, Tische, Bücher und sogar die Dächer der Gebäude. Schon bald tauchte das Diebesgut – zusammen mit Waffen und Drogen – in den von der RSF kontrollierten Gebieten auf illegalen Märkten auf.
Lebensmittelknappheit und das Leiden der Frauen und Mädchen
Durch die Präsenz der Milizen sahen sich die Händlerinnen und Händler gezwungen, ihre Waren aus den Geschäften und Märkten abzuziehen und in ihren mit Vorhängeschlössern versehenen Häusern zu lagern. Infolgedessen ist es immer schwieriger geworden, in der Stadt Lebensmittel zu finden; die Preise dafür sind in die Höhe geschossen. Die Lebensmittelversorgung aus Khartum – unserer Hauptversorgungsquelle – ist versiegt, da sich die Kämpfe dort verschärft haben. Händler:innen bringen Waren aus den Nachbarländern Südsudan und Libyen, aber die schlechten Strassen und die unsichere Lage machen dies zu einem schwierigen Unterfangen. In meiner Familie wird oft nur eine einzige Mahlzeit pro Tag eingenommen – meist ist es das Mittagessen. Wir sind auf die Grosszügigkeit meiner Brüder angewiesen, die uns aus Saudi-Arabien Geld schicken.
Noch schlimmer ist die humanitäre Lage derjenigen, die in den riesigen Vertriebenenlagern am Rande von Nyala leben. In diesen Lagern leben die Opfer des Konflikts von Anfang 2000. Sie sind das unsichtbare Gesicht der aktuellen humanitären Krise. Viele der Vertriebenen sind von internationaler humanitärer Hilfe abhängig – die in Darfur ausgesetzt wurde – und von der täglichen Arbeit in Nyala, entweder auf dem Markt oder in den Häusern und Geschäften der Stadtbevölkerung. Frauen und Mädchen sind vom Konflikt besonders betroffen. Meinen Quellen zufolge werden einige von ihnen in Lagerhäusern und Hotels von RSF- und Milizangehörigen festgehalten und sexuell missbraucht.
Der Kampfgeist der Bevölkerung
Als Journalist, der in einer solchen Situation unzählige Informationen über WhatsApp erhält, ist das Konstruktivste, was ich tun kann, auf den sozialen Medien auf unsere Situation aufmerksam zu machen. Andere haben ihre Bemühungen darauf konzentriert, den Bedürftigen zu helfen. In meiner Gegend verteilt eine Gruppe Suppe, während eine andere in der Nachbarschaft zivile Kontrollpunkte eingerichtet hat, um die Bewegung der Motorradbanden einzuschränken.
Die Gemeindeleitung in einem der Anfang der 2000er Jahre eingerichteten Lager hat inzwischen eine lokale Initiative ins Leben gerufen, um geplünderte Medikamente aufzuspüren und sie an eines der grössten Krankenhäuser in Nyala zurückzugeben.
Es ist bewegend zu sehen, wie Menschen, die in grosser Not sind, anderen helfen. Zu Beginn des Konflikts wurde auch ein Waffenstillstandskomitee eingerichtet, das die Bemühungen von Gemeindevorständen und Behörden koordinieren soll. Sie versuchen gemeinsam, zwischen den örtlichen Armee- und RSF-Einheiten zu vermitteln und fordern die Beendigung des Krieges. Ähnliche Komitees wurden auch in anderen Teilen Darfurs gegründet, was die Entschlossenheit der Bevölkerung unterstreicht, sich einem Konflikt zwischen zwei Parteien zu widersetzen, die nur von wenigen Zivilist:innen unterstützt werden. Zunächst verzeichnete das Waffenstillstandskomitee in Nyala einen Erfolg: Es konnte eine Unterbrechung des Konflikts um das Eid al-Fitr am Ende des Ramadans verhandeln. Doch nach dem Eid ging der Krieg weiter.
Frieden erfordert Gerechtigkeit
Im Moment fällt es schwer, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Die RSF hat fast ganz Nyala und einen Grossteil des übrigen Darfur unter ihre Kontrolle gebracht, obwohl sich die Armee noch immer in einigen Stützpunkten verschanzt hat und es häufig zu Zusammenstössen kommt. Einige scheinen zu glauben, dass der Anführer der RSF, Mohamed Hamdan Dagalo «Hemedti», Darfur wieder aufbauen und weiterentwickeln wird. Ich sage ihnen, dass eine Miliz, die Bibliotheken, Schulen und Krankenhäuser zerstört, keine Demokratie bringen wird.
Was wir im Moment am dringendsten brauchen, ist humanitäre Hilfe. Internationale Hilfsorganisationen beurteilen die Lage in Darfur jedoch als zu unsicher, um dort tätig zu sein. Allerdings habe ich Kriege in anderen Ländern wie der Ukraine beobachtet, wo sie unter noch schwierigeren Bedingungen arbeiten. Warum also ist das hier nicht auch möglich? Die internationalen Akteure müssen ausserdem erkennen, dass Frieden Gerechtigkeit voraussetzt. Diese Krise wird nicht dadurch beendet, dass die Militärs verhandeln und Papiere unterschreiben. Ein Ende des Kugelhagels wird uns unsere Angehörigen nicht zurückbringen. Wir brauchen Wiedergutmachung und ein Ende der Straflosigkeit. Und schliesslich müssen wir als Darfuri weiterhin unsere Stimme erheben. Die Männer an den Waffen sprechen im Moment lauter als wir, aber auch wir können und müssen unsere Stimme erheben und die Welt wissen lassen, was wirklich geschieht.
War has destroyed my Darfur town – but I will keep fighting for justice
Editiert von Philip Kleinfeld, gekürzt und übersetzt von Alliance Sud.
Dieser Bericht wurde aus dem H2H-Fonds des H2H-Netzwerks finanziert, der von der britischen Entwicklungsagentur unterstützt wird. Die vollständige Version wurde im August von «The New Humanitarian» veröffentlicht. «The New Humanitarian» stellt unabhängigen Qualitätsjournalismus in den Dienst der Millionen von Menschen, die weltweit von humanitären Krisen betroffen sind. Weitere Informationen finden Sie unter www.thenewhumanitarian.org. «The New Humanitarian» ist nicht für die Korrektheit der Übersetzung verantwortlich.
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Meinung
Arme Armee und fragile Fakten
03.10.2023, Internationale Zusammenarbeit
Hilft in fragilen Kontexten nur eine starke Armee? Solide Forschung zeigt, dass die Entwicklungszusammenarbeit auch in einem ausserordentlich schwierigen Umfeld eine wichtige Rolle spielen kann, schreibt Geschäftsleiter Andreas Missbach.

© Ala Kheir
Die DEZA-Direktion lädt zur Pressenkonferenz an einen symbolkräftigen Ort. Hier legt sie minutiös dar, warum die Schweiz angesichts von Vielfachkrise und wachsender Armut dringend mehr für die internationale Zusammenarbeit ausgeben muss. Sie tut dies, obwohl der Bundesrat bereits einen Abbau für 2024 und darauffolgend real ein Nullwachstum für die IZA beschlossen hat.
Undenkbar in der Schweiz? Nein, denn genau das ist mit anderem Personal und in anderen Dimensionen im August geschehen. Armeechef Thomas Süssli hat eine Erhöhung des Militärbudgets auf 1% der Staatsausgaben bis 2030 gefordert. Dies obwohl der Bundesrat mit der Finanzplanung bereits beschlossen hatte, den vom Parlament gewünschten Zielwert erst 2035 erreichen zu wollen. «Befehlsverweigerung» nannte dies die NZZ, doch würde man sich so viel Chuzpe und Kampfgeist auch von der DEZA-Direktion wünschen.
Apropos Armeen, mit dem Putsch im Niger überschlugen sich die Kommentarspalten mit Texten, die «Afrika» als Kontinent der Umstürze und der gescheiterten Demokratien darstellten. Der senegalesische Entwicklungsökonom Ndongo Samba Sylla rückte dazu die Fakten auf dem X -beliebigen Kurznachrichtendienst etwas zurecht: Der Höhepunkt erfolgreicher Umstürze auf dem Kontinent lag zwischen 1970 und 1979 sowie zwischen 1990 und 1999 mit je 36 Putschen pro Dekade. Seither sind sie stark zurückgegangen. Die Mehrheit der Länder Afrikas hat seit 1990 nie einen gewaltsamen Umsturz erlebt, ein Drittel nie seit der Unabhängigkeit.
Für die kürzliche Häufung von Militärcoups in Ländern des Sahels (und nicht in ganz Afrika) lassen sich mit einer Ausnahme (Sudan) zwei gemeinsame Faktoren für erfolgreiche Staatstreiche ausmachen. Sie geschehen erstens in ehemaligen französischen Kolonien, die zweitens aus geopolitischen Gründen von ausländischer Militärpräsenz gezeichnet sind (im Fall von Gabun könnte man noch anfügen «oder von europäischen Ölkonzernen ausgebeutet werden»). Ndongo Samba Sylla spricht deshalb statt von Krise der Demokratie von einer «Krise des französischen Imperialismus».
Natürlich lassen Ereignisse wie in Niger auch die Diskussion über den Sinn der Entwicklungszusammenarbeit in fragilen Ländern aufblühen. Der Nutzen der IZA wird grundsätzlich in Frage gestellt, und zwar vor einem Putsch («die IZA hat den Ländern keine stabile Demokratie gebracht») als auch danach («was habt ihr dort noch verloren?»). Schwierige Fragen zweifellos, die Alliance Sud auch in der parlamentarischen Diskussion über die Botschaft für internationale Zusammenarbeit beschäftigen werden.
Aber auch hier gilt, Fakten bitte. Die hat Professor Christoph Zürcher von der Graduate School of Public and International Affairs der Universität Ottawa. Er hat eine systematische Überprüfung von 315 Einzelevaluierungen der internationalen Zusammenarbeit für Afghanistan, Mali und Südsudan von 2008 bis 2021 durchgeführt. Sie legt nahe, dass die internationale Zusammenarbeit im Kontext von militärischen Konflikten und geopolitischen Interessen Staaten nicht stabilisieren oder befrieden kann. Die Studie zeigt aber auch, dass Investitionen in Bildung, Gesundheit und ländliche Entwicklung, beispielsweise die Unterstützung landwirtschaftlicher Strukturen, erfolgreich sind und bei der lokalen Bevölkerung ankommen. Sein Fazit: «Projekte, die sich an den Menschen orientieren und nicht die grosse Transformation des Landes anstreben, wirken ».
Lesen Sie das grosse «global»-Interview mit Christoph Zürcher.
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Hinter den Schlagzeilen
Auf dem Lastwagenpneu in eine ungewisse Zukunft
02.10.2023, Weitere Themen
Kuba steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch viele Kubanerinnen und Kubaner machen dafür nicht das US-Embargo oder die Folgen der Pandemie verantwortlich, sondern ihre eigene Regierung.

© Karin Wenger
von Karin Wenger
Als wir uns an einem frühen Morgen Anfang Mai Kuba nähern, staunen wir: Männer treiben in grossen Lastwagenpneus durch die Bucht vor Santiago de Cuba, in der einen Hand eine Fischerleine, in der anderen ein kleines Paddel. «Für uns Kubaner gibt es seit Wochen keinen Treibstoff mehr, deshalb können die Fischer nicht auslaufen, die Strassen sind leer und wir haben kaum Gas zum Kochen», sagt Norbert, der Hafenmeister der staatlichen Marlin Marina, nachdem wir unser Segelboot am stark lädierten Pier festgemacht haben. Bislang erhielt Kuba von Venezuela Treibstoff; da Venezuela nun selbst am Rande des ökonomischen Kollapses steht, schickt es keinen mehr, was seit Mitte April zu einer akuten Treibstoffkrise führt. Doch in Kuba mangelt es nicht nur an Treibstoff, wie wir bald merken: In der Marina ist der kleine Einkaufsladen geschlossen, in den Duschen und Klos fliesst kein Wasser und auf dem lokalen Markt von Santiago de Cuba finden wir lediglich ein bisschen Kohl, ein paar Tomaten, Auberginen und Papaya und einen Mann, der sein dünnes Schwein zum Kauf anbietet. Das wenige, das man kaufen kann, ist zudem teuer, denn zur Knappheit kommt eine steigende Inflation.
Der Traum vom besseren Leben
Kuba steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre. Das Wirtschaftsembargo der USA, das seit 1960, also zwei Jahre nach der Machtübernahme von Fidel Castro, in Kraft getreten ist, ist ein Grund dafür. Die Pandemie ein anderer. Die wichtigen Einnahmen aus dem Tourismus fehlen seither und auch nach Ende der Pandemie sind nur wenige Tourist:innen auf die Karibikinsel zurückgekehrt. Doch die Gründe sind auch hausgemacht.
«Wenn ihr Geld wechseln wollt, geht nicht zur Bank, sondern zu Pochito», rät uns Hafenmeister Norbert und so erhalten wir schon wenig später ein Anschauungsbeispiel zu Inflation. Pochito ist ein junger Kubaner, der auch ein Auto vermitteln, eine SIM-Karte organisieren und Geld zu einem besseren Kurs wechseln kann. Im Mai gibt es auf der Bank in Kuba zum offiziellen Wechselkurs 120 kubanische Pesos für einen US-Dollar, auf dem Schwarzmarkt variiert der Kurs zwischen 140 und 200 Pesos. Da es Kubaner:innen nicht erlaubt ist, ein ausländisches Boot zu betreten, wartet Pochito ausserhalb der Marina auf ausländische Kundschaft. Er bietet uns 160 Pesos für einen US-Dollar, macht 80'000 Pesos für die 500 US-Dollar, die wir wechseln wollen. Das Geld soll ein Freund von Pochito in der nahen Stadt organisieren, was eine halbe Stunde dauere, Zeit für ein Schwätzchen.
Pochito erzählt, dass seine Schwester einen griechischen Segler geheiratet habe, der ebenfalls mit seinem Boot in Santiago de Cuba vorbeigekommen sei. Der Grieche sei zwar viel älter als seine Schwester, aber zumindest sei sie so aus Kuba weggekommen und das wollten schliesslich alle. Denn wer wolle in einem Land leben, in dem es nichts zu kaufen und keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe? Einer seiner Freunde lebe nun in Miami, sagt Pochito und ruft ihn sofort an. Der Freund erscheint als wackliges Handy-Bild und erzählt, wie er zuerst nach Nicaragua, eines der wenigen Länder, in die Kubaner ohne Visa einreisen können, geflogen sei. Dort habe er einen Schlepper angeheuert, dem er 9000 US-Dollar zahlte, mit der Hoffnung, dass er ihn bis in die USA bringen würde. In Mexiko jedoch sei er von einer kriminellen Gang gefangen genommen worden, die ihn erst gehen liess, nachdem sie noch mehr Geld von ihm und seinen Verwandten erpresst hatte. Nun ist er in Miami, arbeitet auf dem Bau und zahlt seine Schulden zurück.
Leere Regale
Die zwanzig Minuten sind inzwischen vorbei, doch der Geldwechsler lässt auf sich warten. Er müsse das Geld zuerst zählen und das dauere, lässt er ausrichten. Nun gesellen sich Pochitos Mutter und einer seiner Freunde, ein Fischer, zu uns. Der Fischer fährt wegen der Dieselknappheit zurzeit jedoch nicht aufs Meer. «Vor einigen Wochen wollte einer aus dem Dorf mit seinem kleinen, selbstgebauten Kahn übers Meer fliehen. Er wurde nie mehr gesehen, wahrscheinlich hat ihn das Meer verschluckt, wie so viele», sagt er, der eine solche Flucht nie selbst wagen würde, weil er wisse, wie brutal das Meer sein könne. Pochitos Mutter hebt die Faust und schimpft laut: «Hunger leiden die Menschen hier, weil wir uns nicht einmal mehr Reis oder Eier leisten können!» Jeder Kubaner und jede Kubanerin erhalte zwar monatlich eine Quote verbilligter Grundnahrungsmittel wie Öl, Reis, Zucker oder Mehl, aber die Menge reiche nirgends hin. Ein halber Liter Speiseöl pro Monat und Person für 50 Pesos muss reichen; wer mehr braucht, muss es zu einem viel höheren Preis in den Läden oder von jemandem, der sein Speiseöl am Strassenrand feilbietet, kaufen. Dann kostet es 1000 Pesos.
Gemüse und Früchte gibt es kaum zu kaufen, und das, obwohl die Insel mit nährstoffreichem Boden und viel Regen gesegnet ist. Wie ist das möglich? Weil es an Düngemittel, Werkzeugen und einem funktionierenden Distributionssystem fehlt. So manche Frucht und so manches Gemüse verrotten noch auf dem Bauernhof, weil die Bauern ihre Ernte nicht rechtzeitig zu den Käufern bringen können oder weil es der Transportfirma an den nötigen Kisten oder den nötigen Ersatzteilen für den Lastwagen fehlt. Wieso also noch etwas anbauen? Während auf Märkten kaum Früchte oder Gemüse angeboten werden, sind die Regale in den «Panamericana», den Regierungsläden, voll mit Rum und Büchsen; sogar einen Kärcher-Staubsauger oder eine Mikrowelle gibt es hier. In den «Panamericana» kann man jedoch nur mit Kreditkarte oder US-Dollar bezahlen, die meisten Kubaner haben weder das eine noch das andere.
Wut auf die Regierung
Für die wirtschaftliche Notlage, in der sich so viele Kubanerinnen und Kubaner heute befinden, machen Pochito, seine Mutter und ihr Freund, der Fischer, nicht das US-Embargo oder die Pandemie verantwortlich, sondern die eigene Regierung. «Unsere Regierung ist grauenhaft und schlecht, Diebe sind das. Für sich und ihre Kinder haben sie alles. Sie schicken sie auf gute Schulen, in die besten Spitäler, und wir?», fragt die Mutter, deren kranker Mann vor einem Jahr gestorben ist, weil es im Spital an Medikamenten, Spritzen und Operationsmaterial fehlte. Pochito zieht sein Handy hervor und spielt ein Video ab. Zuerst sieht man Demonstranten, die Parolen gegen die Regierung skandieren, dann erscheint ein Polizist, der einem Demonstranten aus nächster Nähe in den Bauch schiesst. Das Video wurde bei einer der Demonstrationen, die vor zwei Jahren in Kuba stattfanden, aufgenommen. Es waren die grössten Unruhen seit Jahrzehnten und die Wut richtete sich gegen die Regierung, die es nicht schafft, genügend Lebensmittel und Medikamente bereitzustellen. Doch die Regierung reagierte nicht mit radikalen politischen und wirtschaftlichen Reformen, sondern mit Repression. Mehr als tausend Demonstrierende wurden damals festgenommen und zum Teil zu Jjahrzehntelangen Gefängnisstrafen verurteilt. «Sie hassen uns und wir hassen sie», sagt der Fischer.
Dass viele Kubanerinnen und Kubaner heute trotz der Repression so unverblümt über ihre Regierung schimpfen und es immer wieder zu kleineren Demonstrationen kommt, zeigt, wie hoch die Frustration und wie schlecht die Situation weiterhin ist. Die sozialistische Planwirtschaft ist gescheitert, nur scheint man das in der alten Garde, die weiterhin an der Macht sitzt, auch nach Fidels Tod nicht einsehen zu wollen. Den Preis dafür zahlt das Volk. Trotzdem plant die Schweiz just jetzt, ihre langjährige bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Kuba zu beenden. Dies geschieht gemäss dem Entscheid des schweizerischen Parlaments von 2020, die bilateralen Mittel für Lateinamerika bis 2024 schrittweise auf die Regionen Nordafrika, Mittlerer Osten und Subsahara-Afrika zu verlagern. Sieht man die tiefe Krise und die Notlage der Bevölkerung auf Kuba, fragt man sich, ob dies der richtige Zeitpunkt ist.
Eine Unterhose voller Geld
Endlich, nach zwei Stunden erscheint der Geldwechsler mit den Pesos und sofort verstehe ich, wieso das Geldzählen so lange gedauert hat. Da er keine grossen Scheine auftreiben konnte, überreicht er uns die 80'000 Pesos in 50-Peso-Scheinen, ein grosser Haufen, eingepackt in eine alte Unterhose. Mit den Pesos kaufen wir Diesel für uns und für Pochito, den Fischer und Norbert. Denn während es für Kubanerinnen und Kubaner keinen Treibstoff gibt, erhalten ausländische Tourist:innen so viel sie wollen. Dabei variiert der Preis je nachdem, ob man in Pesos oder US-Dollar zahlt. Bezahlt man in Pesos, kosten 100 Liter umgerechnet 18 US-Dollar, zahlt man in US-Dollar, kostet jeder Liter einen US-Dollar. Vieles macht in Kuba keinen Sinn.

© Karin Wenger
Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
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Meinung
Im Schatten des Vulkans
23.03.2023, Klimagerechtigkeit
Sandstrände, Rum und farbige Fische: Das ist die Karibik aus dem Ferienprospekt. Vergessen geht dabei, dass die karibischen Inseln ganz besonders durch Naturereignisse gefährdet sind. Von Karin Wenger.

© Karin Wenger
Als wir der Westküste von Montserrat entlangsegeln, rieche ich es auf einmal: Ein übler Gestank. Vielleicht ein fliegender Fisch, der an Deck gesprungen ist, ohne dass wir ihn entdeckt haben? Nein. Es stinkt nach faulen Eiern. Und dann sehen wir sie: kleine Schwefelwölkchen, die aus dem Schlund des Vulkans quellen und mit dem Wind zu uns aufs Meer getrieben werden. Der Soufrière-Hills-Vulkan spuckt, und das schon seit fast dreissig Jahren.
Bei seinem Ausbruch 1995 erwischte er die Bewohner:innen kalt. Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich der Soufrière-Hills-Vulkan nicht geregt und auf einmal, nach 270 Jahren Dornröschenschlaf, war er erwacht. Der Vulkan begann Asche und Lava zu spucken, die Hauptstadt Plymouth, die an der Westseite des Vulkans liegt, musste evakuiert werden. Von den mehr als 11’000 Inselbewohner:innen zogen die meisten fort. Da Montserrat bis heute ein britisches Überseegebiet ist, gingen viele nach England, wo sie Hilfe bekamen.
Auch Vernaire Bass, die beim Ausbruch des Vulkans Teenager war, verliess damals ihre Heimat. «Nicht nur die Infrastruktur war zerstört, sondern es gab auch keine Arbeit mehr und keine Zukunft für uns», erinnert sich Bass, die heute unter anderem das Nationalmuseum auf der Insel leitet. Zudem sei der Vulkan nicht die einzige Gefahr gewesen. «Jedes Jahr ab Juni müssen wir damit rechnen, dass alles, was wir uns aufgebaut haben, von einem Hurrikan vernichtet wird. Das bedeutet ein Leben in ständiger Unsicherheit. Viele Inselbewohnener:innen – nicht nur hier, sondern in der ganzen Karibik – leiden deshalb an PTSD, Posttraumatischer Belastungsstörung.» So tobte beispielsweise 1989 Hurrikan Hugo über die Karibik und richtete riesige Verwüstungen an, auch in Montserrat. Während sechs Jahren wurden die Hauptstadt Plymouth und die Infrastruktur der Insel wieder aufgebaut, es gab ein neues Spital und neue Schulen; als alles wieder hergerichtet war, brach der Vulkan aus. Vernaire sagt: «Ohne die Hilfe aus England wäre die Insel heute wohl menschenleer. Wir hätten schlicht nicht das Geld gehabt, alles wieder aufzubauen.»
Montserrat ist nicht die einzige Vulkaninsel in der Region. Hier stösst die karibische Platte auf andere Platten, was Reibung erzeugt; deshalb kommt es hier immer wieder zu Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Gerade im Gebiet der Antillen, zu denen auch Montserrat gehört, gibt es einen Kreuzungspunkt der nord- und südamerikanischen und der karibischen Platte, sodass hier besonders grosse Spannungen entstehen können. Die Hurrikan-Saison beginnt jedes Jahr im Juni und dauert bis November. 2022 fegten 14 grosse Stürme und acht Hurrikane über die Karibik. Auf einigen Inseln richteten sie grossen Schaden an. So traf Hurrikan Ian im vergangenen September auf Kuba. Über drei Millionen Kubanerinnen und Kubaner waren direkt betroffen, Zehntausende verloren ihr Zuhause. Steigt die Temperatur um zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, besteht laut Klimaforscher:innen in der Karibik eine fünf Mal höhere Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen von Hurrikanen, Stürmen und schweren Fluten. Das bedeutet als Zukunftsszenario: die Zerstörung von Lebensraum und die Vertreibung von Millionen von Menschen.
Auch Montserrat wurde im vergangenen Jahr von einem schweren Hurrikan getroffen. Hurrikan Fiona fegte am 16. September 2022 über die Insel. Am stärksten betroffen war Plymouth, die ehemalige Hauptstadt, die bereits vom Vulkan zerstört worden war. Der Vulkan hat seit 1995 nicht mehr aufgehört zu spucken. In den vergangenen Jahren wuchs der Dom des Vulkans immer wieder um hunderte von Metern, um dann zu kollabieren. Den letzten Domkollaps gab es 2010. Immer noch sind zwei Drittel der Insel und ein Umkreis von zehn Seemeilen um den südlichen Teil der Insel Sperrgebiet, auch Plymouth. Nur dank einer Spezialbewilligung können wir die Überreste von Plymouth besuchen. Hier, wo früher geschäftiges Treiben herrschte, liegt nun eine geisterhafte Stille über den Ruinen. Der Vulkan hat die Stadt regelrecht eingeäschert und verschluckt. Von dreistöckigen Gebäuden sind nur noch die obersten Stockwerke sichtbar; wo einst ein langes Dock für Kreuzfahrtschiffe war, sieht man bloss noch den kleinen Stumpf eines Docks – der Vulkan hat so viel Masse ausgespuckt, dass die Küstenlinie um hundert Meter ins Meer verschoben wurde. Wo einst Wasser war, ist nun neues Land.
Heute wird der Vulkan von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen des «Montserrat Volcano Observatory» rund um die Uhr überwacht. Einer von ihnen ist José Manuel Marrero, ein spanischer Vulkanologe. Er sagt: «Die Gefahr eines neuen, grossen Ausbruchs besteht. Wir wissen nur nicht, wann er stattfinden wird.»
Trotzdem ist Vernaire Bass nach mehr als zwei Jahrzehnten in Grossbritannien vor drei Jahren auf die kleine Karibikinsel zurückgekehrt. «Ich sehnte mich nach meiner Heimat und wollte an der Entwicklung der Insel teilnehmen», sagt sie. Doch die Insel hat sich verändert. Von den einst mehr als 11’000 Bewohner:innen sind nur 3’000 geblieben. Jeder kennt jeden, Korruption ist weit verbreitet und neue Ideen scheitern oft an den starren Vorstellungen einiger weniger Familien mit Macht und Einfluss. Es gibt Momente, in denen Vernaire ihre Rückkehr in die Heimat bereut. Trotzdem sagt sie, der Vulkan habe ihr ein Geschenk gemacht: «Er hat mich gelehrt, mich anzupassen. Ich kann überall überleben, wenn ich Nahrung und eine Unterkunft habe. Das unterscheidet uns Inselbewohner:innen wahrscheinlich von den Europäer:innen: Die ständige Gefahr macht uns widerstands- und überlebensfähig.»

© zVg
Karin Wenger
Die Autorin: Karin Wenger
Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit Sommer segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie hier www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com
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