Hinter den Schlagzeilen

Auf dem Lastwagenpneu in eine ungewisse Zukunft

02.10.2023, Weitere Themen

Kuba steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch viele Kubanerinnen und Kubaner machen dafür nicht das US-Embargo oder die Folgen der Pandemie verantwortlich, sondern ihre eigene Regierung.

Auf dem Lastwagenpneu in eine ungewisse Zukunft

© Karin Wenger

von Karin Wenger

Als wir uns an einem frühen Morgen Anfang Mai Kuba nähern, staunen wir: Männer treiben in grossen Lastwagenpneus durch die Bucht vor Santiago de Cuba, in der einen Hand eine Fischerleine, in der anderen ein kleines Paddel. «Für uns Kubaner gibt es seit Wochen keinen Treibstoff mehr, deshalb können die Fischer nicht auslaufen, die Strassen sind leer und wir haben kaum Gas zum Kochen», sagt Norbert, der Hafenmeister der staatlichen Marlin Marina, nachdem wir unser Segelboot am stark lädierten Pier festgemacht haben. Bislang erhielt Kuba von Venezuela Treibstoff; da Venezuela nun selbst am Rande des ökonomischen Kollapses steht, schickt es keinen mehr, was seit Mitte April zu einer akuten Treibstoffkrise führt. Doch in Kuba mangelt es nicht nur an Treibstoff, wie wir bald merken: In der Marina ist der kleine Einkaufsladen geschlossen, in den Duschen und Klos fliesst kein Wasser und auf dem lokalen Markt von Santiago de Cuba finden wir lediglich ein bisschen Kohl, ein paar Tomaten, Auberginen und Papaya und einen Mann, der sein dünnes Schwein zum Kauf anbietet. Das wenige, das man kaufen kann, ist zudem teuer, denn zur Knappheit kommt eine steigende Inflation.

Der Traum vom besseren Leben

Kuba steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre. Das Wirtschaftsembargo der USA, das seit 1960, also zwei Jahre nach der Machtübernahme von Fidel Castro, in Kraft getreten ist, ist ein Grund dafür. Die Pandemie ein anderer. Die wichtigen Einnahmen aus dem Tourismus fehlen seither und auch nach Ende der Pandemie sind nur wenige Tourist:innen auf die Karibikinsel zurückgekehrt. Doch die Gründe sind auch hausgemacht.

«Wenn ihr Geld wechseln wollt, geht nicht zur Bank, sondern zu Pochito», rät uns Hafenmeister Norbert und so erhalten wir schon wenig später ein Anschauungsbeispiel zu Inflation. Pochito ist ein junger Kubaner, der auch ein Auto vermitteln, eine SIM-Karte organisieren und Geld zu einem besseren Kurs wechseln kann. Im Mai gibt es auf der Bank in Kuba zum offiziellen Wechselkurs 120 kubanische Pesos für einen US-Dollar, auf dem Schwarzmarkt variiert der Kurs zwischen 140 und 200 Pesos. Da es Kubaner:innen nicht erlaubt ist, ein ausländisches Boot zu betreten, wartet Pochito ausserhalb der Marina auf ausländische Kundschaft. Er bietet uns 160 Pesos für einen US-Dollar, macht 80'000 Pesos für die 500 US-Dollar, die wir wechseln wollen. Das Geld soll ein Freund von Pochito in der nahen Stadt organisieren, was eine halbe Stunde dauere, Zeit für ein Schwätzchen.

Pochito erzählt, dass seine Schwester einen griechischen Segler geheiratet habe, der ebenfalls mit seinem Boot in Santiago de Cuba vorbeigekommen sei. Der Grieche sei zwar viel älter als seine Schwester, aber zumindest sei sie so aus Kuba weggekommen und das wollten schliesslich alle. Denn wer wolle in einem Land leben, in dem es nichts zu kaufen und keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe? Einer seiner Freunde lebe nun in Miami, sagt Pochito und ruft ihn sofort an. Der Freund erscheint als wackliges Handy-Bild und erzählt, wie er zuerst nach Nicaragua, eines der wenigen Länder, in die Kubaner ohne Visa einreisen können, geflogen sei. Dort habe er einen Schlepper angeheuert, dem er 9000 US-Dollar zahlte, mit der Hoffnung, dass er ihn bis in die USA bringen würde. In Mexiko jedoch sei er von einer kriminellen Gang gefangen genommen worden, die ihn erst gehen liess, nachdem sie noch mehr Geld von ihm und seinen Verwandten erpresst hatte. Nun ist er in Miami, arbeitet auf dem Bau und zahlt seine Schulden zurück.

Leere Regale

Die zwanzig Minuten sind inzwischen vorbei, doch der Geldwechsler lässt auf sich warten. Er müsse das Geld zuerst zählen und das dauere, lässt er ausrichten. Nun gesellen sich Pochitos Mutter und einer seiner Freunde, ein Fischer, zu uns. Der Fischer fährt wegen der Dieselknappheit zurzeit jedoch nicht aufs Meer. «Vor einigen Wochen wollte einer aus dem Dorf mit seinem kleinen, selbstgebauten Kahn übers Meer fliehen. Er wurde nie mehr gesehen, wahrscheinlich hat ihn das Meer verschluckt, wie so viele», sagt er, der eine solche Flucht nie selbst wagen würde, weil er wisse, wie brutal das Meer sein könne. Pochitos Mutter hebt die Faust und schimpft laut: «Hunger leiden die Menschen hier, weil wir uns nicht einmal mehr Reis oder Eier leisten können!» Jeder Kubaner und jede Kubanerin erhalte zwar monatlich eine Quote verbilligter Grundnahrungsmittel wie Öl, Reis, Zucker oder Mehl, aber die Menge reiche nirgends hin. Ein halber Liter Speiseöl pro Monat und Person für 50 Pesos muss reichen; wer mehr braucht, muss es zu einem viel höheren Preis in den Läden oder von jemandem, der sein Speiseöl am Strassenrand feilbietet, kaufen. Dann kostet es 1000 Pesos.

Gemüse und Früchte gibt es kaum zu kaufen, und das, obwohl die Insel mit nährstoffreichem Boden und viel Regen gesegnet ist. Wie ist das möglich? Weil es an Düngemittel, Werkzeugen und einem funktionierenden Distributionssystem fehlt. So manche Frucht und so manches Gemüse verrotten noch auf dem Bauernhof, weil die Bauern ihre Ernte nicht rechtzeitig zu den Käufern bringen können oder weil es der Transportfirma an den nötigen Kisten oder den nötigen Ersatzteilen für den Lastwagen fehlt. Wieso also noch etwas anbauen? Während auf Märkten kaum Früchte oder Gemüse angeboten werden, sind die Regale in den «Panamericana», den Regierungsläden, voll mit Rum und Büchsen; sogar einen Kärcher-Staubsauger oder eine Mikrowelle gibt es hier. In den «Panamericana» kann man jedoch nur mit Kreditkarte oder US-Dollar bezahlen, die meisten Kubaner haben weder das eine noch das andere.

Wut auf die Regierung

Für die wirtschaftliche Notlage, in der sich so viele Kubanerinnen und Kubaner heute befinden, machen Pochito, seine Mutter und ihr Freund, der Fischer, nicht das US-Embargo oder die Pandemie verantwortlich, sondern die eigene Regierung. «Unsere Regierung ist grauenhaft und schlecht, Diebe sind das. Für sich und ihre Kinder haben sie alles. Sie schicken sie auf gute Schulen, in die besten Spitäler, und wir?», fragt die Mutter, deren kranker Mann vor einem Jahr gestorben ist, weil es im Spital an Medikamenten, Spritzen und Operationsmaterial fehlte. Pochito zieht sein Handy hervor und spielt ein Video ab. Zuerst sieht man Demonstranten, die Parolen gegen die Regierung skandieren, dann erscheint ein Polizist, der einem Demonstranten aus nächster Nähe in den Bauch schiesst. Das Video wurde bei einer der Demonstrationen, die vor zwei Jahren in Kuba stattfanden, aufgenommen. Es waren die grössten Unruhen seit Jahrzehnten und die Wut richtete sich gegen die Regierung, die es nicht schafft, genügend Lebensmittel und Medikamente bereitzustellen. Doch die Regierung reagierte nicht mit radikalen politischen und wirtschaftlichen Reformen, sondern mit Repression. Mehr als tausend Demonstrierende wurden damals festgenommen und zum Teil zu Jjahrzehntelangen Gefängnisstrafen verurteilt. «Sie hassen uns und wir hassen sie», sagt der Fischer.

Dass viele Kubanerinnen und Kubaner heute trotz der Repression so unverblümt über ihre Regierung schimpfen und es immer wieder zu kleineren Demonstrationen kommt, zeigt, wie hoch die Frustration und wie schlecht die Situation weiterhin ist. Die sozialistische Planwirtschaft ist gescheitert, nur scheint man das in der alten Garde, die weiterhin an der Macht sitzt, auch nach Fidels Tod nicht einsehen zu wollen. Den Preis dafür zahlt das Volk. Trotzdem plant die Schweiz just jetzt, ihre langjährige bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Kuba zu beenden. Dies geschieht gemäss dem Entscheid des schweizerischen Parlaments von 2020, die bilateralen Mittel für Lateinamerika bis 2024 schrittweise auf die Regionen Nordafrika, Mittlerer Osten und Subsahara-Afrika zu verlagern. Sieht man die tiefe Krise und die Notlage der Bevölkerung auf Kuba, fragt man sich, ob dies der richtige Zeitpunkt ist.

Eine Unterhose voller Geld

Endlich, nach zwei Stunden erscheint der Geldwechsler mit den Pesos und sofort verstehe ich, wieso das Geldzählen so lange gedauert hat. Da er keine grossen Scheine auftreiben konnte, überreicht er uns die 80'000 Pesos in 50-Peso-Scheinen, ein grosser Haufen, eingepackt in eine alte Unterhose. Mit den Pesos kaufen wir Diesel für uns und für Pochito, den Fischer und Norbert. Denn während es für Kubanerinnen und Kubaner keinen Treibstoff gibt, erhalten ausländische Tourist:innen so viel sie wollen. Dabei variiert der Preis je nachdem, ob man in Pesos oder US-Dollar zahlt. Bezahlt man in Pesos, kosten 100 Liter umgerechnet 18 US-Dollar, zahlt man in US-Dollar, kostet jeder Liter einen US-Dollar. Vieles macht in Kuba keinen Sinn.

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© Karin Wenger

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

Meinung

Im Schatten des Vulkans

23.03.2023, Klimagerechtigkeit

Sandstrände, Rum und farbige Fische: Das ist die Karibik aus dem Ferienprospekt. Vergessen geht dabei, dass die karibischen Inseln ganz besonders durch Naturereignisse gefährdet sind. Von Karin Wenger.

Im Schatten des Vulkans

© Karin Wenger

Als wir der Westküste von Montserrat entlangsegeln, rieche ich es auf einmal: Ein übler Gestank. Vielleicht ein fliegender Fisch, der an Deck gesprungen ist, ohne dass wir ihn entdeckt haben? Nein. Es stinkt nach faulen Eiern. Und dann sehen wir sie: kleine Schwefelwölkchen, die aus dem Schlund des Vulkans quellen und mit dem Wind zu uns aufs Meer getrieben werden. Der Soufrière-Hills-Vulkan spuckt, und das schon seit fast dreissig Jahren.

Bei seinem Ausbruch 1995 erwischte er die Bewohner:innen kalt. Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich der Soufrière-Hills-Vulkan nicht geregt und auf einmal, nach 270 Jahren Dornröschenschlaf, war er erwacht. Der Vulkan begann Asche und Lava zu spucken, die Hauptstadt Plymouth, die an der Westseite des Vulkans liegt, musste evakuiert werden. Von den mehr als 11’000 Inselbewohner:innen zogen die meisten fort. Da Montserrat bis heute ein britisches Überseegebiet ist, gingen viele nach England, wo sie Hilfe bekamen.

Auch Vernaire Bass, die beim Ausbruch des Vulkans Teenager war, verliess damals ihre Heimat. «Nicht nur die Infrastruktur war zerstört, sondern es gab auch keine Arbeit mehr und keine Zukunft für uns», erinnert sich Bass, die heute unter anderem das Nationalmuseum auf der Insel leitet. Zudem sei der Vulkan nicht die einzige Gefahr gewesen. «Jedes Jahr ab Juni müssen wir damit rechnen, dass alles, was wir uns aufgebaut haben, von einem Hurrikan vernichtet wird. Das bedeutet ein Leben in ständiger Unsicherheit. Viele Inselbewohnener:innen – nicht nur hier, sondern in der ganzen Karibik – leiden deshalb an PTSD, Posttraumatischer Belastungsstörung.» So tobte beispielsweise 1989 Hurrikan Hugo über die Karibik und richtete riesige Verwüstungen an, auch in Montserrat. Während sechs Jahren wurden die Hauptstadt Plymouth und die Infrastruktur der Insel wieder aufgebaut, es gab ein neues Spital und neue Schulen; als alles wieder hergerichtet war, brach der Vulkan aus. Vernaire sagt: «Ohne die Hilfe aus England wäre die Insel heute wohl menschenleer. Wir hätten schlicht nicht das Geld gehabt, alles wieder aufzubauen.»

Montserrat ist nicht die einzige Vulkaninsel in der Region. Hier stösst die karibische Platte auf andere Platten, was Reibung erzeugt; deshalb kommt es hier immer wieder zu Erdbeben und Vulkanausbrüchen. Gerade im Gebiet der Antillen, zu denen auch Montserrat gehört, gibt es einen Kreuzungspunkt der nord- und südamerikanischen und der karibischen Platte, sodass hier besonders grosse Spannungen entstehen können. Die Hurrikan-Saison beginnt jedes Jahr im Juni und dauert bis November. 2022 fegten 14 grosse Stürme und acht Hurrikane über die Karibik. Auf einigen Inseln richteten sie grossen Schaden an. So traf Hurrikan Ian im vergangenen September auf Kuba. Über drei Millionen Kubanerinnen und Kubaner waren direkt betroffen, Zehntausende verloren ihr Zuhause. Steigt die Temperatur um zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit, besteht laut Klimaforscher:innen in der Karibik eine fünf Mal höhere Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen von Hurrikanen, Stürmen und schweren Fluten. Das bedeutet als Zukunftsszenario: die Zerstörung von Lebensraum und die Vertreibung von Millionen von Menschen.

Auch Montserrat wurde im vergangenen Jahr von einem schweren Hurrikan getroffen. Hurrikan Fiona fegte am 16. September 2022 über die Insel. Am stärksten betroffen war Plymouth, die ehemalige Hauptstadt, die bereits vom Vulkan zerstört worden war. Der Vulkan hat seit 1995 nicht mehr aufgehört zu spucken. In den vergangenen Jahren wuchs der Dom des Vulkans immer wieder um hunderte von Metern, um dann zu kollabieren. Den letzten Domkollaps gab es 2010. Immer noch sind zwei Drittel der Insel und ein Umkreis von zehn Seemeilen um den südlichen Teil der Insel Sperrgebiet, auch Plymouth. Nur dank einer Spezialbewilligung können wir die Überreste von Plymouth besuchen. Hier, wo früher geschäftiges Treiben herrschte, liegt nun eine geisterhafte Stille über den Ruinen. Der Vulkan hat die Stadt regelrecht eingeäschert und verschluckt. Von dreistöckigen Gebäuden sind nur noch die obersten Stockwerke sichtbar; wo einst ein langes Dock für Kreuzfahrtschiffe war, sieht man bloss noch den kleinen Stumpf eines Docks – der Vulkan hat so viel Masse ausgespuckt, dass die Küstenlinie um hundert Meter ins Meer verschoben wurde. Wo einst Wasser war, ist nun neues Land.

Heute wird der Vulkan von einer Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen des «Montserrat Volcano Observatory» rund um die Uhr überwacht. Einer von ihnen ist José Manuel Marrero, ein spanischer Vulkanologe. Er sagt: «Die Gefahr eines neuen, grossen Ausbruchs besteht. Wir wissen nur nicht, wann er stattfinden wird.»

Trotzdem ist Vernaire Bass nach mehr als zwei Jahrzehnten in Grossbritannien vor drei Jahren auf die kleine Karibikinsel zurückgekehrt. «Ich sehnte mich nach meiner Heimat und wollte an der Entwicklung der Insel teilnehmen», sagt sie. Doch die Insel hat sich verändert. Von den einst mehr als 11’000 Bewohner:innen sind nur 3’000 geblieben. Jeder kennt jeden, Korruption ist weit verbreitet und neue Ideen scheitern oft an den starren Vorstellungen einiger weniger Familien mit Macht und Einfluss. Es gibt Momente, in denen Vernaire ihre Rückkehr in die Heimat bereut. Trotzdem sagt sie, der Vulkan habe ihr ein Geschenk gemacht: «Er hat mich gelehrt, mich anzupassen. Ich kann überall überleben, wenn ich Nahrung und eine Unterkunft habe. Das unterscheidet uns Inselbewohner:innen wahrscheinlich von den Europäer:innen: Die ständige Gefahr macht uns widerstands- und überlebensfähig.»

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© zVg
Karin Wenger

Die Autorin: Karin Wenger

Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit Sommer segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden. Mehr Informationen finden Sie hier www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

Meinung

Inflationäre Neutralitäten

29.09.2022, Internationale Zusammenarbeit

Die UNO stellt für 2020 oder 2021 eine Verschlechterung des «Index der menschlichen Entwicklung» in 90 Prozent aller Länder fest. Die Welt steht in Flammen oder ist unter Wasser und die Schweiz diskutiert über Neutralität statt über Solidarität.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Inflationäre Neutralitäten

© Parlamentsdienste, 3003 Bern

Cassis, Pfister, Blocher: Alle drei Herren versuchen mit einem Adjektiv vor dem N-Wort zu trumpfen. Bevor wir zu den Adjektiven kommen das Substantiv. Die Neutralität der Schweiz war lebenswichtig, solange Nachbarstaaten Krieg führten. Das war im Deutsch-Französischen Krieg von 1871 so und erst recht im Ersten Weltkrieg, als unterschiedliche Sympathien für die Kriegspartien das Land spalteten.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Neutralität bekanntermassen flankiert von einem weiteren Element: Der Geschäftemacherei mit Kriegsparteien. Schweizer Firmen lieferten bis 1944 grosse Mengen an Rüstungsgütern an Nazi-Deutschland. Im Krieg konnte man dazu noch von einer Notlage sprechen, aber danach blieb die Geschäftemacherei, während die Neutralität zu deren wohlfeilem Mäntelchen mutierte. «Neutralität», verstanden als «wir machen mit allen Geschäften und scheren uns nicht um Sanktionen», war einer der drei Gründe (neben Finanzplatz und Steuergesetzen), warum die Schweiz zur global dominierenden Drehscheibe des Rohstoffhandels aufstieg.

Als Nicht-Uno-Mitglied hielt sich die Schweiz nicht an Uno-Sanktionen, etwa gegen Rhodesien (heute Simbabwe) oder Apartheid-Südafrika. Marc Rich, der Pate des Schweizer Rohstoffhandels, dessen Firma zu Glencore wurde und dessen «Rich-Boys» Firmen wie Trafigura gründeten, bezeichnete seine Öl-Geschäfte mit dem Unrechtsregime im südlichen Afrika als sein «wichtigstes und profitabelstes Geschäft». Die Getreidehändler an den Gestaden des Genfersees profitierten aber auch vom Getreideembargo der USA gegen die Sowjetunion und sprangen dort in die Lücke, obwohl die Schweiz im Kalten Krieg ideologisch und praktisch (siehe Crypto-Affäre) ganz und gar nicht neutral war.

Nun zu den Adjektiven: Die «kooperative Neutralität» von Ignazio Cassis hätte die Geschäftemacherei relativiert, indem sie den neuen Status quo seit der russischen Invasion (EU-Sanktionen werden übernommen) festgeschrieben hätte. Doch der Bundesrat erteilte dem Adjektiv des Bundespräsidenten eine Abfuhr.

Weniger klar ist die «dezisionistische (Auffassung von) Neutralität» von Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Liest man sein Interview in der Zeitung Le Temps, beschränken «Menschenrechte, Demokratie und freie Meinungsäusserung» die Geschäftemacherei. Gemäss Interview mit den Tamedia-Zeitungen geht es eher um die Werte des «westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells», also «Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit des Privateigentums und soziale Wohlfahrt».

Die «integrale Neutralität» von alt Bundesrat Christoph Blocher will zurück zur absoluten Geschäftemacherei. Diese verteidigte er einst bereits gegen die Apartheid-KritikerInnen. Die von ihm gegründete und präsidierte «Arbeitsgruppe südliches Afrika» (ASA) wetterte gegen Sanktionen und gab südafrikanischen Rechtspolitikern und Militärs eine Plattform für ihre menschenverachtenden Botschaften. Die ASA organisierte auch Propagandareisen: «Auf den Spuren der Buren».

Auch ich hätte noch Adjektive anzubringen, denn was der Schweiz am besten anstünde, wäre eine «mitfühlende (Flüchtlinge) und weltverträgliche (Menschenrechte vor Geschäftemacherei) Neutralität».

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Meinung

Bergbau: geschlechtsspezifische Auswirkungen

13.06.2023, Internationale Zusammenarbeit

Wenn Bergbauunternehmen in Südafrika in bewohnte Gebiete vordringen und dort mit dem Abbau beginnen, sind nicht nur Minenarbeiter von den negativen Konsequenzen betroffen. Von Asanda-Jonas Benya, University of Cape Town

Bergbau: geschlechtsspezifische Auswirkungen

Frauen schieben Schubkarren auf die Halde einer Kohlemine im Kohlekraftwerk Duvha, östlich von Johannesburg.
© Denis Farrell / AP Photo / Keystone

2022 gab mir Fastenaktion eine Studie über die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des Bergbaus auf die Arbeiter.innen und die Bevölkerung in den betroffenen Gemeinden in Auftrag. Durch eine geschlechtsspezifische Linse betrachtet und mit dem Fokus auf die südafrikanische Stadt Mtubatuba zeichnet der Bericht ein differenziertes Bild darüber, welchen Einfluss die Minentätigkeit auf die Menschen in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal hat.

In Somkhele befindet sich Thendele, eine der grössten Minen Südafrikas, in der Anthrazit im Tagebau gewonnen wird. Das Leben der Menschen ist hier geprägt von Enteignung, Vertreibung vom Land der Vorfahren, der gewaltsamen Zerstörung von Häusern, der Aushebung von Ahnengräbern und rücksichtslosen Neubestattungen, wobei unter Missachtung der Würde der Verstorbenen Rituale und Kultur ignoriert werden. Ackerbau und Viehzucht fallen der Wasser-, Boden- und Luftverschmutzung zum Opfer. Weideflächen verschwinden, weil die Mine expandiert und gemeinschaftlich verwaltetes Land als Privateigentum beansprucht. Die verheerende Umweltzerstörung wird nach jeder Sprengung im Kohletagebau augenfällig: Das ganze Dorf hüllt sich in Kohlesmog, wodurch das soziale Leben in Somkhele empfindlich gestört wird. Die Menschen werden ihrer Lebensgrundlagen und ihres Identitätsgefühls beraubt.

Die Umweltzerstörung erstreckt sich über alle Dörfer in der Region und manifestiert sich in verseuchten und zerstörten Wasserquellen, Vegetation und Böden, was grosse Ernährungsunsicherheit und Armut nach sich zieht. Darüber hinaus führt giftiger Staub zu schweren Gesundheitsproblemen wie Atemwegs-, Augen- und Hautkrankheiten, von denen sowohl junge als auch alte Menschen betroffen sind. Eltern berichteten, dass ihre Kinder unter entzündeten und tränenden Augen, Schmerzen in Brust und Hals, laufender Nase, Kopfschmerzen und Nasennebenhöhlenentzündungen leiden. Traditionelle Heiler, die erste Anlaufstelle für kranke Dorfbewohner:innen, finden die Kräuter nicht mehr, die sie seit Generationen zur Heilung von Kranken verwenden. Wertvolle einheimische Kräuter und Bäume wurden beseitigt, um Platz für die Mine zu schaffen, und jene, die noch wachsen, sind durch den Kohlestaub unbrauchbar geworden.

Es sind vor allem männliche Bergleute, die in den Minen arbeiten. Sie berichten von unwürdigen Arbeitsbedingungen. In der Thendele-Mine werden die meisten Arbeitenden über Subunternehmer und nicht direkt durch das Bergbauunternehmen eingestellt. Durch die Vergabe von Unteraufträgen profitiert das Unternehmen finanziell erheblich; es kann einen Teil der Verantwortung an Dritte abgeben, die oft die gesetzlichen, arbeits-, gesundheits- und sicherheitsrelevanten Anforderungen ignorieren oder unterlaufen. Das Leben der Arbeiter ist geprägt von niedrigen Löhnen, einer schwachen oder gar keiner gewerkschaftlichen Vertretung sowie Gesundheits- und Sicherheitsrisiken. Oft werden die Arbeiter:innen dazu angehalten, die Produktionsziele auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit und Sicherheit zu erreichen. Sie sehen sich mit willkürlichen Entlassungen konfrontiert und ohne Mitspracherecht werden ihre Vereinigungsfreiheit und ihr Recht auf Tarifverhandlungen sowie ihre Bürgerrechte am Arbeitsplatz missachtet.

Frauen tragen die grösste Last

Die Folgen dieser miserablen Arbeitsbedingungen und der Zerstörung der Lebensgrundlagen wirken sich in stark unterschiedlicher Art auf die Geschlechter aus. In den Dörfern und im Haushalt sind es die Frauen, welche die Last übermässig stark auffangen, da sie – gesellschaftlich und kulturell bedingt – mit Betreuungsarbeit und anderen häuslichen Aufgaben wie der Versorgung der Familie und der Sicherstellung eines optimal funktionierenden Haushalts betraut sind. Am Arbeitsplatz haben Männer aufgrund ihrer zahlenmässigen Dominanz die Hauptlast zu tragen; sie befinden sich sozusagen im Zentrum des Ausbeutungssystems. Männer, die an der Lunge erkranken, können aufgrund der prekären Arbeitsverträge von den Minenunternehmen problemlos entlassen werden. Nachdem sie die besten Jahre ihres Lebens für die Mine geopfert haben, kümmert sich das Unternehmen nicht mehr um sie, weder um ihre physische noch um ihre psychische Gesundheit, welche aus dem Gefühl der Nutzlosigkeit heraus ebenfalls Schaden nimmt, weil sie nicht mehr in der Lage sind, für ihre Familien zu sorgen. Diese «unsichtbaren», psychischen Probleme äussern sich häufig in Form von Gewalt; aber auch das wird ignoriert, da Gewalt und schwarze Männlichkeitstypologie schon lange synonym verwendet werden.

Die kranken Männer, die oft auch Träger von übertragbaren Krankheiten sind, werden nach Hause geschickt und von ihren Ehefrauen gepflegt. Um den finanziellen Aufwand dafür zu decken, sind die Familien gezwungen, ihr Vieh zu verkaufen und Ersparnisse aufzubrauchen. Die Ehefrauen setzen alles daran, das Leiden zu lindern, das durch gesundheitliche Probleme, daraus resultierenden Selbsthass der ausgemusterten Bergleute und das «Unvermögen», auf dem enteigneten Land der Vorfahren für Essen zu sorgen, verursacht wird. Ehefrauen und Mädchen kümmern sich um die kranken Männer und während sie bestrebt sind, deren Würde und Selbstwertgefühl zu retten, sind auch sie den Krankheiten ausgesetzt, welche die Männer von der Kohlefront mitbringen und manchmal sogar ihren Tod verursachen.

In den Interviews und Fokusgruppendiskussionen, die im Rahmen der Studie geführt wurden, zeigte sich, dass die Mine die Armut von Familien, die früher auf eigenen Füssen standen, verschärft hat. Nur eine Handvoll politischer Eliten, das lokale Kleinbürgertum – jene, die Aufträge vom Bergbauunternehmen erhalten, LKW- und Taxibesitzer –, also nur eine Minderheit profitiert. Selbst die Lebensumstände dieser Menschen bleiben prekär, und der Preis, den sie mit ihrer Gesundheit, ihrem Land und den Gräbern ihrer Vorfahren zahlen, ist weit höher als das, was sie durch die Aufträge erwirtschaften können. Immer wieder war zu hören: «Sie nahmen unser Land und gaben uns R420’000 [entspricht ca. 19'000 CHF], Krankheiten, Armut und einen Putzjob». Und das, nachdem die Menschen ihr angestammtes Land aufgegeben hatten oder gewaltsam von dort vertrieben worden waren. Sie fragten: «Wie kann die Mine uns alles nehmen, was uns ernährt hat, und nur einer Person einen Arbeitsvertrag geben?» In der Gemeinschaft herrscht Unmut, der sich in Protesten gegen die Mine äussert. Diese Proteste, sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Gemeinschaft, sind geprägt von Gewalt, der Einschüchterung lokaler Aktivist:innen und der Ermordung von Gegner:innen des Bergbaus.

Globale Solidarität ist ausschlaggebend

Zwar spielte der Bergbau in Südafrika eine zentrale Rolle bei der Schaffung des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gefüges Südafrikas, insgesamt hat die Bevölkerung jedoch das Nachsehen. Das vermeintliche Wohlwollen der Bergbauunternehmen und ihrer PR-Maschinerie, deren beschönigende Darstellungen und ihre Versprechen vom Segen des Wirtschaftswachstums haben die Rechte der Menschen auf Leben, Sicherheit, Nahrung, Wasser, Wohnraum, Kultur und auf eine sichere Umwelt mit Füssen getreten. Um die Unternehmen dafür zur Rechenschaft zu ziehen, braucht es die dringende und aufrichtige Aufmerksamkeit der Regierung. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die globale Solidarität von gleichgesinnten Organisationen und Aktivist:nnen, die auch für viele andere Gemeinschaften im Globalen Süden, die auf gleiche Weise betroffen sind, ein Zeichen setzen können.

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© Asanda-Jonas Benya


Asanda-Jonas Benya ist Soziologin an der Universität Kapstadt, Südafrika, und derzeit Gastdozentin am Graduate Institute in Genf.

Meinung

Lobbying: Gleiche lange Spiesse für alle

26.04.2018, Agenda 2030

Alliance Sud setzt sich für Chancengleichheit ein, auch beim Lobbying. Finanzschwache Vertreter ideeller Interessen dürfen nicht benachteiligt werden. Vernehmlassung zum Kommissionsentwurf.

Lobbying: Gleiche lange Spiesse für alle

© Michael Stahl/Keystone

Die Stellungnahme von Alliance Sud zum Vorentwurf «Eine Regelung für transparentes Lobbying im eidgenössischen Parlament» (PA.IV. 15.438) der Staatspolitischen Kommission des Ständerates im Wortlaut.
 

Meinung

NEIN zur SBI der SVP: Die Argumente

22.10.2018, Agenda 2030

Alliance Sud und ihre Träger- und Partnerorganisationen engagieren sich gegen die sogenannte Selbstbestimmungsinititiave (SBI) der SVP.

NEIN zur SBI der SVP: Die Argumente

Zusammen mit zahlreiche Menschenrechts-, Entwicklungs- und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagiert sich Alliance Sud für eine NEIN gegen die hochproblematische Vorlage, über die am 25. November 2018 abgestimmt wird.

Das sind unsere Argumente.

Meinung

Nationaler Aktionsplan (NAP): Die Analyse

23.12.2016, Internationale Zusammenarbeit

Vier Jahre hat sich der Bundesrat Zeit genommen, um den NAP der Schweiz zur Umsetzung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zu veröffentlichen. Die Konzernverantwortungsinitative hat das Dokument analyisert.

Nationaler Aktionsplan (NAP): Die Analyse

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

«The End of the Beginning»

2011 verabschiedete der UNO-Menschenrechtsrat einstimmig die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und legte damit den Grundstein für einen Paradigmenwechsel: Konzerne haben eine unabhängige Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren. Die Erwartungen an Unternehmen sind in den UNO-Leitprinzipien klar definiert. Die Zeit der Hochglanz-Prospekte über philanthropische Projekte in Entwicklungsländern ist vorbei. Unternehmen müssen heute in der Gestaltung ihrer globalen Geschäftstätigkeit aktiv sicherstellen, dass die Menschenrechte aller respektiert werden. Weder die naive Annahme, es werde niemand geschädigt, so lange man gute Absichten verfolge, noch die Kompensation von Mängeln im profitorientierten Kerngeschäft mit sozialen Projekten ist gefragt. Der Anspruch der Weltgemeinschaft heisst heute: Konsequente Integration der Menschenrechte und der Nachhaltigkeit in die eigenen Geschäftsabläufe und proaktive Suche nach entsprechenden Risiken. Dieses Ziel ist noch längst nicht erreicht. Der Vater der UNO-Leitprinzipien, Professor John Ruggie, nannte den neuen Konsens 2011 «The End of the Beginning». Nach mehr als fünf Jahren muss nüchtern festgestellt werden, dass «the Beginning» andauert. Zwar haben einige Staaten nationale Aktionspläne veröffentlicht, doch diese lesen sich meist wie Bestandesaufnahmen aktueller Politiken. Gleichwohl ist eine gesteigerte internationale Dynamik spürbar: Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass neben übergeordneten Prinzipien klare Anforderungen und verbindliche Gesetze notwendig sind, um sicherzustellen, dass alle Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen.
Die Schweiz veröffentlichte am 9. Dezember 2016 ihren Nationalen Aktionsplan zu Wirtschaft und Menschenrechten (in der Folge NAP), dessen Erarbeitung durch das Postulat 12.3503, Alec von Graffenried, ausgelöst worden ist. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die sich im Verein Konzernverantwortungsinitiative zusammengeschlossen haben, verfolgten die Entwicklung des Plans aktiv und beteiligten sich wo möglich an dessen Ausarbeitung. Gemeinsam haben sie das Endresultat in vorliegendem Papier analysiert und kommentiert.

Download der Analyse und Kommentare der Konzernverantwortungsinitiative

Meinung

JA zur Konzernverantwortungsinitiative!

14.07.2020, Konzernverantwortung

Am 29. November entscheiden die Schweizer Stimmberechtigen, ob Unternehmen auch im Ausland für von ihnen angerichtete Schäden geradestehen müssen.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

JA zur Konzernverantwortungsinitiative!

Kein Land der Welt hat mehr multinationale Konzerne pro Kopf als die Schweiz. Verschiedene Unternehmen mit Sitz hierzulande oder ihre Tochterfirmen im Ausland geraten regelmässig in die Schlagzeilen wegen ihrer Verletzung von Menschenrechten oder Umweltstandards in den Ländern des Südens: Glencore lässt Bauern vertreiben, die um ihre Landrechte kämpfen, Lafarge Holcim überzieht ganze Dörfer mit gesundheitsgefährdendem Feinstaub, Schweizer Raffinerien schmelzen Gold, das aus höchst dubiosen Quellen stammt.

Die Konzernzentralen in der Schweiz sind jedoch juristisch nicht haftbar für die Geschäftspraktiken der Firmen, die unter ihrer Kontrolle stehen. Betroffene, die sich vor Ort gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren, werden nicht selten eingeschüchtert und sind oft konfrontiert mit korrupten Untersuchungs- und Justizbehörden.

Während sich die offizielle Schweiz auf internationaler Ebene für die Weiterentwicklung der Menschenrechte und von Umweltstandards einsetzt, sträubt sie sich im eigenen Land gegen gesetzliche Massnahmen zur massvollen Regulierung von Unternehmen.

Der Bundesrat ist der Meinung, es genüge, wenn sich Unternehmen freiwillig an Menschenrechte und Umweltstandards halten und – so will es sein indirekter Gegenvorschlag – in Hochglanzbroschüren ihre diesbezüglichen Bemühungen in regelmässigen Berichten schönreden können. Nach einem politischen Seilziehen, das sich über vier Jahre hinzog, hat sich die Mehrheit des Parlaments im Sommer 2020 endgültig dieser Haltung angeschlossen.

Die Konzernverantwortungsinitiative verlangt etwas ganz und gar Selbstverständliches. Selbst GegnerInnen der Initiative räumen ein, dass deren Anliegen – der Schutz der Menschenrechte und der Umwelt – unbestritten seien. Kein Schweizer Unternehmen, das die grundlegenden Regeln des verantwortungsvollen Unternehmertums befolgt, braucht eine gesetzliche Regulierung mit Augenmass zu fürchten; die Angst vor Kosten und überbordender Bürokratie ist unbegründet.
Trotzdem wehren sich die Lobbyorganisationen SwissHoldings und Economiesuisse vehement gegen die Konzernverantwortungsinitiative. Honni soit qui mal y pense: So können nur schwarze Schafe argumentieren, die sich heute einseitig an Profitinteressen, statt an Prinzipien wie Fairness und Verantwortung orientieren.

Dass verantwortungsloses Gewinnstreben mit den berechtigten Anliegen nach sozialem (und ökologischem) Ausgleich kollidieren kann, ist altbekannt. Seit Jahrzehnten versuchen die Vereinten Nationen darum, den Bereich «Unternehmen und Menschenrechte» so zu regeln, dass legitime Interessen in ein Gleichgewicht gebracht werden können. Ein diesbezüglicher Meilenstein war die Verabschiedung der Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, welche der UN-Menschenrechtsrat 2011 einstimmig verabschiedete. Die Staaten werden darin verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Unternehmen unter ihrer Jurisdiktion die Menschenrechte einhalten. Dies soll erreicht werden mit einer Mischung aus freiwilligen Massnahmen der Unternehmen und verpflichtenden staatlichen Regeln, einem sogenannten smart mix.

Mit der Umsetzung dieser (nach ihrem Verfasser benannten) Ruggie-Prinzipien tut sich die offizielle Schweiz jedoch schwer: Im November 2011 lancierte eine Handvoll Organisationen – darunter Alliance Sud – die Petition «Recht ohne Grenzen», die von Bundesrat und Parlament verlangte, ein Gesetz auszuarbeiten, wonach Firmen, die ihren Sitz in der Schweiz haben, überall in der Welt die Menschenrechte und Umweltstandards respektieren müssen. Im Frühling 2015 unterstützte der Nationalrat knapp eine Motion, die ein Gesetz zu einer menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfungspflicht für Unternehmen zu verlangte. Auf Antrag der CVP wurde die Abstimmung wiederholt und einige Abgeordnete änderten ihre Meinung. Nach diesem Manöver des Nationalrats entschieden mehr als 60 zivilgesellschaftliche Organisationen, die Konzernverantwortungsinitiative zu lancieren. Am 10. Oktober 2016 wurde die «Volksinitiative für verantwortungsvolle Unternehmen zum Schutz von Mensch und Umwelt» mit über 120‘000 gültigen Unterschriften eingereicht.

In den folgenden vier Jahren spielte sich in National- und Ständerat bzw. deren Kommissionen ein endlos scheinendes Hin und Her ab, das an die Abzockerinitiative erinnerte: Trotz breiter Unterstützung in der Bevölkerung gelang es dem Parlament nicht, einen Gegenvorschlag zur Initiative auszuarbeiten, der es den InitiantInnen erlaubt hätte, ihr Volksbegehren zurückzuziehen.

Als entwicklungspolitische Denkfabrik spielte Alliance Sud im Ringen um eine gesetzliche Verankerung der Konzernverantwortung von Anfang eine zentrale Rolle. Ihr früherer Geschäftsführer Peter Niggli und ihr aktueller Direktor Mark Herkenrath sind Mitglieder des Initiativkomitees, Herkenrath zudem im Vorstand des Vereins, der die Initiative koordiniert.

Unterstützen Sie mit Ihrem JA zur Konzernverantwortungsinitiative am 29. November eine weltoffene, solidarische Schweiz, deren Unternehmen zu ihrer globalen Verantwortung stehen.

Folgende weitergehende Informationen finden Sie auf der Website des Initiative:


Weitere Komitees, welche die Initiative unterstützen:

Wirtschaftskomitee für verantwortungsvolle Unternehmen
Kirche für Konzernverantwortung
 

Meinung

Nahrungsmittelspekulation: Regulierungsbedarf

05.03.2016, Finanzen und Steuern

Die Spekulation mit Nahrungsmitteln führt zu grossen Preisschwankungen, die vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten im globalen Süden dramatische Auswirkungen haben können.

Nahrungsmittelspekulation: Regulierungsbedarf

Einreichung der Volksinitiative im März 2014
© Daniel Hitzig/Alliance Sud

Markus Mugglin, Ökonom und freier Publizist

Die Spekulation mit Nahrungsmitteln führt zu grossen Preisschwankungen, die vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten im globalen Süden dramatische Auswirkungen haben können. Eine von den Jungsozialisten (Juso) lancierte Volksinitiative forderte den Stopp der Nahrungsmittelspekulation. Auch Alliance Sud verlangte vom Bundesrat neue Regulierungen, welche verheerende Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln eingedämmt hätten. 2014 hat der Ökonom und freie Publizist Markus Mugglin im Auftrag von Alliance Sud eine Studie über die Folgen der Nahrungsmittelspekulation erarbeitet. Seit dem Beginn der 2000er Jahre  haben sich die Preise für Nahrungsmittelrohstoffe verdoppelt, Preisspitzen wurden 2006/2007 und 2011 erreicht.

Unheilvolle Spekulation

Unter diesem Preisanstieg litt die Ernährungssicherheit vor allem von armen Bevölkerungsschichten im globalen Süden. Volatile Preise gefährden die Existenzgrundlage der Produzentinnen (bei schnell und stark fallenden Preisen) genauso wie der KonsumentInnen (bei schnell und stark steigenden Preisen). Die Länder des Nordens, darunter vor allem die Schweiz, verkennen diese Tatsache. Sie bleiben überzeugt von der Notwendigkeit der «nützlichen» Spekulation, die in den 1990er Jahren zuweilen eine preisstabilisierende Wirkung hatte. Gleichzeitig weigern sie sich zuzugeben, dass sich seither gewisse Praktiken der Nahrungsmittelspekulation grundlegend verändert haben. Erwähnt seien namentlich der Derivatehandel durch Banken und Handelsplattformen, die mit ausgeklügelter Informatik in Sekunden Tausende von Geschäften abwickeln können.

Fünf Vorschläge zur Re-Regulierung:

  1. Für Alliance Sud ist die Re-Regulierung der Nahrungsmittelspekulation eine zentrale Massnahme, um die Ernährungssicherheit auf dem ganzen Planeten zu gewährleisten. Dabei führt sie folgende fünf Vorschläge ins Feld:
  2. Der ausserbörsliche Handel mit Derivaten darf nur unter Aufsicht stattfinden, so dass vollständige Transparenz für alle Beteiligten und die Behörden garantiert ist.
  3. Spekulanten müssen sich an Positionslimiten halten. Das heisst, ihr Anteil am Handelsvolumen darf einen gewissen Prozentsatz (zum Beispiel 15%) nicht übersteigen. Positionslimiten waren das wichtigste Regulierungsinstrument bis Ende der 1990er Jahre.
  4. Der Hochfrequenzhandel soll zumindest eingeschränkt, wenn nicht verboten werden.
  5. Beginnen die Preise innert kurzer Zeit zu stark zu schwanken sollte der Handel durch die Handelsplattformen unterbrochen werden. Zu prüfen ist die Einführung einer abgestuften Transaktionssteuer, die ab einem gewissen Preisniveau erhöht würde.

Und schliesslich wäre es sinnvoll, wenn Nahrungsmittelhändler und Spekulanten institutionell voneinander getrennt würden.

Das Anliegen der Initiative bleibt aktuell

In der Schweiz setzt der Bundesrat auf Selbstregulierung. Die USA und die EU haben dagegen bereits entschieden, die Nahrungsmittelspekulation einzuschränken und den Derivatehandel zu re-regulieren. Die Schweiz hat sich also für den Alleingang entschieden.
Aus all diesen Gründen hat Alliance Sud das Anliegen der Volksinitiative der Juso gegen die Nahrungsmittelspekulation unterstützt, die am 24. März 2014 eingereicht wurde. Die Initiative, mitgetragen von der SP, den Grünen und verschiedenen Entwicklungsorganisationen (darunter Swissaid und Solidar Suisse) wollte Finanzinstituten und Vermögensverwaltern verbieten, in Finanzinstrumente zu investieren, die auf landwirtschaftlichen Rohstoffen oder Nahrungsmitteln basieren.

Lebhafte Kampagne

Während der Abstimmungskampagne unterstrich Alliance Sud, wie wenig die Schweiz bislang gegen die Finanzspekulation unternommen habe. «Der Bundesrat hat es verpasst, selber notwendige Massnahmen zu treffen. Darum ist die Initiative gegen die Nahrungsmittelspekulation die einzig mögliche politische Alternative», so die Einschätzung von Mark Herkenrath von Alliance Sud.

Die Initianten riefen auch in Erinnerung, dass die Uno Massnahmen fordert, um die Volatilität der Nahrungsmittelpreise einzudämmen, die zeitweise unkontrollierbar ist und eine Ursache für die Hungerkrisen von 2007 und 2011 war. «Wenn Sie 80% ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen, dann kann bereits die kleinste Preiserhöhung Hunger bedeuten», erklärte Caroline Morel von Swissaid, eine der Mitinitantinnen.

Ein ernstzunehmendes Signal

Die Gegner sagten der Initiative eine krachende Niederlage voraus. Stattdessen wurde sie am 28. Februar 2016 von mehr als 40% der Abstimmenden unterstützt. Das zeigt, dass die Spekulation mit Nahrungsmitteln die Schweizer StimmbürgerInnen stark beschäftigt und dass der Bundesrat früher oder später Massnahmen treffen muss, die über den blossen Appell an die Selbstregulierung hinausgehen. Es bräuchte nicht viel: Der Bundesrat könnte über eine Verordnung Positionslimiten für Händler aktivieren, die in der Schweiz einen Sitz haben. Die Grundlage dafür haben Bundesrat und Parlament mit der Aufnahme der Positionslimiten in den Artikel 118 des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes geschaffen.

Meinung

Selektive Solidarität

03.12.2015, Entwicklungsfinanzierung

Zuerst Terror und aktuell die Klimakonferenz in Paris. Wie ernst ist es der Schweiz mit ihrer Solidarität mit der Welt? GLOBAL+-Editorial von Alliance Sud-Geschäftsleiter Mark Herkenrath.

Selektive Solidarität

Mark Herkenrath, ehemaliger Direktor vom Alliance Sud
© Daniel Rihs/Alliance Sud

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Am Abend des 16. November wurde das Bundeshaus in die Farben der Trikolore getaucht. Ein schönes und wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Pariser Terroranschläge. Aber auch ein Mahnmal der selektiven Wahrnehmung. Wie wäre es, wenn sich Bundesrat und Parlament auch einmal mit Opfern jenseits unserer europäischen Nachbarländer solidarisch zeigten? Das Bundeshaus im Licht der Flagge Malis oder des Libanons? Oder jener Tuvalus, wo der Klimawandel schon jetzt verheerende Folgen zeigt. Wie ernst es der Schweiz mit ihrer Solidarität mit der Welt ist, steht aktuell an der Pariser Klimakonferenz auf dem Prüfstand.

Ein Indikator für die Haltung der Schweiz gegenüber den Benachteiligten dieser Welt ist die Höhe der öffentlichen Entwicklungshilfe. Seit ein paar Wochen ist auf der Website des Aussendepartements EDA nachzulesen, dass sie im Jahr 2014 die vom Parlament beschlossenen 0,5% des Bruttonationaleinkommens (BNE) erreicht hat – es waren sogar 0,51%. Grund zum Jubeln ist das indes nicht. Selbst das EDA zog es vor, das an sich erfreuliche Ergebnis für sich zu behalten und verzichtete vornehm auf eine Medienmitteilung.

Tatsache ist, dass es sich bei einem beträchtlichen Teil der schweizerischen Entwicklungsausgaben um Phantomhilfe handelt. 2014 wurden rund 17% des Aufwandes, den sich die Schweiz als bilaterale öffentliche Entwicklungszusammenarbeit anrechnen lässt, für Hilfe an Asylsuchende im Inland ausgegeben. In anderen Geberländern beträgt der Anteil des Entwicklungsbudgets, der für Asylsuchende im Inland benutzt wird, im Durchschnitt nur 4 bis 5%. Blieben die Asylausgaben, die den Entwicklungsländern so gut wie gar nichts nützen, von der Berechnung ausgeklammert, hätte sich öffentliche Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz 2014 auf gerade einmal 0,44% des Nationaleinkommens belaufen.

Das Schweigen des EDA hat noch einen zweiten Grund: Die Entwicklungsausgaben der Schweiz werden im Rahmen des Budgets 2016 und des Stabilisierungsprogramms 2017-19 bereits wieder massiv reduziert. Sie sollen über die nächsten Jahre hinweg nur noch 0,47% des BNE betragen, inklusive der Hilfe an Asylsuchende. Das widerspricht nicht nur dem Beschluss des Parlaments von 2008, die Schweiz müsse eine Entwicklungshilfequote von 0,5% des BNE erreichen, sondern auch dem langfristigen Interesse der Schweiz an einer stabilen und friedlichen Weltordnung. Bleibt die leise Hoffnung, dass das neugewählte Parlament am 0,5%-Auftrag festhält und sich der bundesrätlichen Bevormundung widersetzt.

Kaum helfen wird dabei allerdings, dass auch Norwegen, Schweden und Finnland in den kommenden Jahren einen wachsenden Teil ihres Entwicklungsbudgets für Inlandhilfe an Asylsuchende einsetzen wollen. Norwegen könnte zukünftig bis zu 21% seines Entwicklungsbudgets für die Betreuung von Asylsuchenden innerhalb der eigenen Landesgrenzen benutzen. Im Unterschied zur Schweiz setzt Norwegen aber nicht nur 0,5%, sondern mehr als 1% seines Nationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit ein. Norwegen, Schweden und Finnland könnten bis zur Hälfte ihrer Hilfe für Asylausgaben einsetzen und würden immer noch einen grösseren Teil ihrer Nationaleinkommen für langfristige Entwicklungszusammenarbeit ausgeben als die Schweiz in ihren besten Zeiten.

Dieser Text wurde in der Winterausgabe 2015/16 von GLOBAL+ publiziert.