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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Meinung
29.09.2022, Internationale Zusammenarbeit
Die UNO stellt für 2020 oder 2021 eine Verschlechterung des «Index der menschlichen Entwicklung» in 90 Prozent aller Länder fest. Die Welt steht in Flammen oder ist unter Wasser und die Schweiz diskutiert über Neutralität statt über Solidarität.
© Parlamentsdienste, 3003 Bern
Cassis, Pfister, Blocher: Alle drei Herren versuchen mit einem Adjektiv vor dem N-Wort zu trumpfen. Bevor wir zu den Adjektiven kommen das Substantiv. Die Neutralität der Schweiz war lebenswichtig, solange Nachbarstaaten Krieg führten. Das war im Deutsch-Französischen Krieg von 1871 so und erst recht im Ersten Weltkrieg, als unterschiedliche Sympathien für die Kriegspartien das Land spalteten.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Neutralität bekanntermassen flankiert von einem weiteren Element: Der Geschäftemacherei mit Kriegsparteien. Schweizer Firmen lieferten bis 1944 grosse Mengen an Rüstungsgütern an Nazi-Deutschland. Im Krieg konnte man dazu noch von einer Notlage sprechen, aber danach blieb die Geschäftemacherei, während die Neutralität zu deren wohlfeilem Mäntelchen mutierte. «Neutralität», verstanden als «wir machen mit allen Geschäften und scheren uns nicht um Sanktionen», war einer der drei Gründe (neben Finanzplatz und Steuergesetzen), warum die Schweiz zur global dominierenden Drehscheibe des Rohstoffhandels aufstieg.
Als Nicht-Uno-Mitglied hielt sich die Schweiz nicht an Uno-Sanktionen, etwa gegen Rhodesien (heute Simbabwe) oder Apartheid-Südafrika. Marc Rich, der Pate des Schweizer Rohstoffhandels, dessen Firma zu Glencore wurde und dessen «Rich-Boys» Firmen wie Trafigura gründeten, bezeichnete seine Öl-Geschäfte mit dem Unrechtsregime im südlichen Afrika als sein «wichtigstes und profitabelstes Geschäft». Die Getreidehändler an den Gestaden des Genfersees profitierten aber auch vom Getreideembargo der USA gegen die Sowjetunion und sprangen dort in die Lücke, obwohl die Schweiz im Kalten Krieg ideologisch und praktisch (siehe Crypto-Affäre) ganz und gar nicht neutral war.
Nun zu den Adjektiven: Die «kooperative Neutralität» von Ignazio Cassis hätte die Geschäftemacherei relativiert, indem sie den neuen Status quo seit der russischen Invasion (EU-Sanktionen werden übernommen) festgeschrieben hätte. Doch der Bundesrat erteilte dem Adjektiv des Bundespräsidenten eine Abfuhr.
Weniger klar ist die «dezisionistische (Auffassung von) Neutralität» von Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Liest man sein Interview in der Zeitung Le Temps, beschränken «Menschenrechte, Demokratie und freie Meinungsäusserung» die Geschäftemacherei. Gemäss Interview mit den Tamedia-Zeitungen geht es eher um die Werte des «westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells», also «Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit des Privateigentums und soziale Wohlfahrt».
Die «integrale Neutralität» von alt Bundesrat Christoph Blocher will zurück zur absoluten Geschäftemacherei. Diese verteidigte er einst bereits gegen die Apartheid-KritikerInnen. Die von ihm gegründete und präsidierte «Arbeitsgruppe südliches Afrika» (ASA) wetterte gegen Sanktionen und gab südafrikanischen Rechtspolitikern und Militärs eine Plattform für ihre menschenverachtenden Botschaften. Die ASA organisierte auch Propagandareisen: «Auf den Spuren der Buren».
Auch ich hätte noch Adjektive anzubringen, denn was der Schweiz am besten anstünde, wäre eine «mitfühlende (Flüchtlinge) und weltverträgliche (Menschenrechte vor Geschäftemacherei) Neutralität».
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13.06.2023, Internationale Zusammenarbeit
Wenn Bergbauunternehmen in Südafrika in bewohnte Gebiete vordringen und dort mit dem Abbau beginnen, sind nicht nur Minenarbeiter von den negativen Konsequenzen betroffen. Von Asanda-Jonas Benya, University of Cape Town
Frauen schieben Schubkarren auf die Halde einer Kohlemine im Kohlekraftwerk Duvha, östlich von Johannesburg.
© Denis Farrell / AP Photo / Keystone
2022 gab mir Fastenaktion eine Studie über die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des Bergbaus auf die Arbeiter.innen und die Bevölkerung in den betroffenen Gemeinden in Auftrag. Durch eine geschlechtsspezifische Linse betrachtet und mit dem Fokus auf die südafrikanische Stadt Mtubatuba zeichnet der Bericht ein differenziertes Bild darüber, welchen Einfluss die Minentätigkeit auf die Menschen in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal hat.
In Somkhele befindet sich Thendele, eine der grössten Minen Südafrikas, in der Anthrazit im Tagebau gewonnen wird. Das Leben der Menschen ist hier geprägt von Enteignung, Vertreibung vom Land der Vorfahren, der gewaltsamen Zerstörung von Häusern, der Aushebung von Ahnengräbern und rücksichtslosen Neubestattungen, wobei unter Missachtung der Würde der Verstorbenen Rituale und Kultur ignoriert werden. Ackerbau und Viehzucht fallen der Wasser-, Boden- und Luftverschmutzung zum Opfer. Weideflächen verschwinden, weil die Mine expandiert und gemeinschaftlich verwaltetes Land als Privateigentum beansprucht. Die verheerende Umweltzerstörung wird nach jeder Sprengung im Kohletagebau augenfällig: Das ganze Dorf hüllt sich in Kohlesmog, wodurch das soziale Leben in Somkhele empfindlich gestört wird. Die Menschen werden ihrer Lebensgrundlagen und ihres Identitätsgefühls beraubt.
Die Umweltzerstörung erstreckt sich über alle Dörfer in der Region und manifestiert sich in verseuchten und zerstörten Wasserquellen, Vegetation und Böden, was grosse Ernährungsunsicherheit und Armut nach sich zieht. Darüber hinaus führt giftiger Staub zu schweren Gesundheitsproblemen wie Atemwegs-, Augen- und Hautkrankheiten, von denen sowohl junge als auch alte Menschen betroffen sind. Eltern berichteten, dass ihre Kinder unter entzündeten und tränenden Augen, Schmerzen in Brust und Hals, laufender Nase, Kopfschmerzen und Nasennebenhöhlenentzündungen leiden. Traditionelle Heiler, die erste Anlaufstelle für kranke Dorfbewohner:innen, finden die Kräuter nicht mehr, die sie seit Generationen zur Heilung von Kranken verwenden. Wertvolle einheimische Kräuter und Bäume wurden beseitigt, um Platz für die Mine zu schaffen, und jene, die noch wachsen, sind durch den Kohlestaub unbrauchbar geworden.
Es sind vor allem männliche Bergleute, die in den Minen arbeiten. Sie berichten von unwürdigen Arbeitsbedingungen. In der Thendele-Mine werden die meisten Arbeitenden über Subunternehmer und nicht direkt durch das Bergbauunternehmen eingestellt. Durch die Vergabe von Unteraufträgen profitiert das Unternehmen finanziell erheblich; es kann einen Teil der Verantwortung an Dritte abgeben, die oft die gesetzlichen, arbeits-, gesundheits- und sicherheitsrelevanten Anforderungen ignorieren oder unterlaufen. Das Leben der Arbeiter ist geprägt von niedrigen Löhnen, einer schwachen oder gar keiner gewerkschaftlichen Vertretung sowie Gesundheits- und Sicherheitsrisiken. Oft werden die Arbeiter:innen dazu angehalten, die Produktionsziele auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit und Sicherheit zu erreichen. Sie sehen sich mit willkürlichen Entlassungen konfrontiert und ohne Mitspracherecht werden ihre Vereinigungsfreiheit und ihr Recht auf Tarifverhandlungen sowie ihre Bürgerrechte am Arbeitsplatz missachtet.
Die Folgen dieser miserablen Arbeitsbedingungen und der Zerstörung der Lebensgrundlagen wirken sich in stark unterschiedlicher Art auf die Geschlechter aus. In den Dörfern und im Haushalt sind es die Frauen, welche die Last übermässig stark auffangen, da sie – gesellschaftlich und kulturell bedingt – mit Betreuungsarbeit und anderen häuslichen Aufgaben wie der Versorgung der Familie und der Sicherstellung eines optimal funktionierenden Haushalts betraut sind. Am Arbeitsplatz haben Männer aufgrund ihrer zahlenmässigen Dominanz die Hauptlast zu tragen; sie befinden sich sozusagen im Zentrum des Ausbeutungssystems. Männer, die an der Lunge erkranken, können aufgrund der prekären Arbeitsverträge von den Minenunternehmen problemlos entlassen werden. Nachdem sie die besten Jahre ihres Lebens für die Mine geopfert haben, kümmert sich das Unternehmen nicht mehr um sie, weder um ihre physische noch um ihre psychische Gesundheit, welche aus dem Gefühl der Nutzlosigkeit heraus ebenfalls Schaden nimmt, weil sie nicht mehr in der Lage sind, für ihre Familien zu sorgen. Diese «unsichtbaren», psychischen Probleme äussern sich häufig in Form von Gewalt; aber auch das wird ignoriert, da Gewalt und schwarze Männlichkeitstypologie schon lange synonym verwendet werden.
Die kranken Männer, die oft auch Träger von übertragbaren Krankheiten sind, werden nach Hause geschickt und von ihren Ehefrauen gepflegt. Um den finanziellen Aufwand dafür zu decken, sind die Familien gezwungen, ihr Vieh zu verkaufen und Ersparnisse aufzubrauchen. Die Ehefrauen setzen alles daran, das Leiden zu lindern, das durch gesundheitliche Probleme, daraus resultierenden Selbsthass der ausgemusterten Bergleute und das «Unvermögen», auf dem enteigneten Land der Vorfahren für Essen zu sorgen, verursacht wird. Ehefrauen und Mädchen kümmern sich um die kranken Männer und während sie bestrebt sind, deren Würde und Selbstwertgefühl zu retten, sind auch sie den Krankheiten ausgesetzt, welche die Männer von der Kohlefront mitbringen und manchmal sogar ihren Tod verursachen.
In den Interviews und Fokusgruppendiskussionen, die im Rahmen der Studie geführt wurden, zeigte sich, dass die Mine die Armut von Familien, die früher auf eigenen Füssen standen, verschärft hat. Nur eine Handvoll politischer Eliten, das lokale Kleinbürgertum – jene, die Aufträge vom Bergbauunternehmen erhalten, LKW- und Taxibesitzer –, also nur eine Minderheit profitiert. Selbst die Lebensumstände dieser Menschen bleiben prekär, und der Preis, den sie mit ihrer Gesundheit, ihrem Land und den Gräbern ihrer Vorfahren zahlen, ist weit höher als das, was sie durch die Aufträge erwirtschaften können. Immer wieder war zu hören: «Sie nahmen unser Land und gaben uns R420’000 [entspricht ca. 19'000 CHF], Krankheiten, Armut und einen Putzjob». Und das, nachdem die Menschen ihr angestammtes Land aufgegeben hatten oder gewaltsam von dort vertrieben worden waren. Sie fragten: «Wie kann die Mine uns alles nehmen, was uns ernährt hat, und nur einer Person einen Arbeitsvertrag geben?» In der Gemeinschaft herrscht Unmut, der sich in Protesten gegen die Mine äussert. Diese Proteste, sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Gemeinschaft, sind geprägt von Gewalt, der Einschüchterung lokaler Aktivist:innen und der Ermordung von Gegner:innen des Bergbaus.
Zwar spielte der Bergbau in Südafrika eine zentrale Rolle bei der Schaffung des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gefüges Südafrikas, insgesamt hat die Bevölkerung jedoch das Nachsehen. Das vermeintliche Wohlwollen der Bergbauunternehmen und ihrer PR-Maschinerie, deren beschönigende Darstellungen und ihre Versprechen vom Segen des Wirtschaftswachstums haben die Rechte der Menschen auf Leben, Sicherheit, Nahrung, Wasser, Wohnraum, Kultur und auf eine sichere Umwelt mit Füssen getreten. Um die Unternehmen dafür zur Rechenschaft zu ziehen, braucht es die dringende und aufrichtige Aufmerksamkeit der Regierung. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die globale Solidarität von gleichgesinnten Organisationen und Aktivist:nnen, die auch für viele andere Gemeinschaften im Globalen Süden, die auf gleiche Weise betroffen sind, ein Zeichen setzen können.
© Asanda-Jonas Benya
Asanda-Jonas Benya ist Soziologin an der Universität Kapstadt, Südafrika, und derzeit Gastdozentin am Graduate Institute in Genf.
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26.04.2018, Agenda 2030
Alliance Sud setzt sich für Chancengleichheit ein, auch beim Lobbying. Finanzschwache Vertreter ideeller Interessen dürfen nicht benachteiligt werden. Vernehmlassung zum Kommissionsentwurf.
© Michael Stahl/Keystone
Die Stellungnahme von Alliance Sud zum Vorentwurf «Eine Regelung für transparentes Lobbying im eidgenössischen Parlament» (PA.IV. 15.438) der Staatspolitischen Kommission des Ständerates im Wortlaut.
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22.10.2018, Agenda 2030
Alliance Sud und ihre Träger- und Partnerorganisationen engagieren sich gegen die sogenannte Selbstbestimmungsinititiave (SBI) der SVP.
Zusammen mit zahlreiche Menschenrechts-, Entwicklungs- und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagiert sich Alliance Sud für eine NEIN gegen die hochproblematische Vorlage, über die am 25. November 2018 abgestimmt wird.
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23.12.2016, Internationale Zusammenarbeit
Vier Jahre hat sich der Bundesrat Zeit genommen, um den NAP der Schweiz zur Umsetzung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zu veröffentlichen. Die Konzernverantwortungsinitative hat das Dokument analyisert.
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
2011 verabschiedete der UNO-Menschenrechtsrat einstimmig die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und legte damit den Grundstein für einen Paradigmenwechsel: Konzerne haben eine unabhängige Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren. Die Erwartungen an Unternehmen sind in den UNO-Leitprinzipien klar definiert. Die Zeit der Hochglanz-Prospekte über philanthropische Projekte in Entwicklungsländern ist vorbei. Unternehmen müssen heute in der Gestaltung ihrer globalen Geschäftstätigkeit aktiv sicherstellen, dass die Menschenrechte aller respektiert werden. Weder die naive Annahme, es werde niemand geschädigt, so lange man gute Absichten verfolge, noch die Kompensation von Mängeln im profitorientierten Kerngeschäft mit sozialen Projekten ist gefragt. Der Anspruch der Weltgemeinschaft heisst heute: Konsequente Integration der Menschenrechte und der Nachhaltigkeit in die eigenen Geschäftsabläufe und proaktive Suche nach entsprechenden Risiken. Dieses Ziel ist noch längst nicht erreicht. Der Vater der UNO-Leitprinzipien, Professor John Ruggie, nannte den neuen Konsens 2011 «The End of the Beginning». Nach mehr als fünf Jahren muss nüchtern festgestellt werden, dass «the Beginning» andauert. Zwar haben einige Staaten nationale Aktionspläne veröffentlicht, doch diese lesen sich meist wie Bestandesaufnahmen aktueller Politiken. Gleichwohl ist eine gesteigerte internationale Dynamik spürbar: Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass neben übergeordneten Prinzipien klare Anforderungen und verbindliche Gesetze notwendig sind, um sicherzustellen, dass alle Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen.
Die Schweiz veröffentlichte am 9. Dezember 2016 ihren Nationalen Aktionsplan zu Wirtschaft und Menschenrechten (in der Folge NAP), dessen Erarbeitung durch das Postulat 12.3503, Alec von Graffenried, ausgelöst worden ist. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die sich im Verein Konzernverantwortungsinitiative zusammengeschlossen haben, verfolgten die Entwicklung des Plans aktiv und beteiligten sich wo möglich an dessen Ausarbeitung. Gemeinsam haben sie das Endresultat in vorliegendem Papier analysiert und kommentiert.
Download der Analyse und Kommentare der Konzernverantwortungsinitiative
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14.07.2020, Konzernverantwortung
Am 29. November entscheiden die Schweizer Stimmberechtigen, ob Unternehmen auch im Ausland für von ihnen angerichtete Schäden geradestehen müssen.
Kein Land der Welt hat mehr multinationale Konzerne pro Kopf als die Schweiz. Verschiedene Unternehmen mit Sitz hierzulande oder ihre Tochterfirmen im Ausland geraten regelmässig in die Schlagzeilen wegen ihrer Verletzung von Menschenrechten oder Umweltstandards in den Ländern des Südens: Glencore lässt Bauern vertreiben, die um ihre Landrechte kämpfen, Lafarge Holcim überzieht ganze Dörfer mit gesundheitsgefährdendem Feinstaub, Schweizer Raffinerien schmelzen Gold, das aus höchst dubiosen Quellen stammt.
Die Konzernzentralen in der Schweiz sind jedoch juristisch nicht haftbar für die Geschäftspraktiken der Firmen, die unter ihrer Kontrolle stehen. Betroffene, die sich vor Ort gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren, werden nicht selten eingeschüchtert und sind oft konfrontiert mit korrupten Untersuchungs- und Justizbehörden.
Während sich die offizielle Schweiz auf internationaler Ebene für die Weiterentwicklung der Menschenrechte und von Umweltstandards einsetzt, sträubt sie sich im eigenen Land gegen gesetzliche Massnahmen zur massvollen Regulierung von Unternehmen.
Der Bundesrat ist der Meinung, es genüge, wenn sich Unternehmen freiwillig an Menschenrechte und Umweltstandards halten und – so will es sein indirekter Gegenvorschlag – in Hochglanzbroschüren ihre diesbezüglichen Bemühungen in regelmässigen Berichten schönreden können. Nach einem politischen Seilziehen, das sich über vier Jahre hinzog, hat sich die Mehrheit des Parlaments im Sommer 2020 endgültig dieser Haltung angeschlossen.
Die Konzernverantwortungsinitiative verlangt etwas ganz und gar Selbstverständliches. Selbst GegnerInnen der Initiative räumen ein, dass deren Anliegen – der Schutz der Menschenrechte und der Umwelt – unbestritten seien. Kein Schweizer Unternehmen, das die grundlegenden Regeln des verantwortungsvollen Unternehmertums befolgt, braucht eine gesetzliche Regulierung mit Augenmass zu fürchten; die Angst vor Kosten und überbordender Bürokratie ist unbegründet.
Trotzdem wehren sich die Lobbyorganisationen SwissHoldings und Economiesuisse vehement gegen die Konzernverantwortungsinitiative. Honni soit qui mal y pense: So können nur schwarze Schafe argumentieren, die sich heute einseitig an Profitinteressen, statt an Prinzipien wie Fairness und Verantwortung orientieren.
Dass verantwortungsloses Gewinnstreben mit den berechtigten Anliegen nach sozialem (und ökologischem) Ausgleich kollidieren kann, ist altbekannt. Seit Jahrzehnten versuchen die Vereinten Nationen darum, den Bereich «Unternehmen und Menschenrechte» so zu regeln, dass legitime Interessen in ein Gleichgewicht gebracht werden können. Ein diesbezüglicher Meilenstein war die Verabschiedung der Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, welche der UN-Menschenrechtsrat 2011 einstimmig verabschiedete. Die Staaten werden darin verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Unternehmen unter ihrer Jurisdiktion die Menschenrechte einhalten. Dies soll erreicht werden mit einer Mischung aus freiwilligen Massnahmen der Unternehmen und verpflichtenden staatlichen Regeln, einem sogenannten smart mix.
Mit der Umsetzung dieser (nach ihrem Verfasser benannten) Ruggie-Prinzipien tut sich die offizielle Schweiz jedoch schwer: Im November 2011 lancierte eine Handvoll Organisationen – darunter Alliance Sud – die Petition «Recht ohne Grenzen», die von Bundesrat und Parlament verlangte, ein Gesetz auszuarbeiten, wonach Firmen, die ihren Sitz in der Schweiz haben, überall in der Welt die Menschenrechte und Umweltstandards respektieren müssen. Im Frühling 2015 unterstützte der Nationalrat knapp eine Motion, die ein Gesetz zu einer menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfungspflicht für Unternehmen zu verlangte. Auf Antrag der CVP wurde die Abstimmung wiederholt und einige Abgeordnete änderten ihre Meinung. Nach diesem Manöver des Nationalrats entschieden mehr als 60 zivilgesellschaftliche Organisationen, die Konzernverantwortungsinitiative zu lancieren. Am 10. Oktober 2016 wurde die «Volksinitiative für verantwortungsvolle Unternehmen zum Schutz von Mensch und Umwelt» mit über 120‘000 gültigen Unterschriften eingereicht.
In den folgenden vier Jahren spielte sich in National- und Ständerat bzw. deren Kommissionen ein endlos scheinendes Hin und Her ab, das an die Abzockerinitiative erinnerte: Trotz breiter Unterstützung in der Bevölkerung gelang es dem Parlament nicht, einen Gegenvorschlag zur Initiative auszuarbeiten, der es den InitiantInnen erlaubt hätte, ihr Volksbegehren zurückzuziehen.
Als entwicklungspolitische Denkfabrik spielte Alliance Sud im Ringen um eine gesetzliche Verankerung der Konzernverantwortung von Anfang eine zentrale Rolle. Ihr früherer Geschäftsführer Peter Niggli und ihr aktueller Direktor Mark Herkenrath sind Mitglieder des Initiativkomitees, Herkenrath zudem im Vorstand des Vereins, der die Initiative koordiniert.
Unterstützen Sie mit Ihrem JA zur Konzernverantwortungsinitiative am 29. November eine weltoffene, solidarische Schweiz, deren Unternehmen zu ihrer globalen Verantwortung stehen.
Folgende weitergehende Informationen finden Sie auf der Website des Initiative:
Weitere Komitees, welche die Initiative unterstützen:
Wirtschaftskomitee für verantwortungsvolle Unternehmen
Kirche für Konzernverantwortung
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05.03.2016, Finanzen und Steuern
Die Spekulation mit Nahrungsmitteln führt zu grossen Preisschwankungen, die vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten im globalen Süden dramatische Auswirkungen haben können.
Einreichung der Volksinitiative im März 2014
© Daniel Hitzig/Alliance Sud
Markus Mugglin, Ökonom und freier Publizist
Die Spekulation mit Nahrungsmitteln führt zu grossen Preisschwankungen, die vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten im globalen Süden dramatische Auswirkungen haben können. Eine von den Jungsozialisten (Juso) lancierte Volksinitiative forderte den Stopp der Nahrungsmittelspekulation. Auch Alliance Sud verlangte vom Bundesrat neue Regulierungen, welche verheerende Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln eingedämmt hätten. 2014 hat der Ökonom und freie Publizist Markus Mugglin im Auftrag von Alliance Sud eine Studie über die Folgen der Nahrungsmittelspekulation erarbeitet. Seit dem Beginn der 2000er Jahre haben sich die Preise für Nahrungsmittelrohstoffe verdoppelt, Preisspitzen wurden 2006/2007 und 2011 erreicht.
Unter diesem Preisanstieg litt die Ernährungssicherheit vor allem von armen Bevölkerungsschichten im globalen Süden. Volatile Preise gefährden die Existenzgrundlage der Produzentinnen (bei schnell und stark fallenden Preisen) genauso wie der KonsumentInnen (bei schnell und stark steigenden Preisen). Die Länder des Nordens, darunter vor allem die Schweiz, verkennen diese Tatsache. Sie bleiben überzeugt von der Notwendigkeit der «nützlichen» Spekulation, die in den 1990er Jahren zuweilen eine preisstabilisierende Wirkung hatte. Gleichzeitig weigern sie sich zuzugeben, dass sich seither gewisse Praktiken der Nahrungsmittelspekulation grundlegend verändert haben. Erwähnt seien namentlich der Derivatehandel durch Banken und Handelsplattformen, die mit ausgeklügelter Informatik in Sekunden Tausende von Geschäften abwickeln können.
Fünf Vorschläge zur Re-Regulierung:
Und schliesslich wäre es sinnvoll, wenn Nahrungsmittelhändler und Spekulanten institutionell voneinander getrennt würden.
In der Schweiz setzt der Bundesrat auf Selbstregulierung. Die USA und die EU haben dagegen bereits entschieden, die Nahrungsmittelspekulation einzuschränken und den Derivatehandel zu re-regulieren. Die Schweiz hat sich also für den Alleingang entschieden.
Aus all diesen Gründen hat Alliance Sud das Anliegen der Volksinitiative der Juso gegen die Nahrungsmittelspekulation unterstützt, die am 24. März 2014 eingereicht wurde. Die Initiative, mitgetragen von der SP, den Grünen und verschiedenen Entwicklungsorganisationen (darunter Swissaid und Solidar Suisse) wollte Finanzinstituten und Vermögensverwaltern verbieten, in Finanzinstrumente zu investieren, die auf landwirtschaftlichen Rohstoffen oder Nahrungsmitteln basieren.
Während der Abstimmungskampagne unterstrich Alliance Sud, wie wenig die Schweiz bislang gegen die Finanzspekulation unternommen habe. «Der Bundesrat hat es verpasst, selber notwendige Massnahmen zu treffen. Darum ist die Initiative gegen die Nahrungsmittelspekulation die einzig mögliche politische Alternative», so die Einschätzung von Mark Herkenrath von Alliance Sud.
Die Initianten riefen auch in Erinnerung, dass die Uno Massnahmen fordert, um die Volatilität der Nahrungsmittelpreise einzudämmen, die zeitweise unkontrollierbar ist und eine Ursache für die Hungerkrisen von 2007 und 2011 war. «Wenn Sie 80% ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen, dann kann bereits die kleinste Preiserhöhung Hunger bedeuten», erklärte Caroline Morel von Swissaid, eine der Mitinitantinnen.
Die Gegner sagten der Initiative eine krachende Niederlage voraus. Stattdessen wurde sie am 28. Februar 2016 von mehr als 40% der Abstimmenden unterstützt. Das zeigt, dass die Spekulation mit Nahrungsmitteln die Schweizer StimmbürgerInnen stark beschäftigt und dass der Bundesrat früher oder später Massnahmen treffen muss, die über den blossen Appell an die Selbstregulierung hinausgehen. Es bräuchte nicht viel: Der Bundesrat könnte über eine Verordnung Positionslimiten für Händler aktivieren, die in der Schweiz einen Sitz haben. Die Grundlage dafür haben Bundesrat und Parlament mit der Aufnahme der Positionslimiten in den Artikel 118 des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes geschaffen.
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03.12.2015, Entwicklungsfinanzierung
Zuerst Terror und aktuell die Klimakonferenz in Paris. Wie ernst ist es der Schweiz mit ihrer Solidarität mit der Welt? GLOBAL+-Editorial von Alliance Sud-Geschäftsleiter Mark Herkenrath.
Mark Herkenrath, ehemaliger Direktor vom Alliance Sud
© Daniel Rihs/Alliance Sud
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Am Abend des 16. November wurde das Bundeshaus in die Farben der Trikolore getaucht. Ein schönes und wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Pariser Terroranschläge. Aber auch ein Mahnmal der selektiven Wahrnehmung. Wie wäre es, wenn sich Bundesrat und Parlament auch einmal mit Opfern jenseits unserer europäischen Nachbarländer solidarisch zeigten? Das Bundeshaus im Licht der Flagge Malis oder des Libanons? Oder jener Tuvalus, wo der Klimawandel schon jetzt verheerende Folgen zeigt. Wie ernst es der Schweiz mit ihrer Solidarität mit der Welt ist, steht aktuell an der Pariser Klimakonferenz auf dem Prüfstand.
Ein Indikator für die Haltung der Schweiz gegenüber den Benachteiligten dieser Welt ist die Höhe der öffentlichen Entwicklungshilfe. Seit ein paar Wochen ist auf der Website des Aussendepartements EDA nachzulesen, dass sie im Jahr 2014 die vom Parlament beschlossenen 0,5% des Bruttonationaleinkommens (BNE) erreicht hat – es waren sogar 0,51%. Grund zum Jubeln ist das indes nicht. Selbst das EDA zog es vor, das an sich erfreuliche Ergebnis für sich zu behalten und verzichtete vornehm auf eine Medienmitteilung.
Tatsache ist, dass es sich bei einem beträchtlichen Teil der schweizerischen Entwicklungsausgaben um Phantomhilfe handelt. 2014 wurden rund 17% des Aufwandes, den sich die Schweiz als bilaterale öffentliche Entwicklungszusammenarbeit anrechnen lässt, für Hilfe an Asylsuchende im Inland ausgegeben. In anderen Geberländern beträgt der Anteil des Entwicklungsbudgets, der für Asylsuchende im Inland benutzt wird, im Durchschnitt nur 4 bis 5%. Blieben die Asylausgaben, die den Entwicklungsländern so gut wie gar nichts nützen, von der Berechnung ausgeklammert, hätte sich öffentliche Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz 2014 auf gerade einmal 0,44% des Nationaleinkommens belaufen.
Das Schweigen des EDA hat noch einen zweiten Grund: Die Entwicklungsausgaben der Schweiz werden im Rahmen des Budgets 2016 und des Stabilisierungsprogramms 2017-19 bereits wieder massiv reduziert. Sie sollen über die nächsten Jahre hinweg nur noch 0,47% des BNE betragen, inklusive der Hilfe an Asylsuchende. Das widerspricht nicht nur dem Beschluss des Parlaments von 2008, die Schweiz müsse eine Entwicklungshilfequote von 0,5% des BNE erreichen, sondern auch dem langfristigen Interesse der Schweiz an einer stabilen und friedlichen Weltordnung. Bleibt die leise Hoffnung, dass das neugewählte Parlament am 0,5%-Auftrag festhält und sich der bundesrätlichen Bevormundung widersetzt.
Kaum helfen wird dabei allerdings, dass auch Norwegen, Schweden und Finnland in den kommenden Jahren einen wachsenden Teil ihres Entwicklungsbudgets für Inlandhilfe an Asylsuchende einsetzen wollen. Norwegen könnte zukünftig bis zu 21% seines Entwicklungsbudgets für die Betreuung von Asylsuchenden innerhalb der eigenen Landesgrenzen benutzen. Im Unterschied zur Schweiz setzt Norwegen aber nicht nur 0,5%, sondern mehr als 1% seines Nationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit ein. Norwegen, Schweden und Finnland könnten bis zur Hälfte ihrer Hilfe für Asylausgaben einsetzen und würden immer noch einen grösseren Teil ihrer Nationaleinkommen für langfristige Entwicklungszusammenarbeit ausgeben als die Schweiz in ihren besten Zeiten.
Dieser Text wurde in der Winterausgabe 2015/16 von GLOBAL+ publiziert.
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05.12.2016, Klimagerechtigkeit
Die Schockwelle des Wahlsiegs von Donald Trump war auch im globalen Süden zu spüren. Aber anders.
«Trump versteht was von Kohle.» Wahlhelferin im Bundesstaat West Virginia.
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Donald Trump hat gewonnen. Zumindest die Stimmenmehrheit der weissen männlichen Wähler in massgebenden Bundesstaaten. Verloren haben u.a. der Klimaschutz, der politische Anstand, die Muslime und wir, der afrikanische Kontinent. So und ähnlich lautet der Tenor der Kommentare zu den US-Wahlen in den Online-Medien in Kenia, Nigeria und Uganda.
Ein Blick in die Wahlberichterstattung und LeserInnen-Beiträge ausserhalb des reichen Nordens lohnt sich. Wie berichten eigentlich die Medien in Entwicklungs- und Schwellenländern, die von der US-Politik genauso betroffen sind wie wir?
In Bangladesch zeugen zahlreiche Beiträge von der massiven (und wohl berechtigten) Furcht, dass sich der Klimawandel nochmals verschärfen könnte. Trump hält die globale Erwärmung bekanntlich für eine hässliche Erfindung der chinesischen Propaganda. Was kümmert ihn, dass in Bangladesch der Anstieg des Meeresspiegels bereits Auswirkungen zeigt und Sturmfluten zunehmen? Immerhin haben die Entwicklungsländer an der jüngsten Klimakonferenz in Marrakesch bekannt gegeben, dass sie nun umso ambitioniertere eigene CO₂-Reduktionsziele verfolgen wollen. Und umso dringender ist, dass andere reiche Länder als Trumps USA sie jetzt dabei unterstützen und die dafür versprochenen Mittel bereitstellen. Bedenklich: In der Schweiz hat der Bundesrat 2011 entsprechende Vorschläge in der Schublade verschwinden lassen.
Zurück zu Trump. Nicht nur in Bangladesch, auch in Mexiko und anderswo ist man besorgt über Trumps Pläne zur Ausschaffung der sogenannt illegalen Einwanderer. Wohin mit Zehntausenden von Landsleuten, die möglicherweise zurückkehren müssen? Was tun ohne die Geldüberweisungen der Familienmitglieder? Was wird mit der US-amerikanischen Entwicklungszusammenarbeit geschehen? Und was mit Exporten in die USA, die wieder mit hohen Zöllen belegt werden sollen?
Daniel Kalinaki beschreibt die Wahl Trumps in Kenias Daily Nation als die wohl afrikanischste in der Geschichte der USA. Einige LeserInnen widersprechen: Immerhin habe die unterlegene Partei die Niederlage anerkannt, ohne eine Revolte anzuzetteln.
Sicher berechtigt ist die Frage, die Owei Lakemfa in der nigerianischen Premium Times stellt: Wie sollen wir uns ein Vorbild nehmen an der Demokratie eines Landes, das zutiefst gespalten ist und der Welt einen frauenfeindlichen, xenophoben Steuerhinterzieher vor die Nase setzt? Die Dhaka Tribune teilt die Befürchtung vieler KommentatorInnen in Nord und Süd, das Beispiel Trump könnte Schule machen und fremdenfeindlichen verlogenen Demagogen dieser Welt massiven politischen Auftrieb geben.
Es wurde x-fach gesagt: Jetzt soll die neue Administration ihre Arbeit aufnehmen, bevor sich zeigt, wohin sich die Politik der USA bewegt. Anlass für Optimismus gibt es dabei kaum. Eines ist aber sicher: Die gewisse moralische Autorität, welche die USA mit der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten vor acht Jahren gewonnen hatte, ist verspielt und breitester Ernüchterung gewichen.
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17.03.2021, Klimagerechtigkeit
Mitte November hat der Hurrikan «Iota» die kolumbianische Insel Providencia fast komplett zerstört. Die rund 5000 BewohnerInnen haben alles verloren, aber geben nicht auf, erzählt die Direktbetroffene Hortencia Amor Cantillo.
Mit meinem Mann und meinen zwei Söhnen habe ich schon zwei Mal einen Hurrikan erlebt. Im Jahr 2005 wurden wir vom Hurrikan „Beta“ getroffen; allerdings war der nichts im Vergleich zu „Iota“. Beide Male kam der Hurrikan in der Nacht. Natürlich war uns nicht bewusst, wie stark „Iota“ sein würde, wir dachten er sei vielleicht in der Kategorie 1 oder 2 einzustufen. Als ich um 4 Uhr morgens merkte, dass wir bereits bei Stärke 4 waren, bekam ich Angst, vor allem weil die Wand unseres Hauses schon fast umfiel. Es war beängstigend. Wer die ganze Nacht mit dem Sturm kämpft, kann die Angst in den Gesichtern nicht sehen, da alles dunkel ist, sogar der Himmel. Den ersten Eindruck im Morgenrot vermitteln die Zerstörungen und Verwüstungen, die zurückbleiben. Es ist wie in einem Schockzustand: Man kann das, was man vor sich sieht, einfach nicht glauben.
Meine Familie hat dieser Hurrikan zuerst einmal emotional hart getroffen – wir waren orientierungslos: Die Zerstörung war so gross, dass wir keine Ahnung hatten, wo wir anfangen sollten. Ausserdem wurde der Tourismus, unsere ökonomische Lebensgrundlage, zerstört: die kleine Herberge (posada), von der wir lebten und abhängig waren. Auch das kleine Kinder- und Jugendzentrum, das ich betrieb, wurde grösstenteils zerstört. Ich bin jetzt dabei zu sehen, wie ich mich wieder aufraffen kann.
In unserem Haus haben wir momentan noch vier Gäste, zuerst waren wir 27 Personen, also fünf Familien in einem Haus. Die meisten haben sich irgendwie arrangiert und mit Stöcken und Blechen auf den Grundstücken, wo zuvor ihr Haus stand, kleine Unterkünfte gezimmert. Zu lernen, mit anderen Leuten zu wohnen, solidarisch zu sein und miteinander zu teilen, war auch eine neue Erfahrung für uns. Es ist das Eine, einander ab und zu zu grüssen und zu besuchen, aber das Andere, zusammenzuleben. Wir haben angefangen, eine grosse Mahlzeit für alle zuzubereiten, wobei jeder das beisteuert, was er gerade hat. Ich danke Gott, dass es uns möglich war, anderen zu helfen.
Denn viele, sehr viele Menschen haben alles verloren, wirklich alles. Manchen blieb nur das, was sie am Körper hatten. Viele hatten sich in den wenigen Häusern aus Zement versteckt, die zumindest teilweise stehengeblieben sind. Kurz nach dem Hurrikan hat die Regierung Campingzelte geschickt, aber die waren von schlechter Qualität. Es hat viel geregnet und das Wasser kam von unten in die Zelte rein. Sie sind okay für ein paar Tage, aber jetzt leben einige Leute schon seit dem 16. November darin. Sie beschweren sich, weil alles nass ist. Die Personen, die Zelte erhielten, stellten sie auf den Zementböden auf, die von ihren Häusern übriggeblieben sind, oder in den Toiletten, da einige Toilettenhäuser aus Zement sind. Es ist sehr hart für jene, die alles verloren haben. Der Sturm hat alles mitgenommen. Auch unser Dach im zweiten Stock des Hauses ist komplett weggeflogen; wir haben zwar ein paar Teile wiedergefunden, aber keiner weiss, wo das Dach jetzt ist. Immerhin haben wir Glück gehabt.
Etwa eine Woche nach dem Sturm kam eine NGO und hat angefangen, eine warme Mahlzeit pro Tag zu verteilen. Ihre Mitarbeitenden sind in verschiedenen Teilen der Insel stationiert. Hier bei uns in San Felipe sind sie in der katholischen Kirche; mittags läuten sie die Glocken und die Leute gehen ihr Mittagessen und eine Frucht abholen. Sie sind immer noch da, aber es ist auch für sie schwierig, da das Essen auf San Andrés zubereitet wird und mit Flugzeugen nach Providencia geflogen wird. Sie versuchen jetzt, einen Weg zu finden, um die Mahlzeiten direkt hier vor Ort zuzubereiten und so die komplizierte Logistik, welche dazu führt, dass das Essen manchmal nicht pünktlich ankommt, zu umgehen. Bis jetzt haben wir ihre Unterstützung, wofür ich Gott danke.
Die Regierung organisiert als erstes die Dächer für diejenigen, deren Häuser noch stehen; viele der Dächer sind Spenden von Privatpersonen. Sie werden nun mit Hilfe des Militärs, der nationalen Polizei, der Marine und der Luftwaffe, dem Zivilschutz und dem Roten Kreuz installiert. Sie alle sind hier und helfen beim Wiederaufbau. Aber der Prozess ist sehr langsam, vor allem für diejenigen, deren Häuser komplett zerstört wurden und als letzte wiederaufgebaut werden. Für diejenigen, deren Häuser noch zum Teil stehen, geht es ein wenig schneller, aber wir wissen nicht, wie lange es dauern wird. In der Zwischenzeit machen sie alle ihre Studien und Pläne. Wir versuchen alles, damit es etwas schneller geht. Natürlich gibt es Dinge, bei denen wir Hilfe benötigen. Um die Strände zu rekonstruieren, braucht es Maschinen; und gerade an den Küsten gibt es viele Trümmer, die wir nicht alleine beseitigen können.
Die Natur wird noch länger brauchen, bis sie sich erholt hat. Es gibt hier einige sehr grosse Bäume – wir nennen sie „Cotton Trees“. Ich wohne nun seit 26 Jahren auf der Insel und sehe immer diese riesigen Bäume mit ihren dicken Stämmen, sie müssen sehr alt sein. Nun wurden viele von ihnen komplett aus dem Boden herausgerissen, einige sind stehengeblieben, aber haben alle Äste und Blätter verloren. Es wird viele Jahre dauern, bis diese Bäume wieder gewachsen sind. Auch die Korallenriffe sind zerstört, und es wird sehr lange gehen, bis sie wieder rehabilitiert sind.
Jedes Jahr von Juli bis Ende November kommt die Hurrikan-Saison. Die Angst ist immer mit uns, aber es wird schwierig sein, noch einmal einen Hurrikan von dieser Stärke zu überwinden. Und wir sind nicht die Einzigen in so einer Situation. Auch an den Küsten der USA, in Mexiko, in Nicaragua besteht das Risiko von Hurrikanen. Uns ist bewusst, dass es immer wieder passieren kann. Ich stimme mit meinem Mann überein, dass ab jetzt jedes Haus einen Ort aus Beton haben sollte, wo man sich verstecken kann. Aber überall auf der Welt passieren Katastrophen, Erdbeben und so weiter.
Jemand hat mich gefragt, ob ich Providencia verlassen möchte. Ich habe Nein gesagt, weil es überall irgendeine Art von Gefahr gibt. Es ist traurig und es tut weh, aber wir sind hier und wir bleiben hier. Providencia ist für uns ein kleines Paradies und wir werden alles tun, um unser Paradies wieder herzustellen.
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