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Meinung
Nach Glasgow müssen wir Gas geben
06.12.2021, Klimagerechtigkeit
Mit der Abschlusserklärung der UN-Klimakonferenz ist es noch lange nicht getan: Die Klimakrise spitzt sich zu und das Klimabudget der Schweiz ist bald aufgebraucht. Die Analyse aus Glasgow von Stefan Salzmann, Klimaexperte beim Fastenopfer.

Hagel und Regen im Sommer in der Schweiz, Hitze in Kanada, Feuer in Griechenland und Russland, Dürre im Iran; im August die wissenschaftlich belegte Alarmstufe Rot im neusten Bericht des Weltklimarates. In deutlichen Worten schreiben KlimatologInnen, dass das Ausmass der anthropogenen Klimaerwärmung seit vielen Jahrhunderten bis Jahrtausenden beispiellos ist. Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen und Starkniederschlägen, landwirtschaftliche und ökologische Dürren werden zunehmen und immer häufiger kombiniert auftreten. Die bereits heute beobachteten Veränderungen werden sich verstärken und unumkehrbar sein. Jedes Zehntelgrad Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur macht einen Unterschied – insbesondere für die ärmsten und verwundbarsten Menschen auf der Welt.
Der neue Bericht des UNO-Umweltprogramms (UNEP) vom Oktober, der die Ziele des Pariser Abkommens mit den gemachten Versprechen vergleicht, stellt fest, dass die eingereichten Ziele der Länder eine globale Klimaerwärmung von 2.7 Grad ansteuern. Und parallel, schreibt ebenfalls das UNEP, werden weiterhin nicht genügend finanzielle Mittel für Anpassungsmassnahmen in armen Ländern zur Verfügung gestellt: Der Bedarf ist bis zu zehnmal höher als das, was die verursachenden Industrienationen bereitstellen.
Der Wille ist da – aber niemand bestimmt den Weg
Unter diesen Vorzeichen haben die OrganisatorInnen der 26. Weltklimakonferenz aus Grossbritannien viel guten Willen gezeigt. In der ersten Woche der Konferenz wurden täglich neue globale Initiativen verkündet. Die Initiativen «Globale Transition von Kohle zu sauberer Energie», «Stopp der globalen Entwaldung» oder «Globale Initiative für grüne Energie-Netze» sind nur eine Auswahl. Euphorisch hat die Internationale Energieagentur errechnet, dass man so auf einen Kurs von nur noch 1.8 Grad Erderwärmung kommen könne – wenn all die Versprechen umgesetzt werden. Und genau da liegt die Schwierigkeit – keine dieser Initiativen hat einen Umsetzungsplan. Die Länder, welche die Versprechen mittragen, sind die gleichen, die es bis 2020 nicht geschafft haben, die bereits 2009 versprochene Klimafinanzierung bereitzustellen. Und wenn Länder wie Brasilien die Entwaldungsinitiative unterzeichnen, dann ist das zwar ein Hoffnungsschimmer, aber realpolitisch betrachtet wohl eher ein Todesurteil für diesen ehrgeizigen Plan, der wie alle anderen ambitionierten Pläne die Umsetzung derselben den freiwilligen politischen Massnahmen der einzelnen Länder überlässt.
Und die Schweiz?
Auch die Schweiz steht unter Druck: Nachdem selbst der kleine Schritt des revidierten CO2-Gesetzes im Juni 2021 für die Mehrheit der Bevölkerung zu gross war, reiste die vom Bundesamt für Umwelt angeführte Delegation mit fehlender gesetzlicher Grundlage nach Glasgow. Hier wurden einmal mehr alle Verhandlungen zu weiteren Klimafinanzen blockiert. Die Gründe sind auf den ersten Blick verständlich – auch reiche Schwellenländer sollen in die Klimafinanzierung einsteigen und es gehe nicht, dass sich China und Singapur als Entwicklungsländer ausgeben und nichts zahlen wollen. Als eines der reichsten Länder der Welt aber so zu argumentieren, nützt denen nichts, deren Lebensgrundlagen von diesen Beschlüssen abhängen – wie die ärmsten und verwundbarsten Menschen auf der Welt. Für sie bedeuten blockierte Verhandlungen, egal von wem, Not, Leid und prekäre Überlebensstrategien.
Schäden und Verluste
Die Lebensgrundlagen vieler stehen auf dem Spiel, von einigen sind sie bereits heute zerstört. Sogenannte «Schäden und Verluste» bezeichnen im Fachjargon durch die Klimaerhitzung verursachte irreversible Probleme: Klimaauswirkungen also, die die Anpassungsfähigkeit von Ländern, Gemeinschaften und Ökosystemen übersteigen. Wenn eine Familie wegen des Meeresspiegelanstiegs ihr Haus verliert, ist es für immer verloren. Solche Schäden und Verluste gibt es bereits heute und mit jedem Zehntelgrad Temperaturanstieg werden sie weiter zunehmen. Deshalb hat die Zivilgesellschaft dieses Thema in Glasgow zur obersten Priorität gemacht.
Das Klimabudget der Schweiz ist bald aufgebraucht
Nicht nur weil die Schweiz eines der reichsten Länder ist, welches historisch viele Treibhausgase ausgestossen hat, wäre es angebracht, anderen bei bereits eingetretenen Schäden beizustehen. Im September haben Sozial-EthikerInnen von zehn kirchlichen Institutionen über ein klimagerechtes CO2-Restbudget diskutiert. Auf der Basis von wissenschaftlich belegten Daten wurde berechnet, welcher Anteil an den global noch zur Verfügung stehenden Gigatonnen CO2 der Schweiz zusteht, wenn sie sich klimagerecht verhalten will. Die Sozial-EthikerInnen haben dabei getan, was die Klimawissenschaft nicht kann: Sie haben Modellrechnungen moralisch gewichtet und interpretiert. Dabei kam heraus, dass eine klimagerechte Restmenge CO2 im Frühjahr 2022 aufgebraucht sein wird. Ein weiterer Beleg dafür, dass die bundesrätliche Strategie, Netto Null Treibhausgasemissionen bis ins Jahr 2050 erreichen zu wollen, mit Gerechtigkeit nichts mehr gemeinsam hat.
Wie weiter?
Es sind Momente wie die Klimakonferenz in Glasgow, in denen die offizielle Schweiz beweisen sollte, dass unserem Land Gerechtigkeit ein Anliegen ist. Finanzen für andere Länder bereitzustellen, ist eine der einfachsten Möglichkeiten, dies zu tun: zusätzliche Mittel zum Entwicklungskredit für Minderung und Anpassung. Und zusätzliche Mittel für bereits eingetretene Schäden und Verluste. Die Grundlagen für solche Verhandlungsmandate werden in der Vorbereitungsphase national gelegt. Gleich wie die nationalen Klimaziele, die ambitionierter werden müssen, auch für die Schweiz, wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens noch in Reichweite liegen sollen. Die Debatten um den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative sowie die anstehende Neuaufnahme der Revision des CO2-Gesetzes sind die letzten Chancen, bevor es zu spät ist: Es braucht ein Netto-Null-Ziel bis spätestens 2040, einen linearen Absenkpfad dahin und einen konsequenten Ausstieg aus fossilen Energieträgern.
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Falsche Antworten auf die falschen Gefahren
02.03.2022, Klimagerechtigkeit
In der Schweiz verlangen die Präsidenten der Sparparteien FDP und SVP zwei zusätzliche Milliarden Franken für die Armee. Geld, welches besser für die dringende Klimafinanzierung eingesetzt würde.

Und plötzlich sitzt das Portemonnaie locker: 100 Milliarden Euro «Sondervermögen» will Deutschland unter anderem für die Rüstung ausgeben, und in der Schweiz verlangen die Präsidenten der Sparparteien FDP und SVP zwei zusätzliche Milliarden Franken für die Armee.
Heftige Reaktionen auf den brutalen Überfall auf die Ukraine sind verständlich. Er ist eine Katastrophe für die Bevölkerung des Landes, die Wohlstand, Frieden und in ihrer Mehrheit Demokratie gewünscht hat. Was es bedeutet, dass zwischenstaatliche Kriege in Europa zurückgekehrt sind, lässt sich noch gar nicht abschätzen.
Nur, Putins Russland hat die Ukraine nicht angegriffen, weil Westeuropa militärisch unterlegen ist. Im Gegenteil, die NATO-Staaten besitzen bei konventionellen Waffen − von ganz wenigen Waffengattungen abgesehen − überall ein teilweise massives Übergewicht. Auch wenn es Zweifel an der raschen Einsatzfähigkeit beim Angriff auf einen NATO-Staat gibt, so liegt das sicher nicht an fehlenden Waffen. Russland hatte 2020 Rüstungsausgaben von 61,7 Milliarden Dollar. Die vier grössten europäischen Nato-Staaten gaben zusammen drei Mal mehr Geld für die Rüstung aus. Mit der angekündigten Erhöhung der Militärausgaben auf 2 Prozent des BIP überholt Deutschland alleine Russland deutlich.
Vladimir Putin will sich nicht EU- oder NATO-Staaten einverleiben, noch nicht einmal die Sowjetunion wiederherstellen; die zentralasiatischen Staaten etwa sind ihm egal, so lange sie autokratisch regiert werden. Es geht ihm um ein imaginiertes historisches Russland, das er wiedervereinigen will. Natürlich ist ein isolierter Autokrat brandgefährlich, aber in diesem Fall sicher nicht, weil er überlegene Gegner konventionell angreifen will, sondern weil er die Finger am Abzug von Atomraketen hat. Keine der realen Gefahren für Europas Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Unversehrtheit lässt sich durch höhere Rüstungsausgaben wettmachen.
Klimaneutralität ist auch Sicherheitspolitik
Aus verständlichen Gründen ist die Veröffentlichung des diesjährigen Klimaberichtes des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zu «Auswirkungen, Anpassungen und Verletzlichkeit» am Montag 28. Februar medial untergegangen. Dessen politisch ausgehandelte Zusammenfassung erwähnt, dass bereits 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen «in einem Umfeld leben, das sehr anfällig für den Klimawandel ist». Und er hält fest: «Bei einer stärkeren Erderwärmung werden die Auswirkungen von Wetter- und Klimaextremen, insbesondere von Dürren, durch die steigende Anfälligkeit zunehmend gewaltsame innerstaatliche Konflikte beeinflussen». Und auch ohne Klimakriege werden mehr Menschen krank und sterben vorzeitig: «Der Klimawandel und die damit verbundenen Extremereignisse werden kurz- bis langfristig zu einer erheblichen Zunahme von Krankheiten und vorzeitigen Todesfällen führen.»
Die Kosten für die Anpassung an den Klimawandel sind grösser, als noch im letzten IPCC-Bericht vermutet. Das IPCC schätzt, dass es 2030 jährlich 127 Milliarden Dollar braucht, danach mehr. Die von den Industrieländern versprochenen jährlich 100 Milliarden Klimafinanzierung für Vermeidung und Anpassung bis 2025 reichen sicher nicht, ganz abgesehen davon, dass diese Summe bisher gar nie erreicht wurde. Gemessen am globalen Klimafussabdruck der Schweiz müsste sie 1 Milliarde zu diesem Ziel beitragen; derzeit stellt sie nur die Hälfte zur Verfügung und dieses Geld kommt erst noch zu einem grossen Teil aus dem Entwicklungshilfebudget.
Jawohl FDP und SVP, es braucht das gezückte Portemonnaie, aber für eine Klimafinanzierung, die der Verantwortung der Schweiz entspricht und ihre Klimaneutralität sicherstellt. Für die Sicherheit der Schweiz sind keine Ausgaben nötiger als diejenigen in einen sofortigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Gaskraftwerke für den Notfall, deren Pläne ausgerechnet ein paar Tage vor Kriegsausbruch präsentiert wurden, sehen seitdem aus wie ein schlechter Witz.
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Die Lösung wächst nicht im Reisfeld
06.12.2022, Klimagerechtigkeit
Die Schweiz setzt mit Ghana das weltweit erste ausländische Klimaschutzprojekt unter dem Pariser Klimavertrag von 2015 um. Doch dieses schiesst am Ziel vorbei.

© Dr. Stephan Barth / pixelio.de
Der Klimazirkus auf dem afrikanischen Kontinent hat seine Zelte wieder abgebrochen. Zwar gibt es jetzt endlich einen Fonds für Loss & Damage (Schäden & Verluste). Wie er ausgestaltet und vor allem wie er gefüllt werden soll, ist aber noch völlig offen. Insgesamt bleibt als Fazit der COP 27: «Gut, dass wir darüber geredet haben», also reden wir über etwas anderes.
Gleich zu Beginn der Konferenz, hat die «New York Times» der Schweiz mit einem kritischen Artikel über deren Ausland-Kompensationen die Suppe versalzen. Fünf Tage später wurde nämlich das erste Projekt vorgestellt, das im Rahmen eines bilateralen Klimaschutzabkommens zwischen Ghana und der Schweiz durchgeführt wird. Um die Emissionen der Bundesverwaltung zu kompensieren, sollen Reisbauern in Westafrika ihre Felder nicht mehr permanent fluten. Damit sollen die Methan-Emissionen reduziert werden. Dieses vom UNO-Entwicklungsprogramm durchgeführte Projekt mag durchaus sinnvoll sein, es zielt aber an den wichtigsten Herausforderungen zur Reduktion von Treibhausgasen in Afrika vorbei.
600 Millionen Menschen in Afrika sind ohne elektrische Energie und zwei Drittel des Stroms werden heute mit fossilen Brennstoffen produziert. Doch dezentrale, verlässliche und CO2-freie Elektrifizierung ist möglich: Wenn schon, dann sollte das Geld des Ablasshandels mit Emissionszertifikaten dafür verwendet werden.
Die UNO-Organisation für Handel und Entwicklung hat vor der Klimakonferenz auf eine noch viel grössere Herausforderung hingewiesen: Ein Fünftel der Länder in Sub-Sahara Afrika ist von Erdölexporten abhängig. Andere Länder könnten ebenfalls fossile Lagerstätten ausbeuten. Die Demokratische Republik Kongo etwa versteigert gerade neue Konzessionen; und so lange die USA Erdgas und Australien Kohle fördern, fehlt dem Norden jegliche Legitimität, dem bitterarmen Land Verzicht zu predigen. «Leave it in the ground» hat einen Preis und den kann nicht Afrika stemmen.
Gigantische Summen sind zudem nötig, damit die heutigen Exporteure auf ihre Haupteinnahmequelle verzichten können. Umso wichtiger wäre es, die verbleibenden Öleinnahmen für diese Transition zu verwenden, doch bisher haben Korruption, Veruntreuung und Misswirtschaft dazu geführt, dass ein grosser Teil davon verschwendet wurde. Hier steht die Schweiz in der Verantwortung, wie Anfang November einmal mehr ein Gerichtsurteil gezeigt hat: Glencore-Mitarbeiter flogen mit Koffern voll Bargeld kreuz und quer durch Afrika, um an Öl zum Schnäppchenpreis zu kommen. Es braucht eine Regulierung des Rohstoffhandels, um diese Mitverantwortung der Schweiz am Rohstoff-Fluch zu stoppen. Damit könnte Bundesbern Afrika sehr, sehr viel mehr Mittel zur Verfügung stellen als durch den Kauf von Emissionszertifikaten aus Reisfeldern.
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Mehr Klimaschutz, weniger Entwicklungshilfe?
18.06.2015, Entwicklungsfinanzierung
Peter Niggli, Alliance Sud-Geschäftsleiter, widerspricht Bafu-Direktor Bruno Oberle: Das Vorhaben, Entwicklungshilfe in Klimazahlungen umzupolen, widerspreche dem Gesetz.

© Daniel Rihs/Alliance Sud
Der Klimawandel kommt teuer zu stehen. Wenn wir ihn nicht bremsen, nehmen Ernteausfälle, Überflutungen tiefgelegener Küstenregionen, Krankheiten, Massenwanderungen und bewaffnete Konflikte um Ressourcen zu. Ihn zu bremsen, kostet ebenfalls. Dazu müssen Energiegewinnungs-, Produktions- und Transportsysteme global auf erneuerbare Energien umgestellt werden – was unter dem Begriff Klimaschutz verstanden wird. Moderate Schätzungen gehen von jährlich 200 Mrd. Dollar aus, welche dafür ab 2020 in Schwellen- und Entwicklungsländern investiert werden müssten. Hinzu kommen 50 Mrd. jährlicher Investitionen, um sich an den Klimawandel anzupassen. Dazu gehören Küstenschutzsysteme gegen den Meeresspiegelanstieg, Veränderungen der Wasserläufe oder Umsiedlungen innerhalb betroffener Länder, um nur ein paar Punkte zu nennen.
Diese 250 Mrd. fallen in den Entwicklungsländern zusätzlich zu dem an, was der weitere Ausbau der Bildungs- und Gesundheitssysteme oder der Infrastruktur kostet. Die Industrieländer versprachen in Kopenhagen 2009, sich an den gesamten Klimakosten mit 100 Mrd. jährlich, also zu 40 Prozent, zu beteiligen. Und zwar zusätzlich zur Entwicklungshilfe von heute 135 Mrd. Unsere Länder könnten diese 100 Mrd. leicht und verursachergerecht generieren, wenn sie die heimischen Treibhausgasemissionen preislich mehr belasten, als sie es ohnehin tun müssen, wenn sie den eigenen Klimaschutz vorantreiben. Vom Willen, die dazu nötigen politischen und gesetzlichen Vorkehrungen zu treffen, ist in vielen Industrieländern, auch in der Schweiz, aber wenig zu spüren. Das zeigt exemplarisch das Interview mit Bruno Oberle, dem obersten Umweltschützer der Schweiz.
Oberle behauptet apodiktisch, es sei politisch schon entschieden, dass der Klimabeitrag der Schweiz aus dem Entwicklungsbudget finanziert werde. Da dieses auf 0,5 Prozent erhöht worden sei, handle es sich um «neues, zusätzliches» Geld. Das widerspricht den internationalen Vereinbarungen. Schon bisher nahmen die Schweiz und andere westliche Länder ihre homöopathisch dosierten Klimabeiträge aus dem Entwicklungsbudget. Ab 2020 geht es aber um mehrere hundert Mio. Franken jährlich zulasten der Entwicklungsaufgaben von Deza und Seco. Für Oberle ist das kein Problem. Die Prioritäten der Entwicklungshilfe seien ständigem Modewandel unterworfen. Habe man sich früher auf Gender oder Dezentralisierung konzentriert, müsse man sich nun eben auf Klima ausrichten. Das nütze den Armen auch. Klima kann man aber so wenig essen, wie man genug zu essen kriegt, wenn der Klimawandel völlig aus dem Ruder läuft. Ceterum censeo: Oberles Vorhaben widerspricht dem Entwicklungshilfegesetz.
Editorial zu GLOBAL+ Nr 58, Sommer 2015
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Schielen aufs Entwicklungsbudget
05.10.2015, Entwicklungsfinanzierung
Das Budget für die Entwicklungszusammenarbeit schrumpft nicht nur. Es wird auch zusehends zum Selbstbedienungsladen für zweckfremde Interessen.

© Daniel Rihs / Alliance Sud
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Ende September verabschiedet die Uno die Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung. Ein ambitiöser Zielkatalog soll bis in 15 Jahren nicht nur die Entwicklungsländer, sondern die gesamte Welt auf den Weg in eine sozial und ökologisch nachhaltige Zukunft führen. Die offizielle Schweiz brüstet sich damit, erfolgreich zur Ausarbeitung dieses Zielkatalogs beigetragen zu haben, und verspricht, sich aktiv an der Umsetzung zu beteiligen.
Dazu passt ausgesprochen schlecht, dass der Bundesrat ausgerechnet jetzt die Mittel für die internationale Zusammenarbeit massiv kürzen will. Sein Entwurf für das Bundesbudget 2016 sieht bei der Entwicklungszusammenarbeit im Süden und Osten Einsparungen von rund 85 Millionen Franken vor. Dem Vernehmen nach werden auch die Rahmenkredite für die internationale Zusammenarbeit 2017-20 kaum Besserung bringen: Voraussichtlich werden die Entwicklungsausgaben des Bundes unter den vom Parlament geforderten 0.5 % des Bruttonationaleinkommens bleiben – und dies trotz steigender Asylkosten (welche sich die Schweiz bekanntlich international als Entwicklungshilfe anrechnen lässt).
Ursprünglich sollte auch der humanitären Hilfe das Geld gekürzt werden. Diesen unseligen Entscheid hat der Bundesrat inzwischen aber rückgängig gemacht. Er hat kürzlich angekündigt, er wolle dieses und nächstes Jahr rund 70 Millionen mehr als geplant für humanitäre und friedensfördernde Massnahmen gegen die aktuelle Flüchtlingskatastrophe einsetzen. Die schlechte Nachricht: Ein Teil der Ausgaben soll ebenfalls zu Lasten der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit gehen. Deren Budget schrumpft also gleich nochmals. Offensichtlich kommt dem Bundesrat nichts Besseres in den Sinn, als dringend benötigte Krisenhilfe zu Lasten der Ursachenbekämpfung von Armut und Not zu finanzieren.
Das Budget für die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz schrumpft aber nicht nur, sondern wird zusehends zum Selbstbedienungsladen für zweckfremde Interessen. Es wird schonungslos für die Klimafinanzierung benutzt und immer mehr auch für die Exportförderung. Wenn es nach dem Bundesrat geht, soll auch der wirtschaftspolitisch wünschenswerte, entwicklungspolitisch aber höchst fragwürdige Beitritt der Schweiz zur asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank AIIB daraus berappt werden.
Deza-Direktor Manuel Sager, der uns in diesem Heft ein Interview gibt, bedauert zwar, dass solche Übergriffe die erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz gefährden. Er handelt wie ein ausgesprochen netter und hochanständiger Zeitgenosse. So anständig, dass er sich in politische Verteilungskämpfe lieber nicht einmischen will. Es sei Sache der Politik und nicht der Bundesverwaltung, die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit vor dem finanziellen Ausbluten zu bewahren. Andere Bundesämter treten da deutlich offensiver auf.
Auf Alliance Sud kommt viel (Überzeugungs-)Arbeit zu. Als neuer Direktor des Think-and-do-Tanks der Schweizer Hilfswerke freue mich auf diese Herausforderung. Denn es fehlt uns nicht an guten Argumenten.
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Das Missverständnis um die Entwicklungshilfe
02.12.2015, Internationale Zusammenarbeit
Seit der Entwicklungsökonom Angus Deaton den Nobelpreis gewonnen hat, dient er Kritikern der Entwicklungszusammenarbeit als Kronzeuge. Ein fundamentaler Irrtum.

von Daniel Hitzig, ehemaliger Medienverantwortlicher Alliance Sud
«Entwicklungshilfe verstärkt die Armut» - mit solchen und ähnlichen Schlagzeilen haben Schweizer Medien die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Forschung von Angus Deaton kommentiert. Und dabei in der Regel ausgeblendet, was Deaton wirklich über die Zusammenhänge von Entwicklungshilfe, «Gesundheit, Reichtum und die Ursprünge der Ungleichheit» (Buchtitel) herausgefunden hat.
Falsch konzipierte Entwicklungshilfe, wie sie heute von einigen reichen Staaten etwa im subsaharischen Afrika geleistet wird, schneidet in Deatons Analyse denkbar schlecht ab. In dieser Form, schreibt der «findige Vermesser»1 , würde man sie besser abschaffen, denn sie unterstütze Regierungen, die viel zu grosse Teile ihres Staatshaushalts mit Hilfszahlungen bestritten, die Geberstaaten gegeneinander ausspielten und sich vor allem für das Wohlergehen der eigenen Klientel interessierten. Diese Hilfe behindere eine Entwicklung aus eigenem Antrieb, wie es ihn in jeder Gesellschaft, in jedem Land gebe. Vor allem aber helfe die meiste Hilfe den Gebern mehr als den Hilfsempfängern und werde kaum versteckt als diplomatisches Schmiermittel für eigene wirtschaftliche und/oder geostrategische Interessen eingesetzt. So weit, so zutreffend. Vor allem aber: Wirklich überraschend ist dieser Befund nicht, er deckt sich über weite Strecken mit der Kritik von Alliance Sud an zweckentfremdeter «Hilfe», wie sie heute vielerorts praktiziert wird. Sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit funktioniert anders: Sie stärkt die Zivilgesellschaft der Entwicklungsländer und ermächtigt sie, ihre Rechte zu beanspruchen und die eigene Regierung in die Verantwortung zu nehmen.
Ungleich lange Spiesse
Stossend ist, dass manchenorts nur jener Teil von Deatons Analyse rezipiert wird, die ins ideologische Weltbild passt, wonach Entwicklungshilfe Verschleuderung von Steuergeldern sei. Denn wiederholt unterstreicht Deaton, es gebe angesichts der herrschenden Ungleichheit eine moralische Verpflichtung, etwas wirklich Wirksames gegen Armut und Unterentwicklung zu unternehmen. Und im Kapitel «Was wir tun sollten» sagt Deaton auch, was er darunter versteht: Über die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank, den internationalen Währungsfonds und zahlreiche internationale Verträge seien arme und reiche Länder ökonomisch und politisch aufs Engste miteinander verbunden. Wenn Interessen der Reichen tangiert seien, etwa in Fragen des Patentschutzes, dann zögerten diese nicht, ihre Privilegien mit hartem Lobbying zu verteidigen. Ein weiteres Problem sieht der Nobelpreisträger im Mangel an technischer Expertise in den Ländern des Südens, was nicht selten dazu führe, dass diese in internationalen Gremien und Verhandlungen übervorteilt würden. Deaton kritisiert auch, dass zweifelhafte Regime nicht nur Hilfe erhalten, sondern dass ihnen gleichzeitig Waffen verkauft werden. Dieses Geld fehlt andernorts und erhöht die Chancen, dass Konflikte bewaffnet ausgetragen werden – mit fatalen Folgen für die Entwicklung.
Den Nobelpreis erhält der in Princeton (USA) lehrende Schotte Angus Deaton für seine empirischen Forschungen, wie sich Wohlstand verlässlich messen lässt, wie Einkommen und Lebensstandard zusammenhängen. In seinem auch für Laien verständlichen jüngsten Buch kommt Deaton zum Schluss, dass sich zwar global die meisten Eckwerte des Wohlstands in den letzten Jahrzehnten massiv verbessert haben. Doch er richtet sein Augenmerk auch auf jene, die bis jetzt noch nicht davon profitiert haben. Und nennt Gründe dafür.
Angus Deaton: The Great Escape – Health, Wealth and the Origins of Inequality, Princeton University Press, 2013, 360 Seiten.
1 Nobelpreis für einen findigen Vermesser, Dina Pomeranz, NZZ vom 17. Oktober 2015.
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Entwicklungshilfe aus Eigennutz
22.03.2016, Entwicklungsfinanzierung
Das neu zusammengesetzte Parlament will die Entwicklungszusammenarbeit vermehrt mit Schweizer Eigeninteressen verknüpfen.

© Daniel Rihs/Alliance Sud
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Die Finanzkommission des Nationalrates hat vor wenigen Wochen bei der Behandlung der neuen Legislaturziele beantragt, die öffentliche Entwicklungshilfe über die nächsten Jahre auf 0.3% des Nationaleinkommens zu kürzen. Das würde eine Halbierung der Ausgaben für die eigentliche Entwicklungszusammenarbeit im Ausland bedeuten. Die Hilfe an Asylsuchende im Inland, die von der Schweiz unsinnigerweise auch zu den Entwicklungsausgaben gezählt wird, würde dann fast ein Drittel dieser Ausgaben ausmachen.
Im Nationalrat selbst wird der radikale Kürzungsvorschlag der Finanzkommision kaum eine Mehrheit finden. Aus bürgerlichen Kreisen ist jedoch zu vernehmen, man werde bei den langfristigen Entwicklungsprogrammen durchaus Einsparungen fordern, um mehr Geld in die kurzfristige humanitären Krisenhilfe fliessen zu lassen. Ausserdem sei die Entwicklungszusammenarbeit vermehrt mit Schweizer Eigeninteressen zu verknüpfen, namentlich mit Migrationspartnerschaften und Rückführungsabkommen für Asylsuchende.
Erklärter Zweck dieser Forderungen ist die «Hilfe vor Ort». Gemeint ist jedoch Hilfe für eine Schweiz, die Menschen in Not von der Migration abhalten oder sie rasch wieder ins Heimatland verfrachten will. Das widerspricht klar dem gesetzlich verankerten Zweck der Entwicklungszusammenarbeit, Menschen in benachteiligten Länder aus Solidarität zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen. Gleichzeitig verfehlen die verlangten Massnahmen aber auch die Absicht, den Migrationsdruck zu lindern.
Die Forderung, Mittel aus langfristigen Entwicklungsprogrammen in die humanitäre Krisenhilfe zu verlagern, rennt offene Türen ein. Der Bundesrat beantragt mit der Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2017-20 nämlich bereits eine Aufstockung der humanitären Hilfe. Gleichzeitig behält er sich die Möglichkeit vor, bei Bedarf weitere 120 Millionen Franken für kurzfristige Nothilfeeinsätze zu verwenden. Die Mittel dafür sollen aus dem bereits massiv gekürzten Budget für langfristige bilaterale Entwicklungsprogramme stammen.
Die geplante Verlagerung von Mitteln wäre allerdings ausgesprochen kurzsichtig. Der Schweiz fehlte dann Geld für Wiederaufbauarbeit nach dem Kriseneinsatz und sie wäre weniger denn je in der Lage, präventiv in die Verhinderung neuer Krisen zu investieren. Sie müsste tatenlos zusehen, wie sich ausserhalb aktueller Krisengebiete neue Konflikte anbahnen.
Ebenso kurzsichtig wäre es, die Entwicklungszusammenarbeit an migrationspolitische Anliegen zu binden. Politisch motivierte Unterstützung, also der Tausch «Entwicklungshilfe gegen Migrationsabkommen», droht genau das Gegenteil des Gewünschten zu bewirken. Regime wie jenes in Eritrea würden sich eigene Entwicklungskosten sparen und die frei werdenden Mittel wohl für den eigenen Machterhalt einsetzen. Damit würden die aktuellen Fluchtursachen nicht bekämpft, sondern verschärft.
Gute Entwicklungszusammenarbeit funktioniert anders: Sie verbessert die Lebensbedingungen im Partnerland, indem sie dort die Zivilgesellschaft stärkt und sie in die Lage versetzt, den Staat auf eine sinnvolle Politik zu verpflichten. Das schliesst einen politischen Deal zwischen dem Geberland und der Regierung des Empfängerlandes in der Regel aus.
Dieser Text wurde als Editorial in GLOBAL+ (Frühling 2016) publiziert.
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«Hilfe vor Ort» beginnt in Bern
27.06.2016, Internationale Zusammenarbeit
«Um mehr Entwicklungserfolge zu erzielen, braucht es eine Schweizer Politik, die den Entwicklungsländern keine Steine in den Weg legt», sagt Alliance-Sud-Geschäftsleiter Mark Herkenrath.

© Daniel Rihs / Alliance Sud
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Anfang Juni ist der Nationalrat dem Vorschlag des Bundesrates gefolgt, die Entwicklungsausgaben für 2017-2020 von aktuell 0.52% des Nationaleinkommens auf 0.48% zu senken. Nun geht das Geschäft an den Ständerat. Auch dort wird es intensive Diskussionen über den Sinn und Zweck der Entwicklungszusammenarbeit geben.
In der Grossen Kammer sorgte Weltwoche-Chefredaktor Köppel für populistische Stimmungsmache. Er meinte behaupten zu müssen, Afrika habe sich in den letzten Jahrzehnten trotz milliardenschwerer Hilfe nicht vom Fleck bewegt. Bundesrat Burkhalter korrigierte: Afrika sei vielfältig, und in vielen Ländern habe es enorme Fortschritte gegeben. Trotzdem ist die Frage berechtigt: Warum herrschen in vielen Entwicklungsländern Afrikas und anderer Kontinente weiterhin so viel Armut und Not?
Die Entwicklungszusammenarbeit ist nicht Teil des Problems, sondern der Lösung. Sie hat massgeblich zu Fortschritten in der Gesundheitsversorgung und der Bildung, vor allem auch der Bildung von Mädchen und Frauen beigetragen. Und sie hat dazu beigetragen, die lokalen Zivilgesellschaften zu stärken, die mehr denn je ihre Regierungen in die politische Verantwortung nehmen. Man möchte sich nicht vorstellen müssen, wo die Entwicklungsländer ohne ausländische Unterstützung stehen würden.
Aber: Gegen das enorme Machtgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, ungleiche Handelsbeziehungen, Menschenrechtsverletzungen und Gewinnverschiebungen durch transnationale Grosskonzerne oder die Folgen des Klimawandels kommt auch die beste Entwicklungszusammenarbeit nicht an. Auch nicht gegen die willkürlichen Grenzziehungen, die seit dem Ende der Kolonialzeit in vielen Entwicklungsländern für ethnische Konflikte und Machtkämpfe sorgen. Das sind die Gründe der anhaltenden Probleme.
Waffenexporte der Industrieländer versorgen diese Konflikte mit Munition. Steueroasen und intransparente Handelsplätze ermöglichen es den Kriegsherren, ihre Geschäfte zu finanzieren. Gleichzeitig helfen sie Steuerhinterziehern, gut funktionierenden Staaten die dringend nötigen öffentlichen Einnahmen vorzuenthalten. Unlautere Finanzflüsse sorgen dafür, dass jedes Jahr Milliardenbeträge spurlos aus den Entwicklungsländern verschwinden. Sie übersteigen die internationalen Entwicklungsgelder um mehr als das Zehnfache. Der fortschreitende Klimawandel verschärft darüber hinaus die Verteilungskämpfe und erhöht den Migrationsdruck.
Auch die Schweiz steht hier in der Verantwortung. Die Ratsrechte fordert immer wieder «Hilfe vor Ort». Einverstanden, aber nur wenn dieser Ort primär Bundesbern ist. Denn um mehr Entwicklungserfolge zu erzielen, braucht es eine Schweizer Politik, die den Entwicklungsländern keine Steine in den Weg legt. Dazu gehören Transparenzregeln für den Finanzplatz Schweiz und den Rohstoffhandel, aber auch ein konsequentes Vorgehen gegen die drohende globale Klimakatastrophe. Gefordert sind auch verbindliche Regeln für Konzerne mit Sitz in der Schweiz, die weltweit die Menschenrechte und international anerkannte Umweltstandards einhalten sollen.
Editorial aus GLOBAL+, Ausgabe Sommer 2016
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Entwicklungshilfe ist nicht Migrationsverhinderung
02.07.2016, Internationale Zusammenarbeit
Die Forderung, die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit als «Migrationsverhinderung» zu konzipieren, zielt an der Realität vorbei, schreibt Peter Niggli als Replik auf Rudolf Strahm. Dieser möchte mehr in die Berufsbildung im Süden investieren.

© Daniel Rihs/Alliance Sud
von Peter Niggli, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
Wenn die Konflikte fremder Kontinente in die geschützte Zone reicher Länder überschwappen, erinnert sich westliche Politik gerne der Entwicklungshilfe. Sie soll lösen, was die Aussenpolitik vorher angerichtet hat – durch militärische Intervention, das Bündnis mit Diktatoren oder die Zerrüttung kleinbäuerlicher Landwirtschaft mit verbilligten Agrarprodukten aus Europa. So war es nach 9/11. Und so ist es heute wieder, wo sich Europa in der «Migrationskrise» wähnt. Nun soll Entwicklungshilfe unerwünschte Flüchtlinge abwehren helfen. Dafür plädiert Rudolf Strahm in seiner TA-Kolumne vom 21. Juni. Er möchte die schweizerische Hilfe neu auf «Migrationsverhinderung» und «Asylrückschaffung» konzentrieren und sieht in der Förderung der Berufsbildung den Hebel dazu. Seine Forderung stützt sich auf eine verzerrte Analyse, missachtet die Leistungen der Schweizer Entwicklungshilfe und blendet aus, woran Rückübernahmeabkommen kranken.
Strahm behandelt nur Flüchtlinge aus Afrika. Sie machten 2015 40 Prozent der Asylgesuche aus und seien meistens «Armutsflüchtlinge». Allerdings kamen drei Viertel aus Eritrea und Somalia, wo die Regierung bzw. der Bürgerkrieg und nicht die Armut das Hauptproblem sind.
Die Ursache der Armut Afrikas sieht Strahm darin, dass Millionen junger Menschen keine Beschäftigung fänden. Afrikas Eliten würden das Handwerk stigmatisieren und die akademische Bildung privilegieren. Arbeitsmarktfähig in Afrika sei aber nur, wer einen praktischen Beruf habe. Tatsächlich hat Afrika gravierende Lücken im Berufsbildungs- und Bildungswesen, aber auch fast keine Industrie, die Arbeitsplätze schafft. Erfolgreiche Entwicklungsländer wie Korea, China oder Südostasien haben ihren wirtschaftlichen Erfolg nicht einem Berufsbildungssystem zu verdanken. Ihre Regierungen betrieben jedoch eine aktive Industrialisierungspolitik. Kurz: Fehlende Berufsbildung ist nicht das entscheidende Entwicklungshindernis Afrikas.
Die Schweizer Entwicklungshilfe konzentriert sich zu Recht nicht auf diesen «Wunderfaktor». Trotzdem enthalten alle Programme – von der ländlichen Entwicklung bis zur Stärkung der Institutionen – Bildungskomponenten und vermitteln praktische Berufsfähigkeiten. Hinzu kommen eigentliche Berufsbildungsprogramme in Zusammenarbeit mit lokalen Branchenverbänden und Behörden. Die privaten Entwicklungsorganisationen vernachlässigen den Bereich auch nicht, wie Strahm meint. So führt etwa Helvetas Berufsbildungsprogramme in fünf Ländern Afrikas durch. Dasselbe tut auch Solidar Suisse, das ehemalige Arbeiterhilfswerk. Strahm lobt aber nur die «wirtschaftsnahe Swisscontact», die übrigens sehr wenig Spenden aus der Wirtschaft erhält und vor allem mit öffentlichen Mitteln arbeitet.
Um die «Armutsflüchtlinge» Afrikas abzuwehren, setzt Strahm auf Rückführungsabkommen und Migrationspartnerschaften. Die Rückschaffung soll dadurch schmackhaft gemacht werden, dass eine Berufsbildung in den Herkunftsländern, im «permanenten Flüchtlingslager» (wo?) oder in der Schweiz versprochen wird. Dafür will er die Hälfte des Entwicklungsbudgets einsetzen. Der Stolperstein: Afrikanische Regierungen zeigen gar kein oder nur lauwarmes Interesse für solche Abkommen. Die Schweiz kann sie ihnen auf alle Fälle nicht aufzwingen, auch nicht Eritrea, das sich westlicher Entwicklungshilfe verweigert. Falls die Regierungen Entgegenkommen zeigen, verlangen sie dafür finanzielle Vorteile sowie legale Einwanderungsmöglichkeiten in die Schweiz. Letzteres schliesst jedoch das Ausländergesetz aus. Die Schweiz konnte den beiden einzigen afrikanischen Ländern mit Migrationspartnerschaft, Nigeria und Tunesien, bislang nur eine Handvoll «Stages» anbieten. Wenn sie mehr legale Einwanderung (auch für Berufsbildung) anböte, könnte sie mehr Länder für solche Partnerschaften gewinnen.
Dieser Artikel wurde am 2. Juli 2016 als Gastbeitrag im Tages-Anzeiger (Print) publiziert.
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Verfehlte Politik des Wegschauens
03.10.2016, Internationale Zusammenarbeit
Der Anteil Asylsuchender an der Wohnbevölkerung der Schweiz beträgt aktuell gerade einmal 0,9 Prozent. Trotzdem sorgt die «Flüchtlingskrise» in der Schweiz für heisse Köpfe. Ein paar Fakten würden dieser Diskussion gut tun.

© Daniel Rihs/Alliance Sud
von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud
«Niemand verlässt Heimat und Familie einfach so. Du musst so verzweifelt sein, dass es dir sogar egal wäre, im Mittelmeer zu ertrinken. Hauptsache, du hast es versucht, anderswo eine lebenswerte Existenz zu finden und trotz der Not nicht kriminell zu werden.»
So erklärte mir vor einem Jahr ein Bekannter, weshalb er aus seiner nordafrikanischen Heimat in die Schweiz geflohen war. Vor ein paar Monaten ist er wieder dorthin ausgeschafft worden.
Inzwischen halten sich mehrere Hundert Flüchtlinge in Como auf, darunter auch zahlreiche unbegleitete Minderjährige. Sie versuchen fast täglich, die Schweizer Grenze zu passieren, um in der Schweiz Zuflucht zu finden oder nach Deutschland oder Skandinavien weiterzureisen. Wie wir wissen, schaffen nur wenige von ihnen den Grenzübertritt.
Mitte 2016 hielten sich in der Schweiz rund 33‘000 Asylsuchende auf. Hinzu kamen etwas mehr als 73‘000 anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen. Deren Anteil an der Wohnbevölkerung der Schweiz beträgt aktuell gerade einmal 0,9 Prozent. Trotzdem sorgt die «Flüchtlingskrise» in der Schweiz für heisse Köpfe. Ein paar Fakten würden dieser Diskussion gut tun.
Erstens: Heute sind nach Angaben der Uno weltweit mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. 40 Millionen davon halten sich als «intern Vertriebene» weiterhin im eigenen Land auf. Für die bisher konfliktfreien Landesteile, in denen sie Zuflucht suchen, bedeutet dies eine enorme Herausforderung. Ohne ausländische Unterstützung drohen auch dort Instabilität und Armut.
Zweitens: Von den über 20 Millionen Flüchtlingen, die ihr eigenes Land verliessen, ist weniger als ein Fünftel in reiche Industrieländer geflohen. Über 80 Prozent haben Zuflucht in anderen Entwicklungsländern gefunden, ein Viertel sogar in Staaten, die zu den ärmsten der Welt gehören. Im Tschad zum Beispiel leben zurzeit mehr als 350‘000 Flüchtlinge. Das sind rund 2,6% der dortigen Bevölkerung. Im Libanon machen die rund 1.2 Millionen Flüchtlinge sogar 18,3% der Wohnbevölkerung aus, also 18 Mal mehr als in der Schweiz.
Drittens: Einzelne Entwicklungsländer tun sich mit der Integration ausländischer Flüchtlinge weniger schwer als wir. Uganda zum Beispiel beherbergt aktuell rund eine halbe Million geflohene Personen. Damit ist es nach Äthiopien und Kenia das wichtigste Zufluchtsland in Afrika. Anerkannte Flüchtlinge erhalten dort ein Stück Agrarland in lokalen Gemeinschaften, gleichen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Einheimische, eine Arbeitsbewilligung und das Recht, ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Das Land ist dabei auf internationale Unterstützung angewiesen, denn auch hier stellt die Zuwanderung die staatliche Infrastruktur vor beträchtliche Herausforderungen.
Es ist schwer nachzuvollziehen, dass ein grosser Teil des Schweizer Parlaments die steigenden Ausgaben für Asylsuchende hierzulande ausgerechnet über Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit finanzieren will. Eigentlich müsste doch klar sein, dass ärmere Länder, die deutlich mehr Flüchtlinge bei sich aufnehmen als wir, mehr denn je unsere Hilfe brauchen.
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