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«Es braucht von allen Seiten mehr Transparenz»

10.12.2018, Internationale Zusammenarbeit

Interview mit Napina Odette Toe, Projektverantwortliche bei ORCADE (Organisation pour le renforcement des capacités de développement), Nichtregierungsorganisation aus Ouagadougou, Burkina Faso.

«Es braucht von allen Seiten mehr Transparenz»
Napina Odette Toe, Projektverantwortliche bei ORCADE (Organisation pour le renforcement des capacités de développement), Ouagadougou, Burkina Faso
© Eva Schmassmann

Interview von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Im Jahr 2015 verabschiedete das Parlament von Burkina Faso ein neues Bergbaugesetz, das den Goldabbau im Land regelt. Welche Bedeutung hat dieses neue Gesetz?

Das neue Bergbaugesetz ist ein grosser Fortschritt in unserem Kampf zum Wohle der lokalen Gemeinschaften. Das Gesetz soll das Engagement der industriellen Minenbetreiber in den Bereichen Ausbildung und Anstellung der lokalen Bevölkerung verstärken. Auch sollen die Bergwerke mehr auf lokal produzierte Konsumgüter zurückgreifen. Und es sieht Massnahmen vor, wie Gemeinschaften entschädigt werden, die direkt von Bergbauaktivitäten betroffen sind. Aber unser grösster Kampf betraf die Finanzierung des Minenfonds für lokale Entwicklung (fonds minier de développement local). Nach dem Gesetz  muss heute jedes Bergbauunternehmen mit 1% seines Umsatzes zur Entwicklung der lokalen Bevölkerung beitragen. Dieses Geld soll zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten nach lokalen Entwicklungsplänen verwendet werden, die in einem partizipativen Prozess von Behörden und Zivilgesellschaft erstellt werden. Dieser Bergbaufonds kann damit direkt zum Wohle der lokalen Gemeinschaften und ihrer Entwicklung beitragen.

Wo steht die Umsetzung drei Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes?

Wir sind sehr enttäuscht, denn der Staat setzt das Gesetz zu wenig konsequent um. Nur sieben Verordnungen und zwei Ausführungserlasse wurden seither verabschiedet. Es gibt keinen Plan zur Weiterbildung burkinischer Führungskräfte, um die schrittweise Ablösung der ausländischen Arbeitskräfte zu fördern. Die Frage der Entschädigung ist nach wie vor ungeklärt. Und wir müssen weiter dafür kämpfen, dass die Minenunternehmen tatsächlich 1% ihres Umsatzes in den Minenfonds einzahlen.
Für die Minen - und auch für die lokalen Gemeinschaften! - ist das ein erheblicher Geldbetrag. Auch nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes versuchen die Bergbauunternehmen, die entsprechenden Bestimmungen neu zu verhandeln. Zuerst boten sie 0,5% des Umsatzes an, dann wollten sie ihre Corporate Social Responsibility (CSR)-Aktivitäten anrechnen lassen. Die Zivilgesellschaft muss daher weiterhin für die Umsetzung des Kodex kämpfen. Für uns ist die Finanzierung des Entwicklungsfonds eine Priorität: Denn bei der Verwaltung des Fonds sitzt die Zivilgesellschaft mit am Tisch; die aus dem Fonds finanzierten Projekte werden auf lokaler Ebene definiert und priorisiert. Für die Umsetzung von CSR-Aktivitäten dagegen sind wir auf den Goodwill der Minengesellschaften angewiesen.
All dies hat zu einer grossen Enttäuschung bei den betroffenen Menschen geführt. Zu viele Versprechungen wurden nicht eingehalten. Die öffentliche Meinung in diesen Dörfern ist sich am Verändern: Man bedauert die Anwesenheit der Goldminen, der Glanz ist erloschen.

Wie sieht ORCADE diese Entwicklung?

Für ORCADE ist der Goldabbau in Burkina Faso eine Tatsache. Wir können nicht dagegen ankämpfen. Aber zumindest können wir dafür kämpfen, dass die Gewinnung unter Bedingungen erfolgt, die der lokalen Bevölkerung zugutekommen und dass die Menschenrechte eingehalten und der Schutz der Umwelt ernst genommen wird.
Bergbauunternehmen neigen dazu, vertriebene lokale Bevölkerungsgruppen finanziell entschädigen zu wollen. Aber jede Entschädigung in Cash ist eines Tages aufgebraucht. Der eigentliche Kampf besteht daher darin, die Lebensgrundlagen zu erhalten, also den vertriebenen Männern und Frauen andere Felder zu geben, damit sie auch auf lange Sicht die Grundlagen für ein autonomes Leben behalten. Wenn schon Geld gegeben wird, dann brauchte es zumindest auch eine Schulung darin, wie das Geld eingesetzt und verwaltet werden soll. Aber das ist eine schwierige Aufgabe.
Im Rückblick stellen wir fest, dass Burkina Faso nicht auf den Goldabbau vorbereitet war. Jeder betrachtete ihn als Chance und verschloss die Augen vor den negativen Folgen. Die zuständigen Behörden haben Verträge ohne eine angemessene Risikoanalyse unterzeichnet. Heute erkennen sie, dass es schwierig ist, sie zu ändern. Die Minengesellschaften haben die Arbeit aus ihrer Sicht dagegen gut gemacht, die Verträge haben oft eine Laufzeit von zehn fünfzehn Jahren. Es ist unmöglich, einige Passagen vor Ablauf dieser Frist zu überarbeiten.

Was ist mit den Kleinschürfern? Bietet das neue Bergbaugesetz eine Lösung für Probleme in diesem Bereich?

Der Kleinbergbau ist ebenfalls Gegenstand des neuen Gesetzes. Aber auch hier fehlt der politische Wille, es umzusetzen. So wurde beispielsweise eine Nationale Agentur für die Verwaltung des Kleinbergbaus und des teilmechanisierten Bergbaus geschaffen. Die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel reichen jedoch bei Weitem nicht. Die Goldgräber selbst werden nicht in die Arbeit der Agentur einbezogen, ebenso wenig wie die Zivilgesellschaft. Aber die Zivilgesellschaft wird sich auf jeden Fall aufdrängen und Teil dieser Prozesse werden.

Wo liegen die grössten Hindernisse, damit das neue Bergbaugesetz sein Potential entfalten kann?

Der Hauptzweck eines Bergbauunternehmens ist es, Gewinne zu erzielen. Ohne ausreichende staatliche Kontrolle hat es weitgehend freie Hand zu tun, wie es ihm beliebt. Daher ist es unerlässlich, die staatliche Kontrolle über den Bergbau in Burkina Faso zu stärken. Um dies voranzutreiben, muss sich die Zivilgesellschaft vernetzen. Zusammen mit der internationalen NGO «Publish what you pay» haben wir bereits für mehr Transparenz im Bergbausektor sorgen können, das ist die Voraussetzung dafür, dass Unternehmen und Staat ihre Verantwortung wahrnehmen.


ORCADE ist ein 2001 gegründeter Verein nach burkinischem Recht. Im Jahr 2006 erhielt er offiziell den NGO-Status. Ziel von ORCADE ist es, die organisatorischen und technischen Kapazitäten von lokalen Gemeinschaften zu stärken, damit diese ihre Interessen selber besser vertreten können. Arme und Benachteiligte sollen Instrumente und Techniken kennenlernen, um die staatliche Entwicklungspolitik so zu beeinflussen, damit sich ihre Lebensbedingungen verbessern und sie von deren wirtschaftlichen Auswirkungen effektiv profitieren. ORCADE ist der strategische Partner von Fastenopfer in Burkina Faso, um Bergbauunternehmen und die Regierung in Sachen Menschenrechte zu beeinflussen. www.orcade.org

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Der Kater nach dem Goldrausch

10.12.2018, Internationale Zusammenarbeit

Burkina Faso gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Zwar gibt es eine engagierte Zivilgesellschaft, doch das Land ist auch ein exemplarisches Beispiel für hartnäckige Entwicklungsprobleme.

Der Kater nach dem Goldrausch
In der Goldmine Balong-tanga beim Dorf Tikaré gräbt sich ein Kleinschürfer in die Tiefe.
© Meinrad Schade

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Zwischen 2003 und 2012 brach im westafrikanischen Sahelstaat Burkina Faso ein wahrer Goldrausch aus. Der Preis des Edelmetalls auf dem internationalen Markt verfünffachte sich zeitweise, der Traum vom raschen Reichtum trieb unzählige Glückssucher auf die Goldfelder. Die Regierung passte das nationale Minengesetz an, um ausländische Investitionen anzuziehen. Zahlreiche Firmen, die aufgrund der unsicheren politischen Situation oder hoher Investitionskosten von einem industriellen Goldabbau in Burkina Faso abgesehen hatten, folgten dem Lockruf; heute sind in Burkina Faso zwölf industriell betriebene Goldminen lizenziert. Der Anteil des Goldes an den Exporten beträgt 55%, eine gefährlich einseitige Abhängigkeit von einem Exportgut.

Für die Bevölkerung ist der Glanz des Goldes innerhalb kurzer Zeit verblasst. Um den industriellen Goldminen Platz zu machen, wurden ganze Dörfer umgesiedelt. Mütter verloren ihre Söhne an einen gefährlichen Traum: Unter miserablen Bedingungen suchen sie in tiefen Schächten nach der Goldader, die ihr Leben verändern könnte. Die Realität sieht anders aus: Ausbeutung, Kinderarbeit, Prostitution und Drogenkonsum gehören für Goldschürfer in Burkina Faso zum Alltag, der Einsatz von Quecksilber oder Zyanid bei der Goldgewinnung gefährdet die Gesundheit der Menschen und die Umwelt. Ende Oktober konnte sich die Autorin im Rahmen einer von Fastenopfer organisierten Reise ein Bild der Situation vor Ort machen.

Mit dem Beginn des Goldrauschs wurde die Rohstoffproblematik zunehmend Teil der Projektarbeit von Fastenopfer, denn lokale Partnerorganisationen, Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ländlichen Gebieten oder Frauen-Solidaritätsgruppen, sie alle sind unmittelbar betroffen von den Auswirkungen des Goldabbaus: Durch Goldfunde auf ihrem Land verschwindet die Grundlage bäuerlichen Einkommens, durch den Wegzug der Jungen fehlen die Arbeitskräfte. Neue strategische Partnerschaften mussten aufgebaut werden, etwa um auf nationaler Ebene bei der Revision der Bergbauordnung die Rahmenbedingungen für den Goldabbau zu beeinflussen. Das Ziel: Die lokale Bevölkerung soll nicht nur negative Auswirkungen tragen müssen, sondern auch von den Gewinnen der Goldindustrie profitieren (siehe auch Interview mit Napina Odette Toe).

Goldschürfer in der Provinz Bam

Kongoussi ist der Hauptort der Provinz Bam und liegt rund 100 Kilometer nördlich von Ouagadougou. Die Fahrt über die nach der Regenzeit stark beschädigte Strasse zieht sich über zwei Stunden hin, wir besuchen zwei der zahlreichen artisanalen Goldgräberfelder in der Provinz sowie ein Dorf, das wegen einer industriellen Mine umgesiedelt wurde. Auch wer bereits verschiedene Studien über die Arbeitsbedingungen von Kleinschürfern gelesen, Bilder und Filme darüber gesehen hat, den trifft der eigene Besuch fast wie unvorbereitet. Die staubige Luft, der Dreck, die stechende Sonne. Als weisse BesucherInnen sind wir eine Attraktion, Dutzenden Jungs und Männer folgen unserer Delegation. Ein Goldschürfer montiert die Stirnlampe und steigt zu Demonstrationszwecken in seinen Schacht hinab. Bis zu 100 Meter tief graben sie diese Schächte, die unter Tag mit horizontalen Verzweigungen untereinander verbunden sind. Ein Loch neben dem andern tut sich auf. Es wird in Teams gearbeitet, in Schichten rund um die Uhr. Der Besitzer eines solchen Schachtsystems, der über die Lizenz zum Graben verfügt, stellt die Kleinschürfer an. Er stellt die notwendigen Investitionen wie Kurbel, Seil, Ventilation. Schutzkleidung hingegen muss von den Schürfern selber finanziert werden. Angesichts des mickrigen Lohns überrascht es nicht, dass wir davon nichts sehen, selbst Helme gibt es kaum. Solange die Einkommen so gering sind, ändert auch die Sensibilisierung über Gesundheitsrisiken durch lokale NGOs wenig daran. Mit Brecht liesse sich sagen: Zuerst kommt das Fressen, dann die Gesundheit.

Die Kleinschürfer führen alle Arbeitsschritte bis zum Auswaschen des goldhaltigen Sandes selber aus. Für die eigentliche Goldgewinnung ist jedoch ein weiterer Schritt nötig: Hier wird – wie oft im Kleinbergbau – auf die Besonderheit von Quecksilber gesetzt, das eine Amalgamation oder Legierung mit Gold eingehen kann. So werden selbst kleinste Goldpartikel im goldhaltigen Schlamm durch Zugabe von Quecksilber gebunden. Durch Erhitzen des Amalgams kann das Gold wieder gelöst werden. Diesen Arbeitsschritt besorgt noch vor Ort direkt der erste Abnehmer des Goldes. Die Abhängigkeit der Schürfer von diesen Einkäufern ist dabei fast grenzenlos: Aufgrund ihrer prekären Situation ist ihre Verhandlungsposition extrem schwach. Sie können nicht warten, bis der Goldpreis steigt oder selber alternative Verkaufskanäle suchen und müssen nehmen, was ihnen geboten wird. Lokale Partnerorganisationen von Fastenopfer setzen sich in diesem Umfeld unter anderem dafür ein, dass sich die Kleinschürfer gewerkschaftlich organisieren und dadurch kollektiv ihre Position stärken können.

Die Goldmine Bissa

Auf dem Weg zurück nach Ouagadougou machen wir Halt in Bissa, wo das gleichnamige Dorf 2013 der industriell betriebenen Goldmine Bissa weichen musste. Die Enttäuschung und der Ärger der umgesiedelten Dorfbewohnerinnen und -bewohner sind hier fast mit Händen greifbar. Von den vielen von den Minenbetreibern gemachten Versprechen wurden nur einige wenige gehalten. Nach der Umsiedlung zeigte sich, dass das Grundwasser am neuen Wohnort mit Arsen versetzt war und ungeniessbar ist. So müssen die Mädchen und Frauen Trinkwasser mehrere Kilometer weit weg beschaffen. Tests im Vorfeld hätten hier zumindest einen anderen Siedlungsort mit Zugang zu qualitativ gutem Wasser garantieren können. Die zur Verfügung gestellten Häuser entsprechen nicht der traditionellen Wohnform und führten zur Zerstörung der bis anhin intakten sozialen Dorfstruktur. Entschädigungen wurden nur für die zum Zeitpunkt der Umsiedlung bewirtschafteten Felder bezahlt. Von den rund 1500 DorfbewohnerInnen fanden lediglich 75 einen Job in der Mine, erhofft hatten sie sich wesentlich mehr. Ohne Investitionen in die Ausbildung der ländlichen Bevölkerung – die Analphabetenrate ist hier extrem hoch – bleiben Anstellungen im Minenumfeld schwierig.

Während die Webseite der Goldmine stolz darauf hinweist, dass die Mine innerhalb von nur 21 Monaten die Investitionen amortisieren konnte, hat sich das Leben der DorfbewohnerInnen nicht wie erhofft verbessert. Ausserdem droht durch die geplante Erweiterung der Mine die erneute Umsiedlung. Kein Wunder wächst mit diesen Enttäuschungen auch der Widerstand gegen den industriellen Goldabbau.

Die Verantwortung der Schweiz

Als weltweit grösste Drehscheibe und wichtigster Player in der Verarbeitung von Rohgold zu hochkarätigen Goldbarren trägt die Schweiz in diesem Geschäft eine spezielle Verantwortung. In den letzten Jahren wurden jeweils gut 90% allen in Burkina Faso abgebauten Goldes in die Schweiz exportiert und von den Goldraffinerien hierzulande verarbeitet.

Der Einsatz von Alliance Sud und über 100 weiteren Organisationen für die Konzernverantwortungsinitiative ist auch eine Unterstützung der burkinischen Zivilgesellschaft. Denn die Initiative fordert von Unternehmen mit Sitz in der Schweiz eine Sorgfaltsprüfung und damit den Respekt von Menschenrechten und Umweltstandards von Firmen im Ausland, die stark von ihnen abhängen oder faktisch kontrolliert werden.
Am 14. November hat der Bundesrat seinen mehrfach verzögerten Goldbericht veröffentlicht. Er räumt darin ein, dass menschenrechtswidrig produziertes Gold in die Schweiz gelangen kann. Die Massnahmen, wie das verhindert werden soll, werden von mehreren Schweizer NGOs in einer gemeinsamen Stellungnahme als ungenügend und untauglich bezeichnet.

 
Burkina Faso in Stichworten und Zahlen

Auf dem Index menschlicher Entwicklung der UNO liegt Burkina Faso auf dem 183. Platz von 189 bewerteten Staaten. Nur ein gutes Drittel der Bevölkerung kann lesen und schreiben, über 40% leben von weniger als 1.90 US-Dollar pro Tag und damit unter der Schwelle extremer Armut. Das Bruttoinlandprodukt beträgt knapp 12 Milliarden US-Dollar. Bei einer Bevölkerung von rund 20 Millionen bleiben pro Kopf 646 US-Dollar. Die Bevölkerung wächst jährlich um 3%, das Bevölkerungswachstum ist eines der höchsten weltweit. Bis 2050 wird mit einer Verdoppelung der Bevölkerung gerechnet.

Alliance Sud-Träger und -Partner in Burkina Faso

Fastenopfer legt den Fokus auf das Recht auf Nahrung, nchhaltige Landwirtschaft, den Zugang zu Land und Ressourcen, nachhaltigere Goldförderung sowie autonome und solidarische Spargruppen. Helvetas unterstützt die ländliche Bevölkerung in den Bereichen Raumerschliessung, setzt auf Berufsbildung und -eingliederung von Jugendlichen sowie Wasserversorgung und Hygiene. Solidar Suisse engagiert sich für faire Arbeit zugunsten der besonders benachteiligten Bevölkerung im ländlichen Raum und fördert die BürgerInnenbeteiligung im Demokratisierungs- und Entwicklungsprozess. Terre des Hommes Schweiz baut auf drei Pfeiler: Ausbildung und Berufsbildung junger Frauen, der Kampf gegen Kinderarbeit unter den Goldschürfern sowie die Stärkung der Ernährungssicherheit.

Die Zivilgesellschaft in der jungen Demokratie Burkina Fasos ist fragil, auch wenn sich die Möglichkeiten der Partizipation nach der Vertreibung des Langzeitmachthabers Blaise Campaoré 2014 stark verbessert haben.

Meinung

Entwicklungshilfe: Ein grosses Missverständnis

10.12.2018, Internationale Zusammenarbeit

Gastautor Elísio Macamo kritisiert, wie Entwicklung in Europa heute gedacht wird. Starke Institutionen seien nicht die Ursache, sondern die Folge von Entwicklung, historische Prozesse müssten als offen begriffen werden.

Entwicklungshilfe: Ein grosses Missverständnis
Elísio Macamo
© zVg

Es gibt etwas an der Entwicklungshilfe, das mich glauben lässt, dass sie ein Missverständnis sein könnte. Es ist die Idee, wonach es bei der Entwicklungshilfe tatsächlich um die Entwicklung von Afrika geht. Ich glaube es nicht, egal was Entwicklungsexperten und Praktiker sagen.

Im historischen Kontext, in dem die Entwicklungshilfe entstand, investierten alle Beteiligten viel in die Idee, dass bestimmte Länder aufholen müssten. Einige nannten es Modernisierung, andere Industrialisierung. Bis heute vermittelt die Vorstellung von nachholender Entwicklung die Idee, dass Länder mit Entwicklungsrückstand mit der entwickelten Welt gleichziehen können.

Wenn in Afrika ein Bürgerkrieg ausbricht, sich ein Flüchtlingsdrama anbahnt, dann schlägt die Stunde der so genannten Experten, welche die Mängel der Entwicklungshilfe beklagen. Sie stellen lauthals Fragen darüber, ob Entwicklungshilfe überhaupt sinnvoll sei, sie suchen und finden die Täter in den Entwicklungsinstitutionen oder machen die Afrikaner für das Elend verantwortlich, am liebsten beide. Am schlimmsten ist, dass sie damit bloss den Boden bereiten für die nächste grossartige Idee, mit der Afrika von seinen Problemen befreit werden soll: einst war es die direkte Budgethilfe, dann die Millenniums-, schliesslich die Ziele für nachhaltige Entwicklung und jetzt zur Abwechslung – aus der Mottenkiste der Vergangenheit – wieder einmal die Familienplanung. Der Einfallsreichtum der institutionalisierten Besserwisserei, um es mit Philipp Lepenies, dem Berliner Politikwissenschaftler zu sagen, wird Afrika zum Verhängnis.

Das Problem mit dem herrschenden Entwicklungsdenken ist vielfältig und keineswegs neu. Erstens wurden unangemessene Erwartungen geweckt. Diese beruhen auf der äusserst problematischen Vorstellung, dass man für die gewünschten Ergebnisse bloss das Richtige zu tun braucht. Leider funktioniert die Welt nicht so. Die Welt ist nicht gerecht. Sie belohnt nicht unbedingt gutes Verhalten. Es gibt vielleicht nicht viele Beispiele für Länder, die das Richtige getan haben und gescheitert sind, aber es ist ebenso wahr, dass es nicht ausreicht, das Richtige zu tun, um erfolgreich zu sein. Tatsächlich sind die meisten Erfolgsgeschichten in Afrika, Fälle wie Botswana, Mauritius und Kap Verde und in jüngster Zeit Ruanda und Äthiopien, erst im Nachhinein Erfolgsgeschichten. Weil sie – vorerst – erfolgreich sind, wird davon ausgegangen, dass sie das Richtige getan haben. Das ist im besten Fall ein lupenreiner Denkfehler.

Zweitens geht das Denken, das der Entwicklungshilfe und -politik zugrunde liegt, von der umstrittenen Annahme aus, zu wissen, wie sich die entwickelten Länder tatsächlich entwickelt haben. Dies führt nicht selten zu einer Reihe von Rezepten, die ernsthaft im Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen stehen. Oft hören wir, wie wichtig starke Institutionen, gute Regierungsführung, erfolgreiche Korruptionsbekämpfung, Engagement für Demokratie und Menschenrechte seien. Dies seien die grundsätzlichen Faktoren, die es brauche, um ein Land zu entwickeln.

Massive Menschenrechtsverletzungen

Nun, historische Fakten erzählen eine andere Geschichte. In Europa zum Beispiel waren starke Institutionen, effektive Anti-Korruptionsstrategien und eine gute Regierungsführung im Allgemeinen das Ergebnis der Entwicklung und nicht ihre Ursache. Auch die Achtung der Menschenrechte und die Einführung der Demokratie könnten nur zum Erfolgsrezept zählen, wenn man die massive Verletzung der Würde der kolonisierten Völker ignorieren würde. Die europäischen Demokratien gediehen unter massiver Verletzung des Rechts der unterworfenen Völker auf politische Vertretung und auf Menschenwürde. Leider kann Afrika von Europa nicht lernen, wie man sich entwickelt. Es kann höchstens lernen, wie man einen Vorsprung verwaltet, wenn man einmal entwickelt ist.

Drittens macht das Entwicklungsdenken hartnäckig den schweren Fehler, die offene Natur historischer Prozesse zu ignorieren. Die Teleologie scheint ein zentraler Wesenszug des europäischen Denkens zu sein. Sie gründet auf der tief verwurzelten Annahme, dass es ein Ende der Geschichte gibt, das mit dem Kommen des Messias, dem Beginn einer neuen Ära oder der Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse auf vielfältige Weise verbunden ist. Diejenigen, die so dachten und die Gelegenheit und die Macht hatten, diesen Glauben umzusetzen, führten die Welt in die Schrecken des Holocaust oder der Gulags. Die Wahrheit ist eher die, dass historisches Handeln offen ist. Jede neue Situation eröffnet wieder neue Handlungsmöglichkeiten. Wir haben den Algorithmus noch nicht entdeckt, der es uns ermöglichen würde, menschliche Kreativität und Energie so zu lenken, dass diese Handlungen mit dem übereinstimmen, was wir für den richtigen Verlauf der Geschichte halten. Das ist von unmittelbarer Relevanz für die Entwicklungspolitik. Denn die meisten Übel, die für afrikanische Defizite verantwortlich gemacht werden, sind in Wirklichkeit afrikanische Antworten auf die Chancen, die sich durch Entwicklungsmassnahmen eröffnen. Es gäbe zum Beispiel keine Korruption, wenn es keine Gelder zu verteilen gäbe. Sowohl der Erfolg als auch das Scheitern von Entwicklungsmassnahmen schaffen neue Situationen und somit neue Möglichkeiten für menschliches Handeln – im Guten wie im Schlechten.

Aufgepasst vor Missverständnissen

Das sind nur drei Probleme mit dem Entwicklungsdenken. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Nichts davon bedeutet, dass die Entwicklungshilfe und -politik völlig versagt hätte. Dies wäre eine viel zu einfache Schlussfolgerung. Tatsächlich war die Entwicklungshilfe meistens ein positiver Faktor in Afrika, der die Hoffnung der Menschen auf ein besseres Leben wachhielt und den Ländern half, sich in einer Welt zurechtzufinden, die nicht für sie gebaut wurde. Die Menschen, die in Entwicklungsinstitutionen arbeiten, sind wirklich engagiert in ihrer Arbeit und geben ihr Bestes, um die Ziele ihrer Institutionen zu erreichen. Das Problem ist die Erwartung, dass ihre Institutionen durch ihre Arbeit Afrika entwickeln werden. Das geschieht vielleicht nicht auf die erwartete Weise, all ihren guten Absichten zum Trotz. Und zwar nicht, weil die Afrikaner sich nicht entwickeln wollten. Sondern eher deswegen, weil wir grundsätzlich hilflos sind vor den Kräften der Geschichte. Anstatt auf einer sinnlosen Erwartung zu bestehen, sollten wir unsere Meinung ändern, was wir mit Entwicklungshilfe tatsächlich erreichen können und sie auf eine andere Weise konzipieren. Es mangelt nicht an Ideen, die unser Denken leiten können.

Eine entscheidende Idee, die in liberalen Grundlagen heutiger Politik angelegt ist, ist die Idee der Chancengleichheit. Wir sollten die Entwicklungspolitik als eine Verpflichtung betrachten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Benachteiligten der Geschichte die Möglichkeit haben, eine Welt zu zähmen, deren Strukturen sich gegen sie richten. Man hört es nicht gern, aber in einer Welt, die zusammengewachsen ist, hat der Reichtum der einen mit der Armut der anderen zu tun. Aber das bedeutet ein langfristiges Engagement, das auf Geduld basiert, eine Tugend, die in Entwicklungskreisen bisher nur unzureichend vorhanden war. Es würde Entwicklungshelfer vom Drang entlasten, afrikanische Länder mit immer neuen Strategien und Ansätzen zu überfordern, jedes Mal, wenn man Angst hat, Geld in ein Fass ohne Boden zu werfen. Es könnte auch Politiker und Journalisten zähmen, die aus Mangel an Verständnis dafür, was Entwicklung ist, das «Versagen» der Entwicklungshilfe nutzen, um Unzufriedenheit gegenüber Entwicklungsinstitutionen und Afrikanern zu stiften.

Elisio Macamo ist seit Oktober 2009 Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Basel. Zuvor lehrte er Entwicklungssoziologie an der Universität Bayreuth. Geboren und aufgewachsen ist er in Moçambique. Er studierte in Maputo (Moçambique), Salford und London (England) und Bayreuth (Deutschland).

Meinung

Keine Entwicklungsgelder für dubiose Konzerne!

25.03.2019, Internationale Zusammenarbeit

Der Bundesrat will Schweizer Konzerne vermehrt in die staatliche Entwicklungszusammenarbeit einbinden. Eine Bedingung dafür müsste sein, dass sich diese vorbehaltlos hinter die Anliegen der Konzernverantwortungsinitiative stellen.

Keine Entwicklungsgelder für dubiose Konzerne!
Mark Herkenrath, Geschäftsleiter Alliance Sud.
© Daniel Rihs/Alliance Sud

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Unternehmen und private Anleger aus den Industrieländern scheuen sich oft davor, in sozial und ökologisch nachhaltige Aktivitäten in ärmeren Entwicklungsländern zu investieren. Sie halten die Verlustrisiken für zu hoch oder die Gewinnmöglichkeiten für zu klein. Im Vergleich zu weniger nachhaltigen Aktivitäten in stabileren und fortgeschrittenen Ländern lohnen sich sinnvolle Investitionen in ärmeren Ländern aus einer ökonomischen Gewinnlogik in der Regel nur sehr bedingt. Sie sind aber unbedingt notwendig, wenn die Weltgemeinschaft fristgerecht die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 erreichen soll.

Der Bundesrat hat darum beschlossen, dass die beiden staatlichen Entwicklungsagenturen Deza und Seco im Rahmen der nächsten Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit noch enger als bisher mit Unternehmen und Anlegern zusammenspannen müssen. Im wirtschaftlichen Eigeninteresse der Schweiz soll die Zusammenarbeit mit dem hiesigen Privatsektor gestärkt werden. Schweizer Unternehmen und Anleger sollen von den Finanzmitteln, der Expertise und den politischen Kontakten der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit profitieren, um die Kosten und Risiken nachhaltiger Investitionen zu senken oder damit höhere Gewinne zu erzielen.

Die Idee, dass Mittel der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit als „Hebel“ für die Mobilisierung von nachhaltigen privatwirtschaftlichen Aktivitäten dienen sollen, wirkt auf den ersten Blick recht bestechend. Im Einzelfall ist allerdings schwierig abzuschätzen, ob eine solche Mobilisierung tatsächlich nötig ist. Das Risiko besteht, dass mit Steuergeldern des Bundes gewinnträchtige private Aktivitäten subventioniert würden, die auch ohne staatliche Unterstützung stattfinden würden. Zudem geht der Einsatz solcher Mittel auf Kosten bewährter Formen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit etwa im Bildungs- und im Gesundheitsbereich, sofern nicht gleichzeitig das Bundesbudget für die Entwicklungszusammenarbeit substantiell aufgestockt wird.

Nicht zuletzt laufen Deza und Seco auch Gefahr, Investitionen von Unternehmen zu fördern, die jenseits ihrer Zusammenarbeit mit den beiden Entwicklungsagenturen in Menschenrechtsverletzungen verstrickt sind oder Umweltschäden verursachen. Die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) will solche Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden verhindern. Es stünde Deza und Seco deshalb gut an, in der Schweiz nur mit Unternehmen und Anlegern zusammenzuspannen, die vorbehaltlos hinter den Menschenrechten und dem Umweltschutz stehen und sich darum auch klar für die Initiative aussprechen. Das erfolgreich mit fake news operierende Lobbying der Wirtschaftsverbände im Vorfeld der Kovi-Debatte im Ständerat macht klar: Zu einer solchen Lösung würde nur ein nach den Wahlen vom Herbst anders zusammengesetztes Parlament Hand bieten.

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Bundesrat heftig zurückgepfiffen

25.03.2019, Internationale Zusammenarbeit

Die Rüstungsindustrie darf nicht mit erleichterten Exporten in Bürgerkriegsländer gestärkt werden. Waffenexporte und Entwicklung vertragen sich schlecht.

Bundesrat heftig zurückgepfiffen
Die Schweizer Waffenindustrie ist gut vertreten an der IDEX (International Defence Exhibition & Conference) in Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate.
© Philipp Künzli

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Als der Bundesrat Mitte Juni 2018 über seinen Beschluss informierte, die Ausfuhr von Kriegsmaterial in Bürgerkriegsländer zu erleichtern, fiel der Protest heftig aus. Die einseitige Berücksichtigung der Bedürfnisse der Rüstungsindustrie auf Kosten von Menschenleben in Konfliktgebieten löste bei Parteien und BürgerInnen Entsetzen aus. Wie kann die Schweiz Waffen in Bürgerkriegsländer liefern und gleichzeitig gute Dienste anbieten und auf ihrer humanitären Tradition bestehen? Im Nationalrat fand in der Herbstsession eine dringliche Debatte zum Thema statt, bereits stand die Absichtserklärung im Raum, es werde eine Volksinitiative lanciert, sollte der Bundesrat seinen Entscheid nicht rückgängig machen.

Die Ausfuhrkriterien für Waffenexporte waren bereits vor zehn Jahren auf der politischen Agenda. 2006 hatte die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) ihre Volksinitiative „Für ein Verbot von Kriegsmaterial-Export“ lanciert. Als Antwort darauf verschärfte der Bundesrat 2008 die Ausfuhrbedingungen. Die Kriegsmaterialverordnung wurde in mehreren zentralen Punkten ergänzt. So wurden Exporte verboten, wenn das Bestimmungsland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist, die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzt oder zu den am wenigsten entwickelten Ländern zählt. Ebenso wurden Exporte ausgeschlossen, wenn ein hohes Risiko besteht, dass die Waffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt oder an einen unerwünschten Endempfänger weitergegeben werden. Die weiter gehende GSoA-Initiative wurde im Folgenden an der Urne abgelehnt.

Alleingänge der Regierung verunmöglichen

Im Nationalrat stiess insbesondere der Alleingang des Bundesrates sauer auf. Entsprechend wurde eine Motion der BDP angenommen, welche die Mitsprache des Parlaments verankern will. Sie fordert, die Bewilligungskriterien für Auslandgeschäfte aus der Verordnung zu streichen und in das Kriegsmaterialgesetz aufzunehmen. Damit würde die Verantwortung vom Bundesrat an das Parlament übergehen. Änderungen der Ausfuhrbestimmungen müssten den parlamentarischen Weg gehen und könnten via Referendumsoption auch den Schweizerinnen und Schweizern vorgelegt werden.

Aus entwicklungspolitischer Sicht sind verschiedene Aspekte des Themas relevant. Generell gilt, dass Frieden eine Grundvoraussetzung für Entwicklung ist. Der Einsatz der Entwicklungszusammenarbeit für friedliche, stabile Gesellschaften ist auch ein Einsatz für erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Die internationale Unterstützung für funktionierende Bildungs- und Gesundheitssysteme in den ärmsten Ländern darf dabei aber nicht Budgetmittel im Zielland freimachen, die für militärische Aufrüstung ausgegeben werden. Entsprechend war die Bestimmung in der Verordnung von 2008 ein wichtiger Hebel, um Rüstungsexporte in die am wenigsten entwickelten Länder zu untersagen und zu verhindern, dass staatliche Mittel für Rüstungskäufe ausgegeben wurden, sondern prioritär in Armutsbekämpfung und die Finanzierung von Gesundheit und Bildung flossen. Diese Bestimmung hatte der Bundesrat 2014 in einer ersten Lockerung der Kriegsmaterialverordnung abgeschwächt. Der Entwicklungsstand eines Landes sollte nur berücksichtigt werden, jedoch kein zwingendes Hindernis für die Exportbewilligung darstellen. Im Zusammenhang mit der sich verändernden Natur von Konflikten und zunehmender terroristischer Gefahren beispielsweise im Sahel hat die Frage nach staatlichen Ausgaben für nationale Sicherheitskräfte durchaus seine Berechtigung. Die Schweiz muss bei der Prüfung entsprechender Anfragen aber zwingend abklären, ob die Polizei oder andere sicherheitspolitischen Akteure im Bestimmungsland einer demokratischen Kontrolle unterstehen. Ist diese nicht gewährleistet, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Waffen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden.

In der Beurteilung des Kontextes hat die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) eine wichtige Rolle zu spielen. Sie ist in vielen der ärmsten Länder mit Programmen im Bereich der Regierungsführung aktiv und verfügt über die Möglichkeiten, um die Situation vor Ort treffend einschätzen zu können. Entsprechend ist es unerlässlich, die Deza in die Beurteilung von Exportgesuchen einzubeziehen. Sie kann mithelfen, den Grad der demokratischen Kontrolle der Sicherheitskräfte oder die Korruption in einem Land zu beurteilen. Korruption ist ein wesentlicher, aber nicht ausreichender Indikator zur Einschätzung, ob die Zusicherungen eines Käufers glaubhaft sind, die Waffen nicht weiter zu verkaufen.

Der Bundesrat hat am 31. Oktober seinen Verzicht auf die Lockerung der Kriegsmaterialverordnung bekannt gegeben. Doch der Stein ist ins Rollen gekommen und lässt sich nicht mehr stoppen. Eine breite Allianz gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer hat in nur zwei Monaten bereits die nötigen 100‘000 Unterschiften für ihre Initiative gesammelt, zurzeit läuft deren Beglaubigung. Die sicherheitspolitische Kommission des Ständerats empfahl am 11. Februar ihrem Rat, auf eine Beratung der BDP-Motion zu verzichten und die Frage im Rahmen der Debatte zur Initiative zu führen. Am 11. März folgte der Ständerat der Argumentationslinie der Kommission. Die Debatte um Waffenexporte in Bürgerkriegsländer wird damit auf die lange Bank geschoben.

 
Korrekturinitiative

Nach Bekanntgabe des bundesrätlichen Entscheids, die Ausfuhrbestimmungen für Waffenexporte zu lockern, formierte sich rasch eine breite gegnerische Allianz. Von den Alliance Sud-Träger- und Partnerorganisationen sind Helvetas, HEKS, Swissaid und Terre des Hommes Schweiz Teil dieser Koalition. Die sogenannte Korrekturinitiative will Waffenexporte in Bürgerkriegsländer verbieten. Erklärtes Ziel ist nicht ein generelles Exportverbot, wie es die Initiative der GSoA 2006 verlangte, sondern eine Rückkehr zum Stand von vor 2014, als die Kriegsmaterialverordnung zuletzt gelockert wurde. 24 Stunden nach Bekanntgabe, dass die Lancierung einer Initiative geprüft werde, hatten bereits 25‘000 Menschen versprochen, je vier Unterschriften zu sammeln.

 
Zahlen und Fakten

  • Für zivile Friedensförderung und Menschenrechte hat die Schweiz 2017 100 Millionen Franken ausgegeben. (Quelle: EDA)
  • Die weltweiten Militärausgaben beliefen sich 2017 auf 1‘739 Milliarden US-Dollar. (Quelle: SIPRI)
  • Zur Finanzierung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) rechnet die UNO mit einem jährlichen Finanzbedarf von 5000 bis 7000 Milliarden US-Dollar.

Die Bedeutung von Kriegsmaterialexporten für den Werkplatz Schweiz ist bescheiden. Gesamthaft exportierte die Schweiz 2016 Güter im Umfang von fast 211 Milliarden Franken. Annähernd die Hälfte davon entfiel auf die Pharmaindustrie. Der Anteil der Rüstungsexporte machte nur knapp 0,17 Prozent des gesamten Aussenhandels aus.

Die Befürworter möglichst schrankenloser Waffenexporte behaupten, die Schweiz brauche eine Rüstungsindustrie für ihre eigene Sicherheit und nur ungehinderte Exporte garantierten deren Überleben.

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Unter den grössten Abnehmern von Schweizer Rüstungsgütern fallen drei Länder auf, in denen entweder fundamentale Menschenrechte nicht garantiert sind und/oder die als akute Gefährdung für den Frieden in ihrer Region eingeschätzt werden müssen. Indien (Rang 3) kaufte 2016 für 35 Mio. Franken Schweizer Waffen, Pakistan (Rang 5) für 16 Mio. und Saudi-Arabien (Rang 10) für 12 Mio. Für den in dieser Grafik ausgewiesenen wachsenden Anteil an Waffenexporten nach Afrika ist primär Südafrika (Rang 2, 51 Mio.) verantwortlich.

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So geht wirkungsvolle EZA

06.05.2019, Internationale Zusammenarbeit

Zum Auftakt der Vernehmlassung über die internationale Zusammenarbeit 2021-2024 hat Alliance Sud in einem Positionspapier zusammengefasst, an welchen Prinzipien sich gute und sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit (EZA) orientiert.

So geht wirkungsvolle EZA

© SRF Arena

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Das Positionspapier von Alliance Sud «Die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz» gibt auf folgende Fragen Auskunft:

  • Aktuelle Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit
  • Was ist der Auftrag der Entwicklungszusammenarbeit?
  • Weshalb soll sich die Schweiz in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren?
  • Wie soll die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz gestaltet werden?
  • Welches sind die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz?
  • Wo soll die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz ihre Schwerpunkte setzen?
  • Wer sind die Partner der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit?
  • Wie soll die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz finanziert werden?
  • Wie soll die Wirkung gemessen werden?

Die Forderungen von Alliance Sud auf einen Blick:

  1. Die Schweiz verbessert ihre Politikkohärenz für nachhaltige Entwicklung. Dafür müssen alle Politikbereiche, die Auswirkungen auf Entwicklungsländer haben, entwicklungsfördernd gestaltet werden.
  2. Die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz orientiert sich weiterhin an ihrem verfassungsmässigen Grundauftrag und den entsprechenden gesetzlichen Prinzipien – insbesondere am Auftrag, Not und Armut zu lindern.
  3. In der konkreten Ausgestaltung achtet die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz darauf, dass sie mehrere Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung vorwärts bringt, ohne Rückschritte bei der Verwirklichung anderer Ziele zu riskieren.
  4. Die Entwicklungszusammenarbeit trägt weiterhin und noch stärker als bisher in ärmeren Ländern zur Reduktion von Ungleichheiten und zur Verbesserung der lokalen Lebensperspektiven bei, etwa indem sie die ländliche Entwicklung, den Zugang zu Bildung und Gesundheit sowie die gute Regierungsführung fördert. Sie orientiert sich dabei an den Bedürfnissen der Ärmsten und am stärksten Benachteiligten (leave no one behind).
  5. In der Ausgestaltung ihrer Entwicklungszusammenarbeit folgt die Schweiz einem rechtebasierten Ansatz (rights-based approach).
  6. Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit sucht verstärkt die Zusammenarbeit mit lokalen NGOs und gemeinschaftsbasierten Organisationen (community based organisations, CBO). Insbesondere in Ländern mit autoritären Regimes trägt sie dadurch zum Aufbau eines zivilgesellschaftlichen Gegengewichts bei, das zu inklusiveren politischen Entscheidungsprozessen beitragen kann.
  7. Die Kriterien für ein Engagement in einem Land müssen sich am Entwicklungsstand (Human Development Index der Uno, HDI) dieses Landes orientieren. Länder mit tiefem Entwicklungsstand/HDI-Rang sind zu priorisieren. In aufstrebenden Ländern soll sich die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz vor allem in Form von Politikdialog engagieren, um auch hier für partizipative und inklusive Entwicklungsprozesse, die Einhaltung der Menschenrechte und die Zusicherung eines offenen Handlungsspielraums für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu sorgen.
  8. Die Schweiz gestaltet Migration über geeignete Interventionen so mit, dass kein Land davon überfordert wird, alle Betroffenen daraus den grösstmöglichen Entwicklungsnutzen ziehen und insbesondere die Rechte der Migrantinnen und Migranten geschützt sind.
  9. Die Schweiz führt ihre bewährte Partnerschaft zwischen den staatlichen Akteuren der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit und den privaten Schweizer Entwicklungsorganisationen weiter und baut sie nach dem Prinzip der geographischen und thematischen Komplementarität aus.
  10. Partnerschaften zwischen den Akteuren der internationalen Zusammenarbeit und dem Privatsektor richten sich primär an lokale kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Sie müssen sich am gesellschaftlichen Nutzen in den Entwicklungsländern orientieren, auf die Schaffung menschenwürdiger und nachhaltiger Arbeit abzielen und höchste Standards in Sachen Menschenrechte und Umweltschutz erfüllen.
  11. Die Schweiz erhöht ihre Ausgaben für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (APD: aide publique au développement) auf 0.7% des Bruttonationaleinkommens.
  12. Die Schweiz rechnet Kosten zur Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden nicht länger der APD an.
  13. Die Schweiz schafft Quellen für innovative und verursachergerechte öffentliche Klimafinanzierung, um gegenüber den Entwicklungsländern einen fairen Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels und vor allem auch zur Anpassung an seine Folgen zu leisten.
  14. Über ihr Mitwirken in verwaltungsinternen politischen Konsultationsprozessen und Mitberichtsverfahren wirken die Akteure der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit darauf hin, dass Entscheide kohärent im Sinne von nachhaltiger Entwicklung gefällt werden.
  15. Die Schweizer Entwicklungsakteure investieren– unter Einbezug der Schweizer NGOs und der Wissenschaft – weiterhin in die Wirkungsmessung. Quantitative und qualitative sowie output- und wirkungsfokussierte Methoden müssen sich dabei ergänzen und kombiniert werden.

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OECD fordert von der Schweiz mehr Politikkohärenz

13.06.2019, Internationale Zusammenarbeit

Die Schweiz soll mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit ausgeben, den Fokus auf Armutsreduktion beibehalten und die Politikkohärenz stärken. Dies fordert der Entwicklungsausschuss der OECD (DAC).

OECD fordert von der Schweiz mehr Politikkohärenz

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

Alle 5 Jahre unterziehen sich die Mitglieder des OECD Entwicklungsausschusses einem gegenseitigen Prüfverfahren (Peer Review), welches die Wirksamkeit, die Finanzierung und die Arbeitsweise ihrer internationalen Zusammenarbeit (IZA) prüft. Dieses Jahr haben die DAC-Mitgliedsstaaten Dänemark und Portugal die IZA der Schweiz genauer unter die Lupe genommen. Eine Delegation der beiden Länder führte hierzu Gespräche mit Ignazio Cassis, dem Vorsteher des Eidgenössischen Departments für auswärtige Angelegenheiten (EDA), mit Entscheidungsträgern des Departments für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA), des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) sowie der Abteilung für menschliche Sicherheit (AMS). Ausserdem wurden verschiedene Parlamentsmitglieder, sowie die beratende Kommission für internationale Zusammenarbeit und eine Vielzahl nichtstaatlicher und privatwirtschaftliche Akteure konsultiert. Nach ihrem einwöchigen Besuch in Bern reiste die DAC-Delegation weiter in die Ukraine, um sich vor Ort ein Bild vom Engagement der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz zu machen.

Erstmals durften die Schweizer NGOs neben dem offiziellen Memorandum der DEZA, SECO und AMS, den Reviewern im Vorfeld des Peer Review Prozesses ihre eigene Sicht auf die Schweizer IZA zukommen lassen. Die Schweiz zeigte sich auch sonst sehr offen für die Kritik der NGOs und lud mit Mark Herkenrath, Direktor von Alliance Sud, einen Vertreter der Zivilgesellschaft zur Länderdiskussion des Peer Reviews nach Paris ein.

Am 5. April 2019 veröffentlichte der DAC seine Empfehlungen an die Schweiz. Obwohl die DAC die Schweizerische IZA für ihre Expertise, Flexibilität und Zuverlässigkeit, sowie gute Synergien zwischen ihrem bilateralen und multilateralen Engagement lobt, werden verschiedene Aspekte bemängelt. Die folgenden Empfehlungen des DAC sind für Alliance Sud zentral:

Es wird festgehalten, dass die Schweiz mehr tun muss um die politische Kohärenz zu stärken, sowie eine öffentliche Debatte über die Auswirkungen verschiedener innen- und aussenpolitischer Entscheide auf die Entwicklungsländer anzuregen.

Ebenfalls erwähnt wird die Notwendigkeit die Gelder für die IZA progressiv zu erhöhen – in einem ersten Schritt auf die 2011 versprochenen 0.5% des BNE, längerfristig aber mindestens auf die in der Addis Abeba Action Agenda und der SDG Agenda vorgesehenen 0.7%.

Als weiterer Punkt wird angeführt, dass die Schweiz sicherstellen muss, dass ihre Entwicklungsprogramme weiterhin auf die langfristige Armutsreduktion und nachhaltige Entwicklung in Partnerländern ausgerichtet bleiben und nicht in den Dienst migrationspolitischer Interessen gestellt wird. Im Bezug auf die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, sei es zudem wichtig, dass die DEZA eine klare Strategie und Vision entwickelt, welche komplementär zur Strategie des SECO zu sehen ist.

Zudem wird bemängelt, dass sich die bisherigen Partnerschaften der Schweiz mit lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen hauptsächlich auf die Implementierung von Schweizer IZA Projekten beschränkt. Somit verpasst die Schweiz eine Chance die lokale Zivilgesellschaft als eigenständigen «Agent of Change» wahrzunehmen und zu stärken.

Die Empfehlungen der Peer Review werden sicherlich in die Botschaft zur Internationalen Zusammenarbeit Eingang finden, wobei sich Alliance Sud vor allem dafür einsetzen wird, dass die obenstehenden Prioritäten angemessen berücksichtigt und umgesetzt werden.

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An der Mehrheit vorbei politisiert

14.06.2019, Internationale Zusammenarbeit

Bundesrat Cassis will die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit neu ausrichten. Zentrale Anliegen von Alliance Sud wie die Agenda 2030 und die Rolle der Zivilgesellschaft im globalen Süden finden dabei kaum Erwähnung.

An der Mehrheit vorbei politisiert
Mark Herkenrath, Geschäftsleiter Alliance Sud.
© Daniel Rihs/Alliance Sud

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Rund zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der Schweiz wünschen sich, dass unser Land seine Entwicklungsausgaben erhöht. Sie sind der Ansicht, dass die Entwicklungszusammenarbeit im Interesse der Schweiz ist und zur Sicherheit in der Welt beiträgt. Zu diesem Schluss kommt die kürzlich veröffentlichte Studie «Sicherheit 2019» der Militärakademie und des Zentrums für Sicherheitsstudien der ETH. In der Suisse romande sprechen sich sogar mehr als 80% der Bürgerinnen und Bürger für einen Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit aus.

Der Bundesrat lässt sich vom grossen Rückhalt, den die Entwicklungszusammenarbeit in der Bevölkerung geniesst, nicht beeindrucken. Im Entwurf zur Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2021-2024 schlägt er vor, dass die Schweiz in den kommenden Jahren gerade einmal 0,45% ihres Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden soll. 2016 waren es immerhin 0,53%. Seither musste die Entwicklungszusammenarbeit massive Einsparungen über sich ergehen lassen; trotz jährlicher Milliardenüberschüsse in der Bundeskasse.

Die reiche Schweiz gibt aktuell einen kleineren Anteil ihres Nationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit aus als der Durchschnitt aller EU-Staaten. Abzüglich der Asylausgaben, die absurderweise auch zur öffentlichen Entwicklungshilfe gerechnet werden können, soll dieser Anteil in den nächsten Jahren gar nur 0,4% betragen.

Der Botschaftsentwurf zur zukünftigen internationalen Zusammenarbeit der Schweiz lässt aber nicht nur in Sachen Finanzen zu wünschen übrig. Er ist auch in strategischer Hinsicht oberflächlich und lückenhaft. So fehlt das klare Bekenntnis, dass die Reduktion von Armut und die Stärkung der Zivilgesellschaft weiterhin Hauptziele des Schweizer Engagements sein sollen. Die Reduktion von Armut ist nur dann und dort noch ein Ziel, wo dies auch aus migrationspolitischen Gründen opportun erscheint. 

Stattdessen soll die Entwicklungszusammenarbeit vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Partnerschaften mit privatwirtschaftlichen Akteuren ausgerichtet werden. Es fehlt der entscheidende Hinweis darauf, dass es dabei um menschenwürdige Arbeit im Rahmen einer ökologisch nachhaltigen Produktionsweise gehen muss. Welche Kriterien die privatwirtschaftlichen Partner in Sachen Menschenrechte, Umweltschutz und fairer Besteuerung erfüllen sollen, bleibt im Botschaftsentwurf ungeklärt.

Alliance Sud wird sich in ihrer Vernehmlassungsantwort für eine Botschaft einsetzen, welche die Umsetzung der Uno-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ins Zentrum stellt. Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit muss dem Kampf gegen Armut und der Linderung von Not dienen. Und sie soll in ihren Partnerländern mehr denn je all jene zivilgesellschaftlichen Kräfte unterstützen, die für soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit einstehen.

Meinung

Die zurückgelassenen Männer

14.06.2019, Internationale Zusammenarbeit

Es ist eine Binsenwahrheit: Ohne aufgeschlossene Männer gibt es in der Genderdebatte keinen Fortschritt. Was aber ist, wenn wie in der Mongolei die Männer in Sachen Bildung abgehängt werden?

Die zurückgelassenen Männer
Ohne Pickup-Truck wären die riesigen Distanzen in der mongolischen Steppe nicht zu überwinden.
© zVg

von Lkhamdulam Natsagdorj

Galaa[1] und seine Frau Odnoo sind Hirten im Verwaltungsbezirk (mongolisch Soum) Tsenkher rund 450 Kilometer von der Hauptstadt Ulaanbaatar entfernt. Sie haben zwei Kinder - den 30-jährigen Sohn Tumur und die 20-jährige Tochter Tuya. Tumur ist ebenfalls Hirte und immer noch nicht verheiratet. Üblich wäre auf dem Land, allerspätestens mit 25 den Bund fürs Leben zu schliessen. «Ich habe mich in allen benachbarten Tälern nach einer potentiellen Frau umgesehen und es gab keine», sagt er. Tuya studiert in der Hauptstadt für einen  Bachelor. «Ich werde nach meinem Abschluss nie zurückkehren, sondern mich in der Stadt niederlassen», sagt sie zuversichtlich. Auf die Frage nach dem Grund ihrer Entscheidung antwortet sie: «Das Nomadenleben ist so hart.»

Ähnliche familiäre Konstellationen haben wir sie in der ländlichen Mongolei während unserer Forschung mit dem Projekt WOLTS[2] immer wieder erlebt. Alleinstehende Männer erzählen uns, dass die wenigsten Jungen, die für einige Jahre nach Ulaanbaatar gezogen sind, wieder aufs Land zurückkehren. Zu angenehm könne das Leben in der Stadt sein. Von der Landflucht zurückgehalten werden von ihren Familien vor allem junge Männer, denn die werden dringender benötigt bei der harten Arbeit draussen beim Vieh.

Etwa 20% der mongolischen Haushalte pflegen heute noch eine halbnomadische Lebensweise, die sich ausschließlich auf die Tierhaltung stützt. Und wir Mongolen sind stolz auf diese tief verwurzelte Identität als Hirtenvolk, es war über Jahrhunderte die beste Art und Weise, sich an ein empfindliches Ökosystem anzupassen, wir müssen uns bewegen, wenn wir Weiden für unser Vieh haben wollen. Männer und Frauen haben in dieser Lebensform unterschiedliche Aufgaben, die Männer arbeiten vor allem draussen und sorgen dafür, dass die Herden erhalten, was sie brauchen, während die Frauen sich ums Melken, die Verarbeitung der Milch, die Kinderbetreuung und den Haushalt kümmern. Auch in der ländlichen Mongolei braucht es zwei, um Tango zu tanzen.

Als die Mongolei in den 1990er Jahren schnell vom Sozialismus auf die Marktwirtschaft umstellte, stieg der Druck auf die jungen Männer, für ihre Familien Bargeld zu verdienen. Viele versuchten es als Händler oder verliessen das Land, um ihr Glück als Arbeitskräfte in Ländern wie Südkorea, den USA und oder Grossbritannien zu suchen. Für junge Frauen dagegen öffnete sich der Zugang zu den Universitäten. Ich erinnere mich, dass wir in meinem Bachelorstudium unter 50 Studierenden nur gerade vier Männer in unserer Klasse hatten. Auf dem Land begannen sich die Eltern an die neue Lebensweise anzupassen, indem sie ihre Söhne oder mindestens einen davon zu Hause bleiben liessen, um ihr Vieh zu treiben, die Töchter dagegen zur Schule und zum Studium schickten. In unserer Arbeit bei WOLTS untersuchen wir einige der sozialen Konsequenzen, welche die Benachteiligung der Männer im Bildungsbereich für die Gesellschaft hat. Denn unsere Feldarbeit bestätigt für die ländlichen Gebiete, was auch die nationalen Statistiken für die ganze Mongolei belegen: Die Frauen sind deutlich besser ausgebildet als die Männer. Der Global Gender Gap Report 2018 zeigt, dass 86,1% der Frauen in der Mongolei eine Sekundarschulausbildung absolvieren, verglichen mit 77,7% der Männer. Dieses umgekehrte Geschlechtergefälle akzentuiert sich bei der höheren Bildung, zu der 76,4% der Frauen, aber nur 53,5% der Männer Zugang haben. Und schliesslich spiegeln sich die Unterschiede auch in den Anteilen von Frauen und Männern, die in technischen Berufen zu finden sind. 64,6% Frauen stehen 35,4% Männer gegenüber.

Nach dem mongolischen Gesetz über die Grund- und Sekundarbildung aus dem Jahr 2002 müssen alle Kinder eine 12-jährige Schulbildung haben. Das gut gemeinte Gesetz soll das Bildungssystem des Landes an internationale Standards anpassen, übt aber zusätzlichen Druck auf den traditionellen halbnomadischen Lebensstil aus, der zwangsläufig saisonalem Wechsel unterworfen ist. Mit nur 1,9 Menschen pro Quadratkilometer ist die Mongolei das am dünnsten besiedelte Land der Welt und Schulen gibt es nur in den Bezirkshauptorten, entsprechend schwer sind sie für die ländliche Bevölkerung zu erreichen. Verheiratete Nomadenpaare setzt das unter Druck, den grössten Teil des Jahres getrennt zu leben, damit Mütter ihren Kindern den Schulbesuch im Hauptort des Soum ermöglichen können.

Wir treffen uns mit Bold, der jedes Jahr für mindestens zehn Monate allein bleibt, während seine Partnerin im Soum-Zentrum bleibt und sich dort während des ganzen Schuljahrs um die gemeinsamen Kinder kümmert. Herdenarbeit ist an sich schon hart, jetzt muss er sie ohne weibliche Unterstützung erledigen. Er kämpft darum, die Viehzucht am Leben zu erhalten, sie ist die einzige Einkommensquelle der Familie. Bold wirkt, als hätte er die Hoffnung verloren, sein Haushalt ist chaotisch, es ist kalt, es brennt kein wärmendes Feuer in der Jurte um Essen zu kochen. Er sagt: «Ohne meine Frau ist das kein richtiges Zuhause, ich bin nur noch zum Geld machen gut». Viele Männer in dieser Situation beginnen zu trinken, Alkoholismus ist in der Mongolei zu einem Problem geworden.

Wie aber wirkt sich diese Situation auf die Frauen aus? Viele der Mädchen, die an den Universitäten in der Hauptstadt Ulaanbataar studieren, arbeiten nach ihrem Abschluss als Händlerinnen, andere arbeiten als Kellnerinnen. Längst nicht alle junge Frauen, die für ein besseres Leben in die Stadt aufgebrochen sind, können beruflich erfolgreich sein. Denn das Leben in der Stadt ist vielleicht körperlich weniger hart, kann aber auf andere Weise brutal sein. Im Grossraum Ulaanbaatar leben mittlerweile auf 0,3% der Fläche des Landes zwei Drittel der mongolischen Bevölkerung von insgesamt gut 3 Millionen; die unendliche Weite unserer Heimat hat sich dort in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Themen, die ich hier beschreibe, tragen zu grösseren sozialen Problemen in der Hauptstadt bei. Nicht wenige Mädchen und junge Frauen in Ulaanbaatar, die dort keine gut geregelte Unterkunft haben, landen in der Prostitution oder werden Opfer von Menschenhändlern. Und auch jenen, denen es gelingt, mit ihrer Ausbildung Karriere zu machen, fällt es schwer, einen passenden Mann zu finden, wie das unlängst auch in der britischen Zeitung The Guardian beschrieben wurde.

In unserer intensiven Feldarbeit mit WOLTS in drei verschiedenen Regionen der Mongolei stossen wir immer wieder auf diese Problematik von getrennt lebenden Familien und zurückgelassenen Hirten. Wir Mongolinnen und Mongolen müssen dringend Lösungen suchen und finden, bevor unsere nomadisch-mongolische Identität und unsere traditionelle pastorale Lebensweise zerstört wird.

 

Die Autorin Lkhamdulam ist Mitbegründerin und Vorsitzende der mongolischen NGO People Centered Conservation (PCC) und aktive Mitarbeiterin des Women's Land Tenure Security (WOLTS) Projekts.

 

[1] Die Namen wurden geändert

[2] Women's Land Tenure Security (WOLTS) ist eine Zusammenarbeit zwischen den NGOs Mokoro Ltd (UK), PCC (Mongolei) und HakiMadini (Tansania).

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«Für Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit!»

14.06.2019, Internationale Zusammenarbeit

Die höchste Schweizerin hat zum 25. Jahrestag des Genozids Ruanda und anschliessend Mosambik, eines der ärmsten Länder der Welt, besucht. «global» sprach mit der Ärztin und Nationalratspräsidentin Marina Carobbio.

«Für Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit!»
Marina Carobbio
© Daniel Rihs / Alliance Sud

Interview: Daniel Hitzig, ehemaliger Verantwortlicher für Medien und Kommunikation bei Alliance Sud

global: Welche persönlichen Eindrücke haben Sie von dieser Afrikareise mitgenommen?

Marina Carobbio: Es war eine sehr intensive und anspruchsvolle Reise. Das Gedenken an den Völkermord in Ruanda 1994 war ein sehr starker Moment. Die Menschen zu hören, die den Genozid persönlich überlebt haben, das hat mich sehr berührt. Es ist notwendig, daran zu erinnern, damit sich etwas Ähnliches nicht wiederholen kann. Dabei gibt es immer noch viele Orte, an denen es inakzeptable Angriffe auf Menschen und die Menschenrechte gibt. Die Reise hat mich sehr motiviert, mein Engagement für die Entwicklungszusammenarbeit fortzusetzen.

Dass die Wahl auf Ruanda und Mosambik fiel, war sicher kein Zufall.

Natürlich nicht. Es interessierte mich, die Rolle der Frauen in Schweizer Entwicklungsprojekten kennenzulernen, speziell wollte ich auch Projekte im Gesundheitswesen sehen. Wir wissen im Allgemeinen ja wenig über Afrika und Politiker und Politikerinnen sollten mehr darüber erfahren, was die Schweiz tut und was sie selbst aus dieser Zusammenarbeit lernen kann. Denn Entwicklung ist nie eine Einbahnstrasse. Bei meinen Besuchen stand die Rolle des Bundes im Vordergrund. Unser Land gilt als Vorbild in Sachen gute Regierungsführung und ist als zuverlässiger Partner anerkannt.

Die Schweiz verfügt über drei aussenpolitische Instrumente – die Entwicklungszusammenarbeit, die Friedens- und Menschenrechtsförderung sowie die humanitäre Hilfe. Was haben Sie bei Ihrem Besuch diesbezüglich erfahren?

In beiden Ländern haben wir Wasser- und Gesundheitsprojekte besucht, aber auch solche, mit denen Menschen unterstützt werden, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Auch Projekte im Bereich Public Private Partnership (PPP) haben wir gesehen und wir konnten beobachten, wie die Schweiz bei der Friedensförderung durch Dialog und die Beteiligung der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Das alles hat meine Überzeugung bestärkt, dass die Schweiz, wenn sie diese Arbeit fortsetzt, weiterhin und zunehmend als wichtige Akteurin auf der internationalen Bühne anerkannt wird. Es wäre ein Fehler, bestimmte Formen der Zusammenarbeit aufzugeben oder unsere Arbeit gar einzustellen. Sie ist für die Entwicklungsländer wichtig, aber eben auch für die Schweiz.

Mosambik ist eines der Schwerpunktländer der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz. Nach den Überschwemmungen forderten mehrere NGOs die Credit Suisse auf, Mosambik Schulden von einer Milliarde Dollar zu erlassen. Im Jahr 2016 hatten giftige Kredite das Land in eine schwere Schuldenkrise gestürzt. Es ist doch paradox, auf der einen Seite steht die staatliche Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz, auf der anderen Seite stürzt eine Schweizer Bank das Land in eine beispiellose Krise...

Das Problem ist, dass die Bank als privates Unternehmen wenig zur Klärung dieser Geschichte beiträgt. Das führt uns ohne Umweg zum Thema der Konzernverantwortungsinitiative. Auch wenn das Volksbegehren die Banken nicht direkt betrifft, ist das Thema der Sorgfaltspflicht von zentraler Bedeutung. In Mosambik haben wir bei offiziellen Treffen auch darüber gesprochen, wie wichtig die Bekämpfung der Korruption ist. In Ruanda habe ich festgestellt, wie heikel die Frage nach den Rohstoffen ist, die aus der Demokratischen Republik Kongo ins Land gelangen. Auch das erinnert uns wieder an unsere eigene Verantwortung, denn aus Ruanda gelangen Rohstoffe auch weiter zu uns.

Die Schweiz will gute Geschäfte machen, aber auch mit ihrer humanitären Tradition wahrgenommen werden. Wie erleben Sie diesen Spagat als Politikerin?

Der wirtschaftliche Erfolg ist zwar ein grundlegendes Thema, er darf aber nicht getrennt betrachtet werden von unserer Politik der Friedensförderung, des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Es ist genau dieser Widerspruch, auf den die Konzernverantwortungsinitiative hinweist.

Die Gegner der Initiative sagen, das Anliegen sei zwar richtig, aber es genüge, wenn sich die Unternehmen freiwillig an Menschenrechte und Umweltstandards halten…

Wir haben auch in der Schweiz in vielen Bereichen festgestellt, dass freiwillige Standards nicht ausreichen, wenn es keine Regeln gibt. Nehmen wir nur das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen!
So wie die Schweiz als Vermittlerin in Konfliktfällen einen guten Ruf hat, können wir auch beim verantwortungsbewussten Unternehmertum eine Vorbildrolle einnehmen.

Bundesrat Ignazio Cassis will die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit vermehrt an den Eigeninteressen der Schweiz ausrichten. Auch Migrationsaspekte sollen stärker gewichtet werden. Wird die Zusammenarbeit so nicht instrumentalisiert?

Die Zusammenarbeit darf nicht mit rein internen Zielen verknüpft werden. Für mich ist klar, dass wir mit einer guten Entwicklungspolitik auf der internationalen Bühne auch Ansehen gewinnen, wovon die Schweiz nur profitieren kann. Verknüpfen wir hingegen die Zusammenarbeit mit dem Ziel, dass weniger Menschen in die Schweiz migrieren, so stellen wir die ursprünglichen und primären Ziele der Zusammenarbeit in Frage.
Wir leben in einem stabilen Land, wo es den Menschen gut geht. Ausgehend von dieser privilegierten Situation muss die Entwicklungszusammenarbeit klar einen Diskurs der Solidarität führen. Auf diesem Wert – der Solidarität – ist die Schweiz gewachsen und den sollten wir heute nicht in Frage stellen.

Ist die internationale Zusammenarbeit in der Bevölkerung noch verankert?

Sie ist heute zwar weniger bekannt als in den 1980er und 1990er Jahren, aber es gibt immer noch viele junge Menschen, die sich im Ausland engagieren. In den Medien wird heute weniger über Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. Wir erfahren zwar schnell von Katastrophen, die sich weit weg ereignet haben, reden etwa zwei Tage lang über einen Wirbelsturm und gehen dann zu einer anderen humanitären Krise über. Zusammenhänge kommen dabei eindeutig zu kurz. Mosambik war so ein Beispiel: Der Wirbelsturm an sich ist eine Naturkatastrophe, er trifft aber ein Land, das ohnehin schon sehr arm und stark vom Klimawandel betroffen ist.

Für viele gebildete Menschen im globalen Süden ist die «Entwicklungshilfe» des Nordens eine kaum kaschierte Form von Neokolonialismus. Da ist in den letzten dreissig Jahren einiges geschehen…

Ja, das stimmt. Zusammenarbeit darf eben nicht nur die Bereitstellung von Geld bedeuten, sondern muss auch auf die Ausbildung der Menschen zielen, damit sie in ihrem Land bleiben und arbeiten können. Die Zusammenarbeit muss so ausgerichtet sein, dass die Projekte selbstständig weitergeführt werden können. Ruanda, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, hängt extrem stark von der internationalen Zusammenarbeit ab. In den Projekten, die wir mit der AMCA[1] fördern, spielt gerade die Ausbildung von Medizin- und Pflegepersonal eine zentrale Rolle, damit nicht alles von der Zusammenarbeit abhängt.

Gemäss dem Botschaftsentwurf zur internationalen Zusammenarbeit 2021-2024 soll die Schweiz rund 0,45% ihres Nationaleinkommens (BIP) für die öffentliche Entwicklungshilfe aufwenden. Also weniger als die vom Parlament festgelegten 0,5%. Sie selbst setzen sich – wie es auch die Uno in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) vorsieht – für 0,7% ein. Wie beurteilen sie das?

Es war ein gutes Zeichen, dass das Parlament im vergangenen Jahr beschloss, das Ziel von 0,5% beizubehalten. Ich wünschte mir aber nach wie vor, wie andere nördliche Länder 0,7% zu erreichen. Alliance Sud spielt mit ihrer Information aller ParlamentarierInnen in dieser Diskussion eine wichtige Rolle. Ich bin optimistisch und zuversichtlich, dass wir das Ziel von 0,5% beibehalten können.

2017 haben Sie während einer Konferenz zur Agenda 2030 eine Rede mit dem Titel "Agenda 2030 und politische Entscheidungen, welche Widersprüche gibt es?" gehalten. Welche Widersprüche sehen Sie in diesem Bereich?

Die Schweiz hat die Agenda 2030 und die Sustainable Development Goals (SDG) unterstützt, stellt gleichzeitig aber die finanziellen Ressourcen für die Entwicklungszusammenarbeit in Frage. Die SDGs sollen im Geist der Teilnahme und Teilhabe umgesetzt werden, zum Nutzen von Minderheiten, gegen Diskriminierung und zur Unterstützung der Geschlechterpolitik. Bei AMCA etwa haben wir ein Projekt zur Bekämpfung von Gebärmutterkrebs bei Frauen: In der Schweiz und im Tessin wurde eine Impfkampagne durchgeführt, parallel dazu haben wir in den Schulen erklärt, was diese Art von Krebs in armen Ländern für ein Drama ist. Vielleicht ist es einfacher, den Diskurs über Solidarität und Zusammenarbeit mit solchen praktischen Beispielen verständlich zu machen.

Als Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin können sie bestimmten Themen zu mehr Resonanz verhelfen. Was haben Sie sich vorgenommen?

Ich habe Themen ausgewählt, die durch meine eigene Erfahrung geprägt sind. Eine davon ist die Vertretung von Frauen in der Politik sowie die Gleichstellung. Ich habe mich immer für die Rechte der Frauen eingesetzt und war in der feministischen Bewegung engagiert. Ein anderes mir wichtiges Thema ist jenes der Minderheiten, ich bin eine Vertreterin der italienischen Schweiz und stehe ein für eine mehrsprachige und multikulturelle Schweiz.

Am 14. Juni streiken die Frauen. Warum finden Sie es so wichtig, dass die Frauen dann auf die Strasse gehen?

Schon 1991 kam der Streik von der Basis, von Frauenverbänden und Gewerkschaften. Es wird ja nicht bloss in Bern eine Demonstration geben, sondern auch lokale Aktivitäten. Viele werden den ganzen Tag streiken, andere nur eine Stunde lang symbolisch. Wenn mir vor fünf Jahren gesagt worden wäre, dass 2019 ein Jahr der Frauen sein würde, hätte ich es nicht geglaubt. Dank der Demonstration im vergangenen September in Bern wurde das Gesetz über die Lohngleichheit im Parlament nicht blockiert.  

Wie hängen der Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter und jener um soziale Gerechtigkeit zusammen?

Frauen spielen in beiden Kämpfen eine zentrale Rolle. Sie sind es, die sich um die Familie kümmern und eine zentrale Rolle beim Aufbau der Gesellschaft spielen. Wenn es Ruanda und Mosambik gelingen sollte, sich von der Abhängigkeit der klassischen Entwicklungszusammenarbeit zu lösen, dann nur dank der Frauen.
Die Frauenbewegung, die Gleichstellung und der Kampf gegen Diskriminierung sind eng mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit verbunden. Wenn wir die Diskriminierung von Frauen bekämpfen, soll das immer auch in Richtung sozialer Gerechtigkeit gehen und sich gegen jenes Modell der patriarchalischen Gesellschaft richten, das es den Reichsten ermöglicht, über die Ärmsten zu herrschen.

 

Das Interview wurde auf Italienisch geführt.

Marina Carobbio Guscetti ist seit November 2018 Präsidentin des Schweizer Nationalrats und damit die amtshöchste Schweizerin. Von 1991 bis 2007 war sie Mitglied des Tessiner Grossrats, seit 2007 politisiert sie im Nationalrat, früher als Mitglied der Finanzkommission, heute in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Carobbio ist Vizepräsidentin der SP Schweiz, der NGO AMCA, des Vereins Alpeninitiative sowie des Schweizer Mieter- und Mieterinnenverbands.

 

[1] AMCA, die Vereinigung zur medizinischen Hilfe in Mittelamerika, wurde 1985 im Tessin gegründet.