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WTO: Die Schweiz kann aufatmen − für den Moment
29.11.2021, Handel und Investitionen
Obwohl die WTO-Ministerkonferenz auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, ist die Schweiz mit ihrem Widerstand gegen die Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-Impfstoffe zunehmend isoliert. Der WTO-Generalrat könnte und sollte rasch entscheiden.

Sitz der WTO in Genf
© Isolda Agazzi
Der Beschluss fiel am Freitag kurz vor Mitternacht: Die Welthandelsorganisation (WTO) sagte die für den 30. November bis 3. Dezember in Genf geplante Ministerkonferenz kurzfristig ab und verschob sie auf unbestimmte Zeit. Grund dafür sind die Flugeinschränkungen aus dem südlichen Afrika, die von der Schweiz und der Europäischen Union nach dem Auftreten der neuen Omicron-Variante des Coronavirus verhängt wurden. Es wäre undenkbar gewesen, ein derart wichtiges Treffen ohne die Teilnahme verschiedener MinisterInnen vor Ort abzuhalten; und von der ersten afrikanischen Generaldirektorin der Organisation, Ngozi Okonjo-Iweala, hätte man nichts anderes erwartet.
Zwar kann die Schweiz für den Moment aufatmen: Von allen Seiten wurde Druck auf sie ausgeübt, damit sie der von Indien und Südafrika geforderten vorübergehenden Aufhebung von Patenten und anderen Elementen des Schutzes geistigen Eigentums auf Impfstoffe, Medikamente und Antikörpertests endlich zustimmt (TRIPS-Ausnahmeregelung). Dieser Vorschlag wird von rund 100 Ländern und teilweise sogar von den USA unterstützt, die zumindest der Aufhebung des Schutzes des geistigen Eigentums bei Impfstoffen zugestimmt haben.
Die Schweiz ist neben der Europäischen Union und Grossbritannien eines der wenigen Länder, die sich weiterhin dagegen wehren. Doch das Europäische Parlament hat am 25. November eine Resolution zugunsten der Ausnahmeregelung verabschiedet, die die zukünftigen Entscheidungen der Europäischen Kommission beeinflussen könnte.
Der WTO-Generalrat soll entscheiden
Was wird jetzt passieren? Technisch gesehen ist für eine TRIPS-Ausnahmeregelung eine Ministerkonferenz gar nicht erforderlich: Sie kann vom Generalrat der WTO genehmigt werden, wie es in der Vergangenheit schon oft gemacht wurde. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Ministerkonferenz dem Thema mehr Sichtbarkeit verliehen hätte. In Genf und anderen Städten sind Demonstrationen geplant, NGOs wie Alliance Sud haben mobilisiert und die Medien auf der ganzen Welt interessieren sich für das Thema.
Die Konferenz wäre natürlich kein Spaziergang gewesen; niemand konnte den Ausgang vorhersehen, aber die Unnachgiebigkeit der Schweiz und einiger anderer Länder drohte sie zum Scheitern zu bringen, da in der WTO Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Die Arbeit an der Ausnahmeregelung sollte daher im TRIPS-Ausschuss fortgesetzt werden, wo die Schweiz zunehmend isoliert ist: Innerhalb der Europäischen Union führte bisher Deutschland die Ablehnungsfront an, aber die neue Mitte-Links-Regierung könnte diese Position ändern.
Paradoxerweise hat die neue Omicron-Variante wieder einmal gezeigt, dass niemand vor dem Virus sicher sein kann, solange nicht die ganze Welt die Corona-Krise überwunden hat. Daher ist es dringender denn je, die Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Tests und Medikamente in den Entwicklungsländern zu erhöhen. Dies geschieht auch durch die Aufhebung von Patenten und den Transfer von Technologie und Know-how durch die Pharmaunternehmen. Es bleibt zu hoffen, dass dies noch vor der nächsten Ministerkonferenz, deren neuer Termin noch nicht feststeht, geschieht. Andernfalls könnte es zu spät sein, um das Virus, das die Welt seit zwei Jahren im Griff hat, endlich einzudämmen.
Medienmitteilung
Aussenwirtschaftspolitik: Strategie ohne Grundlage
01.02.2022, Handel und Investitionen
Public Eye und Alliance Sud begrüssen die gestrige Anhörung zur neuen Aussenwirtschaftsstrategie in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N), kritisieren aber deren ungenügende Rechtsgrundlage.

© Parlamentsdienste 3003 Bern
Public Eye und Alliance Sud begrüssen die gestrige Anhörung zur neuen Aussenwirtschaftsstrategie in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK-N), kritisieren aber deren ungenügende Rechtsgrundlage. Sie fordern ein griffiges Aussenwirtschaftsgesetz um diesen für Menschenrechte und Umwelt höchst relevanten Politikbereich auf eine solide Basis zu stellen.
An ihrer Sitzung hat sich die APK-N mit der bundesrätlichen Aussenwirtschaftsstrategie befasst. Die Überprüfung der Strategie hat sich laut Bundesrat Parmelin wegen der «tiefgreifenden Veränderungen» in der Welt aufgedrängt. Public Eye und Alliance Sud begrüssen diese Neuausrichtung, auch weil die neue Strategie ihre langjährige Forderung nach mehr Transparenz und Mitsprache in der Aussenwirtschaftspolitik aufnimmt. Enttäuschend ist hingegen ihre Beschränkung auf die Förderung des Schweizer Wohlstands und damit die eigenen Wirtschaftsinteressen. Dabei wird u.a. auf Artikel 54 der Bundesverfassung verwiesen. Dieser Artikel beinhaltet aber auch die Achtung der Menschenrechte und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Die Hauptkritik der beiden Organisationen betrifft aber die fehlende gesetzliche Grundlage der Strategie. Denn das aus dem Jahr 1982 stammende Bundesgesetz über aussenwirtschaftliche Massnahmen dient einzig dem Schutz der Schweizer Wirtschaft und bietet daher keinen rechtlichen Rahmen für die in der Strategie in Aussicht gestellte «nachhaltige Aussenwirtschaftspolitik». Zudem gibt die Bundesverfassung, auf welche sich die neue Strategie abstützt, in der Aussenpolitik wenig inhaltliche Orientierung. Daher braucht es dringend eine Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Grundlagen in Form eines Aussenwirtschaftsgesetzes, wie es Public Eye und Alliance Sud wiederholt gefordert haben, zuletzt anlässlich der Kontroversen um mutmasslich aus Zwangsarbeit stammende Importprodukte aus der chinesischen Region Xinjiang.
Das notwendige Gesetz muss Grundsätze, Ziele und Prioritäten der Schweizer Aussenwirtschaftspolitik und besonders des Aussenhandels festlegen. Denn wie das knappe Resultat der Abstimmung zum Indonesien-Abkommen gezeigt hat, steht der Souverän bilateralen Handelsabkommen, die Menschenrechte und Umweltfragen zu wenig berücksichtigen, zunehmend kritisch gegenüber. Zudem muss ein Aussenwirtschaftsgesetz die Mitwirkungsverfahren definieren, um die in der Strategie in Aussicht gestellte «partizipative Aussenwirtschaftspolitik» auf eine solide Rechtsgrundlage zu stellen, damit die demokratische Legitimation der Handelspolitik künftig kein Lippenbekenntnis bleibt.
Weitere Informationen bei:
Thomas Braunschweig, Public Eye, +4144 277 79 11, thomas.braunschweig@publiceye.ch
Isolda Agazzi, Alliance Sud, +4121 612 00 97, isolda.agazzi@alliancesud.ch
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Glencore klagt wegen Cerrejón-Mine gegen Kolumbien
22.03.2022, Handel und Investitionen
Kaum ist die Ankündigung verhallt, aus den fossilen Energien aussteigen zu wollen, ist Glencore zum alleinigen Eigentümer des grössten Kohletagebaus in Lateinamerika geworden. Er zieht sogar gegen den kolumbianischen Staat vor Gericht.

Der Arroyo Bruno, ein Nebenarm eines sehr wichtigen Flusses in La Guajira, wurde zur Intensivierung der Kohleförderung im Steinbruch La Puente umgeleitet.
© Colectivo de Abogados José Alvear Restrepo (CAJAR)
Am 11. Januar gab Glencore, der weltweit grösste Exporteur von Kraftwerkskohle, den Kauf der Anteile von BHP und Anglo American an «Carbones del Cerrejón» bekannt, dem grössten Kohletagebau Lateinamerikas und einem der grössten der Welt. Der Rohstoffmulti aus der Schweiz machte ein Schnäppchen: Dank der gestiegenen Nachfrage und dem entsprechend hohen Kohlepreis wurde Glencore für nur 101 Millionen USD zum alleinigen Eigentümer von Carbones del Cerrejón. Die beiden anderen Unternehmen verkauften ihre Anteile auf Druck ihres Aktionariats, das sie dazu drängte, zur Bekämpfung der Klimakrise aus der umweltschädlichsten fossilen Energie auszusteigen. Glencore hingegen hat diesbezüglich keinerlei Skrupel, obwohl das Unternehmen sich verpflichtet hat, seinen Gesamtfussabdruck bis 2026 um 15%, bis 2035 um 50% und bis 2050 auf einen Betrieb mit Nullemissionen zu reduzieren.
«Die Cerrejón-Kohlemine ist schon seit so vielen Jahren in Betrieb – der Abbau begann 1985 –, dass der Machtmissbrauch und die Asymmetrie zwischen den Eigentümern, den Gemeinschaften und dem Staat umfassend dokumentiert sind. Insbesondere wurden schwere Menschenrechtsverletzungen an afro-indigenen Gemeinschaften begangen, allen voran den Wayúu», erklärt Rosa María Mateus von CAJAR, einem kolumbianischen Anwaltskollektiv, das sich seit vierzig Jahren für die Menschenrechte einsetzt.
«Carbones del Cerrejón wurde bereits in mehr als sieben Gerichtsverfahren verurteilt», fährt sie fort. «Die Sanktionen wurden jedoch nie vollstreckt, da das Unternehmen von der extremen Armut in diesen Gemeinschaften profitiert. La Guajira, wo sich die Mine befindet, ist das zweitkorrupteste Departament Kolumbiens. Die Kinder verhungern und verdursten; das Unternehmen nutzt die Situation aus und offeriert Entschädigungszahlungen, die in den Augen der Gemeinschaften ein Hohn sind. Wir müssen das Wirtschaftsmodell ändern und aus der Kohle aussteigen, um die Klimakrise zu bewältigen, unter der die Menschen in La Guajira am meisten leiden.»
Umleitung des Arroyo Bruno vom Verfassungsgericht als unzulässig erklärt
Eines der erwähnten Urteile betrifft den Arroyo Bruno, einen Nebenarm eines sehr wichtigen Flusses in La Guajira, der zur Intensivierung der Kohleförderung im Steinbruch La Puente umgeleitet wurde. Dieser Fluss ist von tropischem Trockenwald umgeben, einem stark bedrohten Ökosystem. 2017 entschied das kolumbianische Verfassungsgericht, dass bei der Genehmigung des intensivierten Kohleabbaus gewichtige soziale und ökologische Auswirkungen auf die Rechte der lokalen Gemeinschaften nicht berücksichtigt worden waren. Eine wesentliche Rolle spielte dabei, dass die unter akutem Wassermangel leidende Region besonders für den Klimawandel anfällig ist.
Das Gericht ordnete das Einstellen der Arbeiten und eine neue Folgenabschätzung an, damit die Vereinbarkeit des intensivierten Tagebaus mit dem Schutz der Rechte der Gemeinschaften beurteilt werden kann. Als Vergeltungsmassnahme verklagte Glencore Kolumbien vor dem ICSID, dem Schiedsgericht der Weltbank, und berief sich dabei auf die Nichteinhaltung des Investitionsschutzabkommens zwischen Kolumbien und der Schweiz. In seiner Klage macht der multinationale Konzern geltend, dass die Entscheidung des kolumbianischen Gerichts über den Flusslauf des Arroyo Bruno, die eine Ausweitung des Bergbaus verhinderte, eine «unvernünftige, inkohärente und diskriminierende Massnahme» sei. Bisher wurde eine Schiedsperson ernannt; mehr ist jedoch heute noch nicht bekannt, auch nicht bezüglich der von Glencore geforderten Entschädigungszahlung.
«Es ist unverschämt, dass sie für den Schaden, den sie selbst verursacht haben, entschädigt werden wollen», empört sich Rosa María Mateus. «Der Konzern behauptet, eine umweltfreundliche Politik zu verfolgen und Bäume zu pflanzen; wie wir feststellen mussten, ist das alles gelogen. Es hält sich nicht an die Umweltstandards und schafft es nicht einmal, auch nur ein Mindestmass der verursachten Schäden zu beheben. Wir konnten die Verschmutzung von Wasser und Luft und die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung nachweisen. Das sind sehr schwerwiegende Verstösse, zumal in Europa von Dekarbonisierung gesprochen wird und davon, die Kohle im Boden zu lassen.»
Mögliche Einsetzung eines Amicus Curiae
Was kann CAJAR also tun? Rosa María Mateus gibt zu, dass die Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind. Die einzige Option nennt sich Amicus Curiae und ist eine schriftliche Eingabe, die der Stimme der Gemeinschaften Gehör verschaffen kann; allerdings muss sie vom Gericht genehmigt werden. Laut Mateus bietet das Gericht jedoch keine Garantien für die Opfer, da es sich um eine Art Privatjustiz handle, die zum Schutz grosser Unternehmen geschaffen wurde.
«Wir werden es dennoch versuchen und haben gerade damit begonnen, die Argumente der Gemeinschaften zu sammeln. Anschliessend wollen wir das Amicus Curiae an befreundete Organisationen wie Alliance Sud weiterleiten, damit diese uns helfen, die Situation publik zu machen. Unternehmen haben eine grosse Medienmacht; es sind ihre eigenen Wahrheiten, die veröffentlicht werden, nicht die Tragödien der Opfer. Glencore hat in Kolumbien im grossen Stil Rohstoffe abgebaut, obwohl die Wirtschaft des Landes sehr schwach ist. Das Unternehmen stellt eine Bedrohung für die Souveränität des Staates und vor allem für die Gerichte dar, deren Zuständigkeit es anzweifelt und damit koloniale Praktiken wiederaufleben lässt.»
Dritte Klage von Glencore gegen Kolumbien
Kolumbien ist laut der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) mit einer Flut von 17 Klagen konfrontiert, wobei die letzte Klage von Glencore nicht einmal mitgezählt ist. Der Schweizer Konzern hatte 2016 erstmals einen Vertrag über die Kohlemine Prodeco angefochten und erhielt 19 Millionen USD an Entschädigungszahlungen.
Solche Klagen werden von einem Gericht beurteilt, das aus drei Schiedspersonen besteht, wovon eine vom ausländischen multinationalen Unternehmen, eine vom angeklagten Land und die dritte von beiden Parteien ernannt werden. Die Gerichte können Amicus Curiae zulassen, d.h. meist schriftliche Eingaben, die in der Regel die Ansichten der betroffenen Gemeinschaften darlegen und von NGOs eingereicht werden. Bisher wurden 85 Amicus-Curiae-Anträge eingereicht, von denen 56 zugelassen wurden. Das Investitionsschutzabkommen mit Kolumbien, auf das sich die Klage von Glencore stützt, sieht die Möglichkeit eines Amicus Curiae nicht vor. Das Abkommen wird neu verhandelt und Alliance Sud fordert, die Möglichkeit des Amicus Curiae ins neue Abkommen aufzunehmen, obwohl dies für das hängige Verfahren keine Relevanz hat.
Anwältin Rosa María Mateus wird Ende April / Anfangs Mai in der Schweiz sein, um über diesen Fall zu berichten.

© Rosa María Mateus
«Die Kinder verhungern und verdursten; das Unternehmen nutzt die Situation aus und offeriert Entschädigungszahlungen, die in den Augen der Gemeinschaften ein Hohn sind. Wir müssen das Wirtschaftsmodell ändern und aus der Kohle aussteigen, um die Klimakrise zu bewältigen, unter der die Menschen in La Guajira am meisten leiden.»
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Medienmitteilung
Schweiz blockiert Lockerung des Patentschutzes
10.06.2022, Handel und Investitionen
Die Welthandelsorganisation (WTO) steuert bei der Bewältigung der Corona-Krise auf einen grossen politischen Misserfolg zu. Zum Auftakt ihrer 12. Ministerkonferenz am Sonntag können sich die Mitgliedstaaten offenbar nicht auf die Forderung Indiens und Südafrikas einigen, die geistigen Eigentumsrechte auf Impfstoffe, Tests und Medikamente gegen Covid-19 auszusetzen. Durch ihre systematische Blockadepolitik steht die Schweiz an vorderster Front dieses multilateralen Versagens, das keine kohärente Lösung für einen gerechten Zugang zu Mitteln zur Bekämpfung von Gesundheitskrisen bietet.

© Patrick Gilliéron Lopreno
Die Welthandelsorganisation (WTO) steuert bei der Bewältigung der Corona-Krise auf einen grossen politischen Misserfolg zu. Zum Auftakt ihrer 12. Ministerkonferenz am Sonntag können sich die Mitgliedstaaten offenbar nicht auf die Forderung Indiens und Südafrikas einigen, die geistigen Eigentumsrechte auf Impfstoffe, Tests und Medikamente gegen Covid-19 auszusetzen. Durch ihre systematische Blockadepolitik steht die Schweiz an vorderster Front dieses multilateralen Versagens, das keine kohärente Lösung für einen gerechten Zugang zu Mitteln zur Bekämpfung von Gesundheitskrisen bietet.
Nächste Woche wird in Genf die Glaubwürdigkeit der WTO und ihrer Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala auf dem Prüfstand stehen. Auf der Tagesordnung der 12. Ministerkonferenz (MC12) vom 12. bis 15. Juni steht unter anderem die TRIPS-Ausnahmeregelung («TRIPS Waiver»), benannt nach dem von Indien und Südafrika im Oktober 2020 gestellten Antrag auf vorübergehende Suspendierung der Rechte an geistigem Eigentum für die Herstellung und Vermarktung von Impfstoffen, Tests und Medikamenten während Covid-19. Dieser Antrag wurde von rund 100 Ländern sowie zahlreichen internationalen Organisationen und Persönlichkeiten unterstützt, doch die Staaten, in denen grosse Pharmaunternehmen ansässig sind, darunter die Schweiz, haben ihn systematisch blockiert.
Sollte die MC12-Konferenz am Schluss doch noch eine Einigung erzielen, wird sie angesichts der letzten veröffentlichten Texte weit von einer allgemeinen Suspendierung der Rechte an geistigem Eigentum entfernt sein. Die Einigung wird höchstens auf bereits existierende Instrumente zurückgreifen, wie die Zwangslizenz, die es einem Staat ermöglicht, die Vermarktung von Generika trotz eines Patents zu erlauben. Dagegen sind andere Exklusivrechte, wie Geschäftsgeheimnisse oder der Schutz von Zulassungsdaten, nachweislich hinderlich für einen fairen Zugang und Technologietransfer. Gegen sie kann auch eine Zwangslizenz nichts ausrichten. Darüber hinaus müsste man Produkt für Produkt und Land für Land vorgehen, ganz zu schweigen vom diplomatischen und kommerziellen Druck, der mit solchen Schritten systematisch einhergeht. Das einzige Zugeständnis auf derselben Ebene wie eine Ausnahmeregelung ist die Möglichkeit für ein berechtigtes Land, einen unter Zwangslizenz hergestellten Impfstoff wieder zu exportieren, allerdings nur in sehr begrenztem Umfang.
Dieser Text wird als «Kompromiss» zwischen den Mitgliedstaaten präsentiert, während er diesen in Tat und Wahrheit von den westlichen Ländern einschliesslich der Schweiz aufgezwungen wurde. Solange es bei der MC12 nicht zu einer Kehrtwende kommt, wird er die ungleiche Verteilung der Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 nicht antasten. Erstens betrifft er nur Impfstoffe, während der Zugang zu Behandlungen und diagnostischen Tests aufgrund der Exklusivrechte von Pfizer, Roche und Co. ebenso ungleich verteilt ist. Zweitens schliesst er viele Länder aus kommerziellen oder geopolitischen Gründen von der Möglichkeit aus, ihn in Anspruch zu nehmen, obwohl die WTO-Regeln überall und ohne Diskriminierung gelten sollten. Nicht zuletzt baut er neue Hürden für die in Frage kommenden Länder auf, die diesen Mechanismus nutzen wollen, und schafft damit einen gefährlichen Präzedenzfall, der auch die Reaktion auf künftige Pandemien beeinträchtigen wird.
Ein solches Abkommen wirft ein schlechtes Licht auf westliche Länder wie die Schweiz, die von sich behaupten, die Menschenrechte – darunter das Recht auf Gesundheit – zu achten. Als Gastgeberland der MC12, das darüber hinaus seit März dieses Jahres den Vorsitz des obersten Entscheidungsgremiums der WTO innehat, verfügt die Schweiz über die notwendigen Hebel, um das Endergebnis positiv zu beeinflussen. Obwohl sie mit Impfstoffen, Behandlungen und Tests (über-)versorgt ist, zieht sie es vor, den Interessen der Pharmakonzerne den Vorrang zu geben. So können diese weiterhin darüber entscheiden, wer wie viel, wann und zu welchem Preis erhält. Covid-19 hat gezeigt, dass die WTO nicht über geeignete Regeln verfügt, um effizient auf eine globale Gesundheitskrise zu reagieren, und sie hat achtzehn Monate lang nichts unternommen, um solche Instrumente einzuführen.
Für weitere Informationen:
Isolda Agazzi, Fachverantwortliche «Handel und Investitionen» Alliance Sud, isolda.agazzi@alliancesud.ch; Tel.: +41 21 612 00 97
Patrick Durisch, Experte für Gesundheitspolitik, Public Eye, patrick.durisch@publiceye.ch, Tel.: +41 21 620 03 06
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WTO darf Entwicklungsfokus nicht aufgeben
11.12.2015, Handel und Investitionen
Alliance Sud fordert die Schweiz auf, sich an der 10. WTO-Ministerkonferenz in Nairobi für ein Resultat im Interesse der armen und ärmsten Länder einzusetzen.

Vom 15. bis 18. Dezember findet die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) erstmals in Afrika statt. Paradoxerweise könnte das 10. Gipfeltreffen in der kenianischen Hauptstadt Nairobi das Ende des Doha-Zyklus bedeuten, der die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigen sollte. Die Schweiz koordiniert eine Gruppe von Ländern mit mittleren Einkommen. Alliance Sud fordert die Schweiz auf, sich für ein Resultat im Interesse der armen und ärmsten Länder einzusetzen.
Wirtschafts-Nobelpreisträger Angus Deaton ist überzeugt, dass es gerechtere Handelsabkommen braucht, dies namentlich im Landwirtschaftsbereich, um die Entwicklungsländer aus der Armut zu führen. Doch die Welt war noch nie näher daran, genau das Gegenteil zu tun. Die WTO-Ministerkonferenz, die nächste Woche beginnt, könnte den sogenannten Doha-Zyklus definitiv beerdigen. Dieser wurde vor vierzehn Jahren lanciert, um den Welthandel zugunsten der Länder des Südens neu zu ordnen. Die Industrieländer mit den Vereinigten Staaten an der Spitze sind nur bereit, auf jene Subventionen von Agrarprodukte zu verzichten, die sie nicht mehr brauchen. Eine löbliche Ausnahme davon bilden die Schweiz und Kanada. Die Schweiz könnte also verpflichtet werden, das sogenannte «Schoggi-Gesetz» zu streichen, mit dem veredelte Agrarprodukte subventioniert werden.
Die Industrieländer sind solange zu keiner Konzession im Agrarbereich bereit, als die Entwicklungsländer kein Entgegenkommen bei den Industrieprodukten und den Dienstleistungen zeigen. Und dies obwohl die Landwirtschaft für die Entwicklungsländer zentral ist. Ihnen geht es um die Reduktion von Subventionen und von Zöllen, um eine dauerhafte Lösung in der Frage der Lagerung von Agrarerzeugnissen und den besonderen Schutzmechanismus.
Dabei gehörten zum Geist vom Doha einst die «weniger als vollständige Gegenseitigkeit» und die «besondere und differenzierte Behandlung» der Entwicklungsländer. Aber die Industrieländer, darunter die Schweiz, wollen davon nichts mehr wissen. Diese Behandlung soll nur noch für die Ärmsten (least developped countreis, LDC) gelten, denen minim entgegenkommen werden soll. Stattdessen wollen die reichen Länder im Rahmen der WTO über Themen wie Investitionen, das öffentliche Beschaffungswesen, das Konkurrenzrecht, den elektronischen Geschäftsverkehr u. ä. diskutieren.
In dieser Nord-Süd-Konfrontation reiht sich die Schweiz in den meisten Fällen unter die industrialisierten Länder ein. Als Koordinatorin einer Gruppe von mittelgrossen Ländern, den sogenannten Friends of the system, die am Fortbestehen eines multilateralen Handelssystems interessiert sind, könnte die Schweiz die Rolle einer Mediatorin spielen um entgegengesetzte Positionen zu überbrücken. Im Namen der Kohärenz ihrer Aussenpolitik sollte sich die Schweiz dafür einsetzen, die Regeln der WTO so weit wie möglich zugunsten den Entwicklungsländern zu reformieren.
Download des Positionspapiers von Alliance Sud zur WTO-Ministerkonferenz in Nairobi (auf Englisch)
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WTO: Nur Brosamen für den Süden in Nairobi
21.12.2015, Handel und Investitionen
Die 10. WTO-Ministerkonferenz bestätigt die Meinungsdifferenzen über den Doha-Zyklus zur Entwicklung. «Neue Themen» kommen auf die Agenda, die USA sind kaum zu Konzessionen bereit.

«Es gibt keine Krise, absolut nicht. Die Konferenz von Nairobi wird als jene in die Geschichte eingehen bei welcher der Graben zwischen entwickelten und sich entwickelnden Ländern zugeschüttet wurde», erklärte die die kenianische Ministerin Amina Mohammed, Präsidentin der 10. WTO-Ministerkonferenz am letzten Verhandlungstag und kündete eine Verlängerung «um ein paar Stunden» an. Daraus wurden schliesslich mehr als 24 Stunden, bis die erschöpften Delegierten eine Schlusserklärung verabschieden konnten. Diese hält fest, dass sich die WTO-Mitglieder nicht einig sind über die Zukunft des Doha-Zyklus und die «neuen Themen», welche den Industrieländern so wichtig sind. Kürzer gesagt: Der Nord/Süd-Graben ist offiziell. Eine Premiere.
Obwohl es die erste in Afrika durchgeführte Ministerkonferenz war, haben die Entwicklungsländer letztlich nicht viel davon gehabt. Es gelang ihnen zwar, den Schaden in Grenzen zu halten, doch erwartet hatten sie mehr. So ist die Schlusserklärung nur ein Kompromiss: Sie bestätigt, dass gewisse Mitglieder das Entwicklungsmandat des Doha-Zyklus anerkennen, was andere wiederum ablehnen. Und sie stellt fest, dass die Themen von Doha weiter diskutiert würden, in dem an der besonderen und differenzierten Behandlung der Ärmsten festgehalten wird.
Zwar ist es den Vereinigten Staaten nicht gelungen, die Doha-Runde offiziell zu beerdigen, die vor 14 Jahren gestartet wurde, um die Regeln des internationalen Handels auch im Interesse der Länder des Südens auszugestalten. Obwohl genau das von Beginn weg die Absicht der USA war. Aber die gewundene juristische Formulierung der Schlusserklärung öffnet kreativen Interpretationen Tür und Tor. Es wird darum an den Entwicklungsländern und den NGO liegen, dass Doha nicht zur reinen Rhetorik verkommt. Sicher ist hingegen, dass die heutige Architektur des Zyklus definitiv vom Tisch ist. Diese hatte besagt: Nichts ist verhandelt, wenn nicht alles fertig verhandelt ist.
Bereits begonnen haben die WTO-Mitglieder damit, sich über andere Themen zu verständigen, namentlich über die Abschaffung von Exportsubventionen für Agrarprodukte. Die Schweiz hat Zeit bis 2020, um das Schoggi-Gesetz abzuschaffen, in dem das Schweizer Parlament noch letzte Woche zusätzliche 95 Millionen Franken Subventionen für verarbeitete Landwirtschaftsprodukte festgeschrieben hat. Das erlaubt Nestlé, Toblerone, Kambly u.a. die höheren Kosten für Schweizer Milch und Getreide in Biscuits, Schokolade und Suppen mit Bundesgeldern zu kompensieren. Indien wurde in Sachen Exportsubventionen ein Aufschub bis 2023 gewährt. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union verwenden zwar keine solche Subventionen mehr, sie brauchen jedoch ähnliche Massnahmen. Bei diesen hat Washington minimale Zugeständnisse gemacht hat: Auf Exportkredite gilt neu eine maximale Laufzeit von 18 Monate und Nahrungsmittelhilfe darf nicht mehr zum Abbau von Agrarüberschüssen verwendet werden. Die Schweiz hat in den Verhandlungen ihren Teil zu diesem Ergebnis beigetragen, was sich nicht von allen Industrieländern sagen lässt. Exportsubventionen in all ihren Formen sind im globalen Handel das schädlichste aller Werkzeuge, denn sie führen auf den Märkten der armen Länder zu Dumpingpreisen. Der Hauptfortschritt für die ärmsten Länder (least developped countries) betrifft den Entscheid, dass die Regeln zur Herkunftsbezeichnung vereinfacht werden. Die Schweiz muss dies innerhalb eines Jahres tun.
In zwei zentralen Punkten, die vor allem Indien und eine Mehrheit der Entwicklungsländer betreffen, wurden keine Entscheidungen getroffen und die Diskussionen werden am WTO-Sitz in Genf weitergeführt werden müssen: Zum einen die Umsetzung des speziellen Schutzmechanismus, der es erlauben soll, temporär die Zölle auf gewisse Landwirtschaftsprodukte zu erhöhen und zum anderen der Fortbestand von Nahrungsmittellagern zur Sicherung der Ernährungssicherheit.
Schliesslich hält die Schlusserklärung fest, dass einige Mitglieder beginnen wollen über andere Themen zu diskutieren. Was andere wiederum ablehnen. Um neue Verhandlungen zu eröffnen braucht es in der WTO jedoch Einstimmigkeit. Bei diesen Themen handelt es sich um solche, auf welche die Industrieländer Wert legen, namentlich die Investitionen und das Recht auf Wettbewerb. Konkret geht es dabei um Regeln, die es multinationalen Unternehmen erleichtern sollen, in Entwicklungsländern Fuss zu fassen. Und zwar ohne dass die Gastländer mit nationalen Gesetzen und Auflagen regulierend eingreifen können. Firmen, die investieren wollen, sollen ein Mitspracherecht haben, wenn neue nationale Gesetze formuliert werden. Seit der Ministerkonferenz von 2003 in Cancun haben sich die Entwicklungsländer immer gegen diese Themen gewehrt. Und auch hier gilt: Die ambivalente juristische Formulierung des Texts ist ein Vorbote auf kommende Auseinandersetzungen in der WTO.
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Untauglicher Ersatz für das Schoggigesetz
18.01.2017, Handel und Investitionen
Exportsubventionen der Schweizer Landwirtschaft sind nicht mehr WTO-konform. Die Schweiz muss das sogenannte Schoggigesetz streichen. Der bundesrätliche Vorschlag dazu ist aus entwicklungspolitischer Sicht allerdings unbrauchbar.

© Daniel Hitzig/Alliance Sud
Download der Alliance Sud-Vernehmlassung (auf französisch).
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Ja zur Globalisierung, aber einer gerechten!
24.03.2017, Handel und Investitionen
Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten setzt einer Entwicklung die Krone auf: Immer mehr Menschen in den Industrieländern halten die Globalisierung für verfehlt. Hat damit die progressive «Globalisierungskritik» gewonnen? Eine Analyse.

Unvollendete Grenzbefestigung im Bundesstaat Arizona an der Grenze zwischen den USA und Mexiko.
© Keystone/Laif/Stefan Falke
Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 hat sich die öffentliche Meinung gegenüber der Globalisierung in den Industrieländern zunehmend verschlechtert. Genauer: gegenüber jenem neoliberalen Globalisierungsmodell, das seit gut 30 Jahren verfolgt wird. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Kritik daran 1999 in Seattle mit den Protesten gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Das Motto der KritikerInnen lautete: «Eine andere Welt ist möglich». Inzwischen, so scheint es, ist die Kritik alternativer Kreise Mainstream geworden. Und seit sich der neue US-Präsident für die handelspolitische Abschottung ausspricht, fragen BeobachterInnen die Nichtregierungsorganisationen wie Alliance Sud, welche die neoliberale Globalisierung schon immer kritisierten, habt ihr jetzt gewonnen?
Die Antwort muss ambivalent ausfallen: ja und nein. Ja, weil die aktuelle Infragestellung der bisherigen Globalisierungspolitik durchaus etwas Heilsames hat. Nein, weil der neue Protektionismus der Industrieländer, mit dem gewisse westliche PolitikerInnen das Freihandelsdogma ersetzen wollen, ein untaugliches Mittel ist, um für eine gerechte Welt zu sorgen.
Alliance Sud war nie und ist nicht gegen Globalisierung an und für sich, sondern gegen die Art und Weise, wie bis heute globalisiert wird. Seit der Gründung der WTO 1995 haben die industrialisierten Länder den freien Kapital- und Güterverkehr, jenen der Technologie und der wichtigsten Dienstleistungen durchgesetzt; und zwar überall dort, wo sie über den komparativen Vorteil verfügten. Gleichzeitig haben sie sich geweigert, ihre Grenzen für Landwirtschaftsprodukte und für weniger qualifizierte Arbeitskräfte zu öffnen, wovon namentlich die Entwicklungsländer hätten profitieren können. Was die Liberalisierung bei Industrieprodukten betrifft, wurden sie auf dem falschen Fuss erwischt: Sie hatten nicht vorausgesehen, dass China und andere Schwellenländer so rasche Fortschritte machen würden.
Eine Globalisierung zu Gunsten der Multis
Von dieser hochgradig selektiven Öffnung der Märkte konnten vor allem multinational operierende Firmen profitieren. Viele andere Unternehmen, in den Entwicklungsländern ebenso wie in den industrialisierten, blieben auf der Strecke. Dabei wurde die Ungleichheit gefördert – die acht reichsten Menschen besitzen heute so viel wie die 50 Prozent der Ärmsten auf der Welt. Die Multis organisieren ihre Produktion entlang globaler Wertschöpfungsketten, sie betreiben ihre Geschäfte dort, wo ihre Gestehungskosten (Löhne, Steuern, etc.), die Preise für Rohstoffe am niedrigsten und der Verkauf ihrer Produkte für sie am attraktivsten ist. Die mächtigsten Multis stammen aus den Industriestaaten, neuerdings auch aus einigen Schwellenländern. Die ärmsten Länder dagegen finden sich am Ende dieser Produktionskette.
Der internationale Handel ist zweifelsohne ein zentraler Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung. Aber die Regeln der Handels- und Investitionsabkommen spielen die Arbeitenden der ganzen Welt gegeneinander aus, sie sorgen für einen Abwärts-Wettlauf (race to the bottom), der Arbeitsplätze und gewachsene Strukturen zerstört. Gewiss, US-amerikanische Firmen haben in Mexiko neue Arbeitsplätze geschaffen, doch diese sind in der Regel schlecht bezahlt und prekär. Ganze Dörfer wurden umgesiedelt, um Platz für industrielle Grossprojekte zu machen. Traditionelle Anbauflächen mussten exportorientierter Agroindustrie weichen, Kleinbauern wurden durch den Import von hochsubventioniertem US-Mais aus dem Markt gedrängt.
Der Verlust von Arbeitsplätzen traf aber auch US-amerikanische Arbeitnehmende. Wer etwa in der Automobilindustrie seinen Job verlor, konnte nicht einfach eine Stelle mit hochqualifizierter Arbeit annehmen, wie sie etwa im Silicon Valley neu geschaffen wurde. Dieser globale Wettbewerb unter Volkswirtschaften und deren Arbeitsnehmenden, die ganz verschiedene Sozial- und Lohnsysteme kennen, hat zu Spannungen und Verwerfungen geführt, welche die Politik viel zu lange ignoriert hat. Heute bilden sie den Nährboden eines Populismus, der sich wie ein Flächenbrand ausbreitet.
Doch eine Rückkehr zum Protektionismus, wie sie Donald Trump vertritt – indem Importe besteuert, Exporte und die Wiederansiedlung von abgewanderter Produktion in den USA gefördert werden sollen –, wäre eine Katastrophe, für die US-Wirtschaft ebenso wie für die Entwicklungsländer, die einen wichtigen Markt verlören. Es sei denn, ein Land wie Mexiko führe rasch eine Wirtschaftspolitik ein, welche die Exportabhängigkeit einschränken und mehr auf Binnenkonsum setzen würde, indem nationale Investitionen und die Kaufkraft forciert würden. Das ist genau, was China zurzeit tut. Wer die Mindestlöhne anhebt, den bestrafen die Investoren aber damit, dass sie einfach weiterziehen. Das ist die Logik des freien Kapitalverkehrs, wie ihn die Handelsabkommen vorsehen.
Ungenügende staatliche Umverteilungspolitik
Schon 2005 – drei Jahre vor Ausbruch der Finanzkrise – hatte Nobelpreisträger Joseph Stiglitz festgestellt, dass «die Liberalisierung des Handels seine Versprechen nicht gehalten hat». Er ergänzte jedoch, dass «die dem Handel zugrunde liegende Logik – namentlich das Potential zu haben, Lebensbedingungen einer Mehrheit, wenn nicht gar aller Leute, zu verbessern» intakt bleibe. Aber damit das auch zutreffe, gelte es erst einmal zu anerkennen, dass Freihandel nicht automatisch Wachstum nach sich ziehe – so wie es dessen Apologeten behaupten – und vor allem, dass nicht automatisch rundum alle von dessen Vorteilen profitierten, so wie es der überstrapazierte Trickle down-Effekt weismachen wolle.
Stiglitz weiter: In den industrialisierten Ländern gelte es, die Kosten und die Gewinne gerechter zu verteilen, indem Erträge progressiv besteuert werden. Es brauche eine wirksamere soziale Abfederung für Personen, die ihre Stelle in einem nicht mehr wettbewerbsfähigen Sektor verlieren, um einen neuen Job finden zu können. Es brauche eine Politik, die für höhere Löhne sorgt – namentlich einen Mindestlohn, der etwa in den USA seit Jahren nicht mehr angehoben wurde. Globalisierung werde nie funktionieren, wenn sie darauf basiere, dass die Arbeitnehmenden sich mit Lohnverzicht einverstanden erklären müssten, um ihre Arbeit nicht zu verlieren. Löhne könnten nur steigen, wenn auch die Produktivität zunimmt, dafür aber brauche es Investitionen in Bildung und Forschung. Unglücklicherweise, hält Stiglitz fest, passiere in vielen Industrieländern und vor allem in den USA exakt das Gegenteil: Die Steuern sind regressiver geworden, das soziale Netz sei geschwächt worden und die Ausgaben für Wissenschaft und Technologie seien im Verhältnis zum Nationaleinkommen rückläufig. «Diese Politik führt dazu, dass sogar in den Vereinigten Staaten und in vielen Industrieländern, die doch eigentlich zu den potentiellen Gewinnern der Globalisierung gehören, immer mehr Leute finden, es gehe ihnen wegen der Globalisierung schlechter als vorher», schliesst er.
Fair trade statt free trade
Alliance Sud, wie andere NGOs, die sich für einen radikalen Paradigmenwechsel einsetzen, verlangt ein Handelssystem, das den Menschenrechten und dem Schutz der Umwelt Priorität einräumt. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die durch ein aggressives liberales Handelsregime bedroht werden, müssen geschützt werden. So bedroht etwa der Schutz des geistigen Eigentums, wie er in Handelsabkommen stipuliert wird, das Recht auf Nahrung, indem der Zugang zu Saatgut für Kleinbauern eingeschränkt wird; das Recht auf Gesundheit ist bedroht, indem die Produktion von Generika eingeschränkt wird. Die Liberalisierung der Dienstleistungen könnte zu einer Privatisierung des staatlichen Service public im Gesundheits- und im Bildungswesen führen und die Menschenrechte jener bedrohen, die sich die verteuerten Dienstleistungen nicht mehr leisten können.
Insbesondere die Staaten der Entwicklungsländer brauchen mehr policy space, das heisst Spielraum, um ihre je eigene nationale Wirtschaftspolitik zu definieren. Das ist genau das Gegenteil dessen, was die WTO, vor allem aber Freihandelsabkommen und die Megadeals TISA, TTIP, TPP und CETA anstreben: Diese zielen darauf, Zölle auf Agrar- und Industrieprodukte weiter zu senken. Das setzt die nationale Produktion ohne jeglichen Schutz der internationalen Konkurrenz aus, vor allem gilt das für verletzliche Sektoren oder eine Industrieproduktion, die sich erst im Aufbau befindet. Ausländische Investoren verfügen über mehr Rechte als nationale, namentlich wegen der oft kritisierten Streitschlichtungsmechanismen zwischen Investoren und Staaten. Diese Megadeals sehen vor, Dienstleistungen durch «Vereinfachung» von Regeln, die als Handelshemmnisse betrachtet werden, zu liberalisieren. Das bedroht den Service public, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen und den KonsumentInnenschutz. Sie erlauben ausländischer Konkurrenz in Wettbewerb zu treten mit staatlichen Unternehmen. Also auch jenen, die von den Staaten dafür benötigt werden, um ihre eigene Entwicklung nach ihrem Gutdünken zu steuern oder die sie für strategisch wichtig halten.
Es kann darum nicht erstaunen, dass es der Öffentlichkeit nicht mehr gelingt, den Unterschied zwischen für beide Seiten profitablem Handel und ungerechten Handelsabkommen zu machen und das beides gleichzeitig verteufelt wird. Dabei könnten alle von gerechtem Handel und einer gerecht organisierten Globalisierung profitieren.

© Keystone/Epa/Phil Magakoe
Globalisierung: Das sagt die Forschung
Mark Herkenrath Mit den Folgen der Globalisierung des Welthandels setzt sich unter anderen die Wirtschafts- und Entwicklungssoziologie auseinander. Die wichtigsten Befunde, kurz gefasst.
Verschiedene Länder – insbesondere in Asien, allen voran China, aber auch Malaysia oder Vietnam – haben in den letzten beiden Jahrzehnten stark von einem exportgetriebenen Wirtschaftswachstum profitiert. Nur: Im Durchschnitt haben die Schwellen- und Entwicklungsländer seit dem Jahr 2000 doch keinen grösseren volkswirtschaftlichen Erfolg gehabt als in den 1960er und 1970er Jahren, also bevor die letzte Globalisierungswelle beim Handel und den Investitionsflüssen einsetzte. Dafür litten die stark exportorientierten Länder besonders stark unter den Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008. Sie sind also ausserordentlich anfällig für extern verursachte Probleme. Auch wiesen sie in der Zeit vor der Krise nicht generell mehr Wachstum auf als weniger exportabhängige Länder. Die bisher dominante neoliberale Spielart der Globalisierung hat den ärmeren Ländern also keine grossen Wachstumsvorteile verschafft.
Dafür hat sich seit der Hochblüte des Neoliberalismus zu Beginn der Nullerjahre die Einkommensungleichheit in diesen Ländern noch verschärft, wenngleich mit grossen regionalen Abweichungen von dieser Tendenz. In vielen Entwicklungsländern haben nur die Eliten von der Globalisierung profitiert, in anderen haben sie mehr profitiert als der Rest der Bevölkerung.
Notabene findet sich in der wissenschaftlichen Literatur kaum eine Studie, die zum Ergebnis kommt, dass der internationale Handel die Einkommensungleichheit in den Entwicklungsländern reduziert hätte. Verschiedene Untersuchungen finden bestenfalls gar keinen Zusammenhang zwischen Handel und Ungleichheit, andere weisen dem Handel einen ungleichheitsfördernden Effekt nach. Hochinteressant ist aber eine Untersuchung, die zwischen Süd-Süd-Handel und Süd-Nord-Handel unterscheidet: Sie kommt zum bemerkenswerten Schluss, dass der Handel zwischen Entwicklungsländern die Ungleichheit senkt, wohingegen der Handel mit Industrieländern die Ungleichheit in den Entwicklungsländern erhöht. Den ärmeren Ländern wird hier denn auch eine Verstärkung des regionalen Handels mit anderen Entwicklungsländern empfohlen.
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Die WTO und die vierte industrielle Revolution
30.11.2017, Handel und Investitionen
An der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Buenos Aires wird u.a. über Liberalisierung des elektronischen Handels diskutiert. Der digitale Nord-Süd-Graben droht sich noch weiter zu vertiefen. Die Alliance Sud-Position.

Download des Alliance Sud-Positionspapiers (englisch / französisch)
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Medienmitteilung
Alliance Sud an der WTO-Ministerkonferenz
07.12.2017, Handel und Investitionen
Sei es die Liberalisierung des E-Commerce oder der Abbau von Agrarsubventionen: Die Positionen von Nord und Süd stehen sich an der WTO-Ministerkonferenz vom 10.-13. Dezember diametral gegenüber. Alliance Sud ist in Buenos Aires präsent.

Für die WTO steht bei dieser 11. Ministerkonferenz Einiges auf dem Spiel. Die USA, welche zwar am WTO-Sekretariat in Genf nach wie vor keinen Botschafter stellen und die Neubesetzung von drei WTO-Richterstellen in der Berufungsinstanz blockieren, haben bereits klargemacht, dass sie ein Resultat der Konferenz verhindern wollen. Ausserdem hat die argentinische Regierung zehn Tage vor Konferenzbeginn die Akkreditierung von mehr als sechzig zivilgesellschaftlichen Organisationen widerrufen. NGO-VertreterInnen aus Entwicklungsländern haben schon gar keine Visa erhalten. Das sind schlechte Vorzeichen.
Dabei geht es inhaltlich um sehr viel. Die EU drängt zusammen mit der Schweiz auf eine Verhandlungsgruppe zur Liberalisierung des elektronischen Handels. Zwar soll sich diese zunächst nur harmlosen technischen Fragen widmen (z. B. dem Umgang mit elektronischen Unterschriften oder Zahlungen). Längerfristig jedoch geht es um den grenzüberschreitenden Datenhandel und damit auch um die Macht grosser IT-Unternehmen des Nordens und die Zementierung handelspolitischer Dominanz der Industriestaaten.
Auch im Dienstleistungssektor ist die Schweiz bereit, die Möglichkeiten innerstaatlicher Regulierungen einzuschränken; ganz im Gegensatz zu den Entwicklungsländern. Sie brauchen den nötigen politischen Handlungsspielraum, um die öffentlichen Dienste mit eigenen Massnahmen entwickeln zu können. Doch bereits steht die Drohung im Raum, die Verhandlungen unter einzelnen Ländern auf plurilateraler Ebene weiterzuführen, sollte es in diesen beiden Dossiers zu keiner Einigung kommen.
Für die Entwicklungsländer die vordringlichste Frage ist allerdings die seit Jahren hängige Forderung an die Industrieländer, ihre marktverzerrenden internen Stützungen im Agrarsektor abzuschaffen. Diese haben massive negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft des Südens. Was die Schweiz angeht, stuft die WTO Agrarstützungen des Bundes von rund 2 Milliarden Franken pro Jahr als wettbewerbsverzerrend ein. Mit einem Taschenspielertrick hat das Parlament nun diesen Betrag noch erhöht. Es entschied am Mittwoch, das nicht mehr WTO-konforme «Schoggi-Gesetz» – es verbilligt Schweizer Zutaten von exportierten Nahrungsmitteln auf ein konkurrenzfähiges Niveau – mit WTO-konformen Massnahmen zugunsten der Milch- und GetreideproduzentInnen zu ersetzen. So löst die eine Subvention die andere ab.
Isolda Agazzi, Expertin in internationalen Handelsfragen bei Alliance Sud, wird vom 8.–14. Dezember in Buenos Aires präsent sein:
Mail: isolda.agazzi@alliancesud.ch / Téléphone: +41 (0)79 434 45 60
Siehe auch das entsprechende Positionspapier von Alliance Sud (in Französisch und Englisch verfügbar).
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