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Gemeinsam gegen China – und die Ärmsten

10.12.2018, Handel und Investitionen

Von Donald Trump unter Druck gesetzt drängt auch die EU auf eine radikale Reform der Welthandelsorganisation WTO. Im Visier ist der locker Umgang Chinas mit WTO-Regeln. Kommt die Reform, so könnte sie auch den Entwicklungsländern schaden.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Gemeinsam gegen China – und die Ärmsten

Chinesische Arbeiter überprüfen Elektroautos im Werk des chinesisch-amerikanischen Joint Ventures SAIC-GM-Wuling in Qingdao, Shandong Provinz, VR China.
© Yu Fangping / Imaginechina / Keystone

Um den rasanten Aufstieg Chinas zur Welt(handels)macht einzudämmen, wollen nicht nur die USA, sondern auch die EU die Welthandelsorganisationen (WTO) in ihrem Sinn reformieren. Die große Gefahr besteht allerdings darin, dass die vorgeschlagenen Reformen auch für jene armen Länder gelten werden, die auf Technologietransfer und die Subventionierung ihres Industriesektors angewiesen sind. Arme Staaten, die eine umsichtige Entwicklungspolitik verfolgen, müssen sensible Sektoren schützen können und über staatliche Unternehmen verfügen, die einer sinnvollen Industriepolitik verpflichtet sind. Und sie müssen als Entwicklungsländer zurecht bevorzugt behandelt werden. Doch die einseitig auf China fixierte Reform der WTO droht, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Doch gehen wir der Reihe nach.

Nachdem er zunächst die Ernennung neuer Richter für das Berufungsorgan der Welthandelsorganisation blockiert hatte, drohte Präsident Trump am 30. August gar, die USA werde die WTO verlassen. Und dies, obwohl seit einiger Zeit drei Arbeitsgruppen an einer Reform der Organisation arbeiten, die Antworten auf die wichtigsten US-Kritikpunkte geben soll. Am 18. September hat schliesslich die Europäische Union ein «Konzeptpapier» zu einer Reform der WTO vorgelegt. Die Europäische Kommission hält darin klar fest, dass das multilaterale Handelssystem in der schwersten Krise seiner Geschichte stecke, und packt den Stier bei den Hörnern: Sie prangert die angeblich unlauteren Praktiken Chinas an, ohne den asiatischen Riesen je zu nennen.  

An erster Stelle steht dabei die heikle Frage des erzwungenen Technologietransfers. Die USA haben immer wieder ins Feld geführt, dieser sei einer der Hauptgründe dafür, dass sie Zölle in Höhe von rund 250 Mrd. Dollar auf chinesische Waren eingeführt hätten, und sie drohen damit, die Zölle um weitere 267 Mrd. Dollar zu erhöhen.

Tatsächlich haben auch mehrere unabhängige Beobachter1 festgestellt, dass China von ausländischen Investoren verlangt, strategisch wichtige Technologien und Innovationen auf eine chinesische Tochterfirma zu übertragen, bevor es den Zugang zu seinem riesigen Markt öffnet. Nach offiziellen US-Studien verlieren amerikanische Patentinhaber durch diesen erzwungenen Technologietransfer und den schwachen Schutz ihres geistigen Eigentums in China Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Milliarden Dollar. Wie gehen die Chinesen dabei vor? Sie zwingen multinationale Unternehmen, die in bestimmten Sektoren investieren wollen, zur Gründung von Joint Ventures mit lokalen Unternehmen, über die sie keine Kontrolle haben. So ist es beispielsweise in der Automobilindustrie geschehen, womit es chinesischen Herstellern gelingen könnte, an die erforderliche Technologie zur Produktion von Elektroautos zu kommen.

Pomodori – made in China

Für ausländische Investoren wird das spätestens dann zum Problem, wenn chinesische Unternehmen nicht nur auf ihrem Markt, sondern auch international zu ernsthaften Konkurrenten werden. Dies ist die bittere Erfahrung italienischer Hersteller von Tomatenmark: Ende der 1990er Jahre begannen sie mit dem Anbau von Tomaten und der Herstellung von Konzentrat in Xinjiang, der autonomen Region mit muslimischer und turksprachiger Mehrheit im Westen Chinas. Peking ist dort seit den 1950ern militärisch präsent, um die dort ansässigen Uiguren mit umstrittenen Methoden an den Rest Han-Chinas zu assimilieren. Die Italiener stellten stark subventionierten chinesischen Staatsunternehmen, bekannt für unterbezahlte Arbeit und Kinderarbeit, ihre Technologie und ihr Know-how zur Herstellung von Tomatenmark zur Verfügung, das sie schliesslich nach Italien reimportierten. Aber wie Frankensteins Monster wandte sich die Idee, im Billiglohnland zu investieren, schliesslich gegen die Italiener: Die Chinesen begannen, ihr Tomatenmark nicht nur nach Italien, sondern in die ganze Welt zu exportieren und in unlauterer Weise mit ihren italienischen Mentoren zu konkurrieren. Das Problem ist, dass «erzwungener Technologietransfer» schwer nachzuweisen ist, denn weder geben Unternehmen gerne zu, dass sie unter Druck gesetzt wurden, noch dass sie sich freiwillig bereit erklärt haben, Geheimnisse preiszugeben, um Marktanteile zu gewinnen. Denn ex-post ist klar, sie hätten sie lieber für sich behalten.

Staatliche Unternehmen

Erschwerend kommt hinzu, dass in China viele strategisch wichtige Branchen weitgehend von staatlichen Unternehmen dominiert werden. Dazu gehören Verkehr, Telekommunikation, Elektrizität, Fluggesellschaften oder Medikamente. Die CEOs dieser Unternehmen werden von der Kommunistischen Partei ernannt und die Entscheidungen, die sie treffen, dürften den Interessen des Landes – etwa auf dem Weg zum Bau eines chinesischen Passagierflugzeugs – mehr dienen als kurzfristigen kommerziellen Interessen. Aber selbst in sogenannt offenen Sektoren können ausländische Unternehmen unter Druck gesetzt werden, Technologie zu transferieren; dann wenn es um die notwendigen Bewilligungen geht, was sich auf lokaler Ebene oft schwierig gestaltet und undurchsichtig gehandhabt wird.
In ihrem «Konzeptpapier» vertritt die Europäische Kommission die Ansicht, dass die WTO neue Regeln benötige, um den Marktzugang für ausländische Investoren zu bisher geschlossenen Sektoren zu verbessern. Und auch um Praktiken zu verbieten, die als «diskriminierend» eingestuft werden. Dazu gehören etwa Auflagen, die von einem ausländischen Investor verlangen, vor Ort Vorleistungen zu erbringen, einen lokalen Dienstleister in Anspruch zu nehmen oder lokale Arbeitskräfte einzustellen.

Darüber hinaus erhalten die staatlichen Unternehmen in China häufig Subventionen; das ist gemäss WTO-Regeln zwar verboten, es wird jedoch nicht angemeldet und damit geduldet, so wie das auch die Hälfte aller WTO-Mitglieder handhaben. Darüber hinaus ist der Grad der staatlichen Einmischung in diese Unternehmen schwer zu messen. Die EU schlägt hier Klärung vor, sie will die Transparenz verbessern und strengere Kriterien durchsetzen, damit Überproduktion vermieden werden kann, die zu sinkenden Preisen auf den internationalen Märkten führt und den Wettbewerb verzerrt.

Was heisst das für Entwicklungsländer?

Im Visier der Vereinigten Staaten – und im Papier der Europäischen Kommission – steht auch das Dauerthema, wie mit den Entwicklungsländern umzugehen sei. Mit Ausnahme der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) – eine von den Vereinten Nationen definierte Kategorie, die derzeit 47 Länder umfasst – klassifizieren sich die WTO-Mitglieder selbst als Industrie- oder Entwicklungsländer. Letztere profitieren von einer besonderen und differenzierten Behandlung, der Erlaubnis höhere Zölle zu erheben und längeren Anpassungszeiten. Die Selbstdeklaration hat dazu geführt, dass heute zwei Drittel aller Mitglieder zu dieser Kategorie gehören und dass diese so unterschiedliche Länder wie die Elfenbeinküste, Südkorea und China umfasst. Dieses System wird von den Industrieländern zunehmend in Frage gestellt und die Europäische Kommission schlägt vor, dass Länder ihren Vorzugsstatus freiwillig aufgeben oder dass es eine andere Form der Abstufung geben soll. 

Diese Reformvorschläge sind ebenso radikal wie verblüffend. Gerade weil China eine Wirtschaftspolitik verfolgt hat, die teilweise im Widerspruch zu den WTO-Regeln steht, ist es zur zweitgrößten Macht der Welt geworden. China beschafft sich auf irreguläre Art Zugang zu Technologie, es schützt sensible und nicht wettbewerbsfähige Industriesektoren, begrenzt ausländische Investitionen in strategischen Sektoren, subventioniert staatliche Unternehmen, schreibt Leistungsziele vor und profitiert darüber hinaus auch noch von seinem Status als Entwicklungsland. Das hat in den letzten Jahren dermassen gut funktioniert, dass Chinas Wachstum heute beängstigende Dimensionen angenommen hat. Was jedoch nicht vergessen gehen darf: China hat in den letzten Jahren vorgemacht, dass eigene Entwicklung vor allem dann möglich ist, wenn die von den alten Handelsmächten dominierten Regeln umgangen werden.

1 Siehe hierzu namentlich das Peterson Institute for International Economics

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Welthandelsorganisation entdeckt die Frauen

25.03.2019, Handel und Investitionen

Die Welthandelsorganisation WTO gibt sich frauenfreundlich. Doch ein genauer Blick auf die Erklärung zu Frauen und Handel zeigt: Im Vordergrund steht eine Art Pink washing, eine plumpe Imagekorrektur.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Welthandelsorganisation entdeckt die Frauen

© Isolda Agazzi

Im Dezember 2017 verabschiedeten 121 WTO-Mitglieder auf der Ministerkonferenz von Buenos Aires eine Erklärung über Handel und wirtschaftliche Selbstbestimmung von Frauen. Sie zielt darauf ab, die Beteiligung von Frauen am internationalen Handel durch Stärkung des Unternehmertums von Frauen zu erhöhen. NGOs regierten auf diese Premiere in der Geschichte der Organisation mit dem Vorwurf, die WTO wolle sich aus Imagegründen ein grünes Mäntelchen umhängen. 200 feministische und verbündete Organisationen aus der ganzen Welt sehen in der Erklärung ein durchsichtiges Manöver, um den Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter zu instrumentalisieren und das neoliberale Modell zu stärken. «Wir werden nicht zulassen, dass Frauen als trojanisches Pferd benutzt werden, um ein System zu erweitern, das ihr Leben und das Leben von Kindern, Bauern, Arbeitern und den Planeten zerstört!», sagte die indische Umweltaktivistin Vandana Shiva. «Die von der WTO angeführten Liberalisierungen haben die Löhne und Arbeitsnormen auf ein historisch niedriges Niveau gedrückt und ausländischen Investoren ermöglicht, Frauen als flexible und billige Arbeitskräfte auszubeuten», ergänzt Joms Salvador von Gabriela, der philippinischen Frauenallianz.

Als Reaktion auf diese "falsche gute Idee" haben sich NGOs aus der ganzen Welt, darunter Alliance Sud, zu einer Gender and Trade-Koalition zusammengeschlossen, deren Unity statement einen ganz anderen Ton als die WTO anschlägt. Die Koalition versteht sich als feministische Allianz zur Handelsgerechtigkeit, um die negativen Auswirkungen von Handelsregeln auf die Rechte der Frauen anzugehen und politische Antworten zu entwickeln, die sich mit den strukturellen Ursachen der Verletzung der Menschenrechte von Frauen befassen. Kurz gesagt: Es geht darum aufzuzeigen, dass Handelspolitik nicht geschlechtsneutral ist. Denn Frauen sind nicht nur Unternehmerinnen, sondern u.a. auch jene Arbeitnehmerinnen, die am meisten unbezahlte Arbeit verrichten. Deregulierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen untergraben ihre Rechte. Daraus erwächst die Forderung, den Wettbewerb durch Kooperation, Wachstum durch nachhaltige Entwicklung, Verbrauch durch Schonung der Ressourcen, Individualismus durch das Gemeinwohl und das Diktat des Marktes durch partizipative Demokratie zu ersetzen.

Seit der Annahme der Erklärung von Buenos Aires hat die WTO Seminare über Handel und Geschlechterfragen organisiert, so etwa Anfang Dezember letzten Jahres in Genf. Die  Gender and Trade Coalition beschwerte sich in einem offenen Brief, dass sie nicht zu Wort gekommen sei. Am Seminar legte eine Vertreterin der Weltbank dar, dass exportierende Unternehmen, die in globale Wertschöpfungsketten integriert sind, proportional mehr Frauen beschäftigen. Gleichzeitig räumte sie ein, dass «die meisten der von uns verwendeten Geschäftsmodelle davon ausgehen, dass es Vollbeschäftigung gibt, dass im informellen Sektor niemand beschäftigt ist und dass Frauen leicht von einem Sektor zum anderen wechseln können. Und wir wissen sehr wohl, dass diese Annahmen nicht zutreffen.» Eine Vertreterin des Internationalen Arbeitsamts (BIT) wies darauf hin, dass Frauen hauptsächlich in Sektoren arbeiten, die gar nicht von tieferen Zöllen profitiert haben – sowohl in Indien als auch in den Industrieländern. Die zentrale Frage, ob Handel geschlechtsneutral sei, wurde ebenso zustimmend wie vehement ablehnend beantwortet.

Schlecht bezahlte Jobs für Unqualifizierte

Immer mehr – nämlich 60 – der weltweit mehr als 500 Freihandelsabkommen (FHA) enthalten heute geschlechtsspezifische Bestimmungen. Die meisten betreffen die Zusammenarbeit der Geschlechter, andere deren Gleichstellung, internationale Gender-Instrumente oder nationale Gender-Politiken. Im Streitfall sieht jedoch nur gerade das FHA zwischen Kanada und Israel die Nutzung des Streitbeilegungsmechanismus vor; drei weitere sehen Konsultationen vor. Alle anderen, darunter sämtliche Freihandelsabkommen der Schweiz, enthalten keine spezifische Bestimmung zu Fragen des Geschlechts.  

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht schreibt die Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD), «dass der regionale Integrationsprozess zwischen den Mitgliedern des Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) die Ungleichheit der Geschlechter nur geringfügig verringert hat.» Zwar habe die Öffnung des Handels neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen geschaffen, die  meisten dieser neuen Arbeitsplätze seien jedoch schlecht bezahlt und für gering Qualifizierte.  Wirtschaftlich gestärkt würden Frauen erst dann, wenn die Region weniger von Landwirtschaft und Bergbau abhängig wäre. Die Mercosur-Staaten wären damit auch weniger anfälliger für externe Schocks und eher in der Lage, hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen.

Zur Erinnerung: Die Schweiz ist daran, ein FHA mit dem Mercosur auszuhandeln. Zu den von Alliance Sud geforderten Folgeabschätzungen eines solchen Abkommens gehört auch, dass dessen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Stärkung der Frauen untersucht wird.

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Reform der WTO: In wessen Interesse?

20.04.2019, Handel und Investitionen

Die USA werfen China vor, die WTO-Regeln zu verletzen. Mit der Unterstützung aller «entwickelten» Länder, darunter auch der Schweiz, fordern sie eine Reform. Alliance Sud fordert, dass dies nicht zum Nachteil der armen Länder geschehen darf.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Reform der WTO: In wessen Interesse?

Download des Positionspapiers von Alliance Sud (in Französisch)

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Russland: die Sanktionen auf dem Prüfstand

21.06.2022, Handel und Investitionen

Die Sanktionen gegen Russland gelten als einzige nicht-militärische Möglichkeit, das Kriegsende herbeizuführen. Doch sie werfen viele Fragen auf: Worauf zielen sie ab? Und wie wirksam sind sie?

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Russland: die Sanktionen auf dem Prüfstand

UkrainerInnen in den USA demonstrieren vor dem Weissen Haus und fordern Sanktionen kurz nach Beginn der russischen Invasion.
© Foto: JIM LO SCALZO / EPA / Keystone

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar verhängten die westlichen Länder Sanktionen von bisher ungekanntem Ausmass gegen den Kreml und seine Oligarchen. Sie wurden von 35 westlichen Ländern mitgetragen, allerdings beteiligte sich kein einziges Entwicklungsland daran. Die Schweiz, die sich in den letzten 20 Jahren in fast der Hälfte der Fälle den EU-Sanktionen angeschlossen hatte, übernahm diese aufgrund des wachsenden internationalen und internen Drucks schliesslich ebenfalls.

Es ist das erste Mal, dass Sanktionen sogar gegen die Zentralbank eines G20-Landes verhängt wurden, und dennoch ist derzeit schwer abzuschätzen, ob sie funktionieren werden oder nicht. Doch was heisst «funktionieren»? Was bezwecken sie? Und welche Auswirkungen haben sie auf die (insbesondere russische) Bevölkerung?

«Sanktionen verfolgen eine Reihe von sich überschneidenden Zielen und selbst die Länder, die sie verhängen, kennen das anvisierte Ziel nicht immer genau», sagt Dmitry Grozoubinski, Geschäftsführer der Geneva Trade Platform. In Bezug auf Russland sind es vier Ziele: Regimewechsel, Änderung der russischen Politik, finanzielle Austrocknung des Militärapparats und Ausdruck der westlichen Ablehnung.»

Ein Regimewechsel wurde selten erreicht

Der ehemalige australische Diplomat bekräftigt, dass das erste Ziel auf diesem Weg noch nie erreicht wurde. Mit Sanktionen habe noch nie ein Regimewechsel erzwungen werden können, ausser vielleicht im Fall von Südafrika während der Apartheid. «Das russische Volk ist es gewohnt, den Gürtel enger zu schnallen, vor allem wenn es sich von ausländischen Mächten angegriffen fühlt», betont er. Die finanziellen Sanktionen benachteiligen insbesondere junge, gebildete Menschen und die Stadtbevölkerung. Viele von ihnen verlassen das Land, obwohl sie am ehesten einen Regimewechsel herbeiführen könnten.»

Was ein politisches Umdenken angeht, sind Grozoubinski wie auch Erica Moret, Koordinatorin des Geneva International Sanctions Network, der Ansicht, dass dies schwierig zu bewerkstelligen sei: Zweifellos kann Russland die Sanktionen nicht ignorieren, doch ist es schwer zu sagen, ob sie ein entscheidender Faktor für oder gegen die Fortsetzung des Krieges, die Aufnahme diplomatischer Verhandlungen, den Einsatz von Chemiewaffen oder die Bombardierung einer Schule oder eines Krankenhauses sind.

Dagegen hält Dmitry Grozoubinski fest, dass sie sich als wirksames Mittel für die Austrocknung der militärischen Ressourcen Russlands erwiesen haben. Einige Experten sind der Ansicht, die Sanktionen, die Moskau nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 auferlegt wurden, seien der Grund für Russlands eklatanten Mangel an militärischer Spitzentechnologie: Die Rüstungsindustrie kann die notwendigen Komponenten, insbesondere Halbleiter, nicht auf den westlichen Märkten beschaffen, und es ist unwahrscheinlich, dass China und Indien diese Lücke schliessen können.

Was die Symbolkraft der Sanktionen betrifft, so weist der Experte darauf hin, dass die Industrieländer bereit sein müssen, den Preis für ihre ablehnende Haltung zu zahlen − was gerade geschieht, auch wenn sie nicht gewillt sind, gänzlich auf Gaslieferungen zu verzichten, zumindest noch nicht.

«Die russische Wirtschaft ist am Boden»

Die Auswirkungen auf die russische Bevölkerung sind verheerend. So twitterte der russische Professor Maxim Mironow von der IE Business School in Spanien, dass «die russische Wirtschaft am Boden sei». Seiner Meinung nach wird die Bevölkerung besonders stark unter dem Zusammenbruch und der Verlangsamung der verarbeitenden Industrie leiden, da westliche Komponenten und Maschinen nicht mehr importiert werden können. Dies gilt für alle Bereiche, beispielsweise werden 90% des Saatguts für russische Kartoffeln importiert.

«Eine der Herausforderungen des Handels besteht darin, dass eine internationale Transaktion nicht nur aus Kauf und Verkauf besteht: Es braucht Versicherungen, Finanzinstitute, Transportunternehmen − und die meisten davon haben ihre Tätigkeiten aus Angst vor Verlustgeschäften und Boykotten eingestellt», fährt Dmitry Grozoubinski fort. Viele Arzneimittelhersteller verkaufen zwar weiterhin nach Russland, doch was werden sie tun, wenn es keine Schiffe mehr gibt, da keines bereit ist, eine unversicherte Ladung an Bord zu nehmen? Und wenn die Banken vom Swift-System ausgeschlossen werden, stehen die in Genf ansässigen Händler vor unüberwindbaren Schwierigkeiten.»

Sanktionen immer weniger zielgerichtet

Erica Moret ergänzt: «Die Sanktionen sind immer weniger zielgerichtet. Um das Jahr 2000, nach den humanitären Krisen in Kuba, Haiti, dem Irak und anderswo, versuchten die Vereinten Nationen und verschiedene Regierungen, darunter die USA, gezielte Sanktionen zu verhängen − wie das Einfrieren von Vermögen mehrerer Personen oder Unternehmen, Reisebeschränkungen oder das Verbot, Waffen zu kaufen oder zu verkaufen. In den letzten 20 Jahren wurden jedoch zunehmend umfassende Sanktionen verhängt, die sich de facto auf ganze Sektoren wie den Finanz- oder Energiebereich beziehen. Auf dem Papier bleiben sie zwar zielgerichtet, doch in der Praxis ähneln sie einem Embargo gegen ein Land. Zu sehen ist dies am Beispiel des Iran, Nordkoreas, Syriens und Venezuelas. Ausserdem haben Studien gezeigt, dass Sanktionen, die sich gegen die Zentralbank oder den Energiesektor richten, erhebliche humanitäre Auswirkungen haben, da mit ihnen die Inflation und die Arbeitslosigkeit steigen.»

Laut der Wissenschaftlerin ist es jedoch sehr schwierig, die Auswirkungen von Sanktionen durch die von anderen Faktoren isolierte Betrachtung zu messen: Korrelation ist nicht gleichbedeutend mit Ursache. Im Sudan, in Venezuela und in Myanmar beispielsweise kann die katastrophale humanitäre Lage nicht nur den Sanktionen zugeschrieben werden, sondern auch der Unterdrückung durch die Regierung, der Korruption, der schlechten Regierungsführung und den Menschenrechtsverletzungen. «Es ist wichtig, dies zu betonen, da das Thema stark politisiert wird. In der Argumentation der Regierungen sind Sanktionen immer die Ursache aller Probleme, obwohl auch andere Faktoren eine Rolle spielen.»

Das Problem der Überkonformität

Erica Moret weist darauf hin, dass neben der Ausweitung der Sanktionen auch das Inkrafttreten weiterer Anti-Korruptions- und Anti-Geldwäscherei-Regeln, die der Privatsektor und die Banken befolgen müssen, die Komplexität weiter erhöhen kann. Die Angst vor milliardenschweren Strafzahlungen kann zu einer Überkonformität (overcompliance) führen, so dass sich Banken lieber ganz aus Ländern wie Syrien oder dem Iran zurückziehen. «Overcompliance und De-Risking (Risikominimierung) sind oft folgenschwerer als Sanktionen, denn selbst die strengsten Sanktionen sehen Ausnahmeregelungen vor, die theoretisch den Handel mit Medikamenten, Lebensmitteln usw. zulassen. Die Übererfüllung hingegen betrifft die gesamte Lieferkette, die Versicherungen, das Transportwesen, die Technologiesparte....»

Für Erica Moret ist es zwar noch zu früh, um die Auswirkungen dieses Phänomens auf Russland zu messen, aber es steht fest, dass der Boykott der multinationalen Unternehmen sowohl mit den Sanktionen als auch mit einer Frage der Reputation und der sozialen Verantwortung zusammenhängt. Aus symbolischer Sicht spielt dies eine wichtige Rolle, da so der russischen Bevölkerung gezeigt wird, dass die meisten westlichen Unternehmen gegen den Krieg sind; dies verhilft der Botschaft der «internationalen Gemeinschaft» zu mehr Sichtbarkeit. Eine Gefahr breiter Sanktionen besteht jedoch darin, dass die Bevölkerung die Regierung noch stärker unterstützt, insbesondere in Ländern, in denen die Medien kontrolliert werden. Das Verschwinden von Luxusgütern vom Markt mag noch keine humanitären Auswirkungen haben, die Abwanderung von Pharma-. Lebensmittel- und Technologieunternehmen jedoch möglicherweise schon.

Die Vereinten Nationen prangern Sanktionen mit Auswirkungen auf die Menschenrechte an

Am 25. März 2022 riefen acht UN-ExpertInnen  – darunter die Sonderberichterstattenden für das Recht auf Nahrung, Gesundheit und Trinkwasser – die Staaten dazu auf, bei der Verhängung von Sanktionen die humanitären Auswirkungen zu berücksichtigen.

Sie schreiben: «Einseitige Sanktionen, die auf Steuersysteme abzielen, einschliesslich Geldtransfers sowie andere internationale Finanztransaktionen, und die mit den Grundbedürfnissen einer Bevölkerung verknüpft sind, verstossen gegen den Menschenrechtsgrundsatz der «Anhebung des Lebensstandards». Sie sind nicht hinnehmbar. [...] Banken und Unternehmen dürfen nicht verhindern oder daran gehindert werden, mit Lebensmitteln, Wasser, medizinischer Ausrüstung, lebenswichtigen Medikamenten und Impfstoffen, Ersatzteilen, Geräten oder Reagenzien, die für die Instandhaltung kritischer Infrastrukturen erforderlich sind, im Sinne der Due Diligence und der unternehmerischen Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte zu handeln und diese zu liefern.»

Erica Moret zufolge sind Sanktionen neben der Diplomatie und den Guten Diensten nur ein Instrument unter vielen. Sie treffen eher ein Land, das stark in die globale Wirtschaft integriert ist, wie Russland, als ein Land, das bereits isoliert ist. Alliance Sud fordert die Schweiz und die internationale Gemeinschaft mit Nachdruck auf, dafür zu sorgen, dass die Sanktionen keine unverhältnismässigen und unnötigen Auswirkungen auf die Bevölkerung haben.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Medienmitteilung

Ein Grundstein für das Aussenwirtschaftsgesetz

21.03.2023, Handel und Investitionen

Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) hat an ihrer heutigen Sitzung eine Initiative zur Revision vom «Bundesgesetz über aussenwirtschaftliche Massnahmen» angenommen.

Die Kommissionsinitiative verlangt vom Bundesrat eine Gesetzesänderung, um bei Schweizer Handelsabkommen den Schutz von Menschenrechten und Umweltstandards sicherzustellen. Public Eye und Alliance Sud unterstützen diesen ersten Schritt, fordern zugleich aber ein umfassendes Aussenwirtschaftsgesetz. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wie auch Chinas aggressives Verhalten gegenüber Taiwan zeigen, dass die Schweiz ihre Aussenwirtschaftspolitik auf eine neue Grundlage stellen muss.

Public Eye und Alliance Sud kritisieren seit einiger Zeit die mangelnde gesetzliche Basis für die Gestaltung einer nachhaltigen und fairen Schweizer Aussenwirtschaftspolitik. Die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung der menschenrechtlichen Auswirkungen von Handelsabkommen zeigte sich zuletzt bei mutmasslich aus Zwangsarbeit stammenden Importprodukten aus der chinesischen Region Xinjiang. Aber auch die nur knapp gewonnene Volksabstimmung über das Freihandelsabkommen mit Indonesien war ein deutliches Votum breiter Bevölkerungskreise für eine Neuausrichtung der Aussenwirtschaftspolitik. Entsprechend begrüssen die beiden Organisationen die Stossrichtung der heute angenommenen Kommissionsinitiative und die wachsende Einsicht, dass es in diesem wichtigen Bereich mehr Transparenz und parlamentarische Mitsprache braucht.

Für ihre demokratische Legitimation braucht die Aussenwirtschaftspolitik aber dringend eine solidere Rechtsgrundlage.  Deshalb fordern Public Eye und Alliance Sud ein umfassendes Aussenwirtschaftsgesetz, das deutlich über die Kommissionsinitiative hinausgeht. So muss das Gesetz klare Leitplanken für Wirtschaftsbeziehungen mit totalitären Staaten festlegen und Prozesse definieren, wie mit den regelmässigen Zielkonflikten umzugehen ist, um die Schweizer Wirtschaftsinteressen im Ausland in einer Weise zu fördern, die mit den aussenpolitischen Zielen und internationalen Verpflichtungen unseres Landes in Einklang stehen.

Weitere Informationen bei:
Thomas Braunschweig, +4144 277 79 11, thomas.braunschweig@publiceye.ch
Andreas Missbach, +4131 390 93 30, andreas.missbach@alliancesud.ch

Internationaler Handel

Internationaler Handel

Die Handelspolitik der Schweiz kann die Entwicklungsländer dabei einschränken, im öffentlichen Interesse zu regulieren und das Recht auf Gesundheit und Nahrung zu stärken. Alliance Sud setzt sich dafür ein, dass die Schweiz ihnen den für ihre Entwicklung notwendigen Handlungsspielraum lässt. 

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Worum es geht

Alliance Sud hat seit der Gründung der Welthandelsorganisation 1995 an allen Ministerkonferenzen teilgenommen und die Schweiz stets ermahnt, die Interessen der Entwicklungsländer nicht zu untergraben. Letztere haben in der Organisation jedoch an Bedeutung gewonnen und beugen sich nicht mehr dem Diktat der reichen Länder.

Alliance Sud beobachtet das Verhalten der Schweiz in der WTO nach wie vor und achtet darauf, dass sie sich nicht an Initiativen beteiligt, die den Entwicklungsländern schaden könnten. Ein Beispiel dafür war die Diskussion um die Covid-Impfstoffe bei der Ministerkonferenz. Auf bilateraler Ebene setzt sich Alliance Sud für griffige Folgenabschätzungen im Bereich der Menschenrechte und für die Aufnahme eines sanktionsbewehrten Kapitels über nachhaltige Entwicklung ein. 

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Es braucht den Fokus auf Land und lokale Perspektiven

23.03.2020, Handel und Investitionen

Auch in Myanmar lautet das Versprechen der chinesischen Belt and Road Initiative: Entwicklung dank Handel und dem forcierten Bau von Infrastrukturen. Doch Landrechte, Biodiversität und Kultur stehen infrage.

Es braucht den Fokus auf Land und lokale Perspektiven
Kleinräumige Landschaft um den Hauptort des Layshi Townships im hügeligen Nagaland im Nordosten von Myanmar.
© Lin Bo Jian

von Christoph Oberlack, Athong Makury und Andreas Heinimann

Die Belt and Road Initiative (BRI) ist wohl das ehrgeizigste Megainfrastrukturprojekt unserer Zeit. Unter der Führung Chinas haben mehr als 120 Länder, darunter die Schweiz, Kooperationsabkommen für die neue Seidenstrasse unterzeichnet. Erfahrungen von lokalen Gemeinschaften mit Megainfrastrukturprojekten in Myanmar zeigen jedoch, dass Landrechte, kulturelle und biologische Vielfalt bedroht sind. Der Umgang mit Landnutzung und Landrechten wird entscheidend dafür sein, ob die BRI eine nachhaltige Entwicklung fördert oder verdrängt.

Die führenden Politiker der Welt haben sich hohe Ziele gesteckt. Beim letzten Belt and Road Forum haben vierzig Staaten, darunter die Schweiz, ihr «Engagement für die UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung bis 2030» bekräftigt und sie haben der BRI «starkes, nachhaltiges, ausgewogenes und integratives Wachstum und die Verbesserung der Lebensqualität der Menschen als gemeinsame Ziele» zugebilligt. Mehr noch als eine Vielzahl von Projekten ist die BRI eine wirkungsmächtige, breit angelegte visionäre Erzählung. Dank der Entwicklung einer gross angelegten Verkehrs-, Energie-, Handels- und Industrieinfrastruktur entlang von Handelsrouten durch Asien, Europa und Afrika verspricht die BRI eine bessere Zukunft für alle.

Ein grosses Versprechen ist das. Zumal in den letzten zehn Jahren Megainfrastrukturprojekte häufig das Gegenteil bewirkt haben: Viele hatten die Vertreibung von lokalen Gemeinschaften, Landraub, soziale Konflikte und Umweltzerstörung zur Folge, die nachhaltige Entwicklung und die Lebensqualität der Menschen vor Ort haben sie untergraben statt verbessert. Ein Grund dafür: Diese Grossprojekte reduzieren die Vielfalt der Landnutzung. Sie verwandeln Landschaften mit vielfältigen ökologischen, sozialen und ökonomischen Funktionen in Gebiete, deren wichtigste Aufgabe es ist, Standorte für Infrastruktur zu sein. Deutlich wird die Bedeutung und die globale Relevanz von multifunktionalen Landschaften am Beispiel des Jhum-Landnutzungssystems des Naga-Volks in Myanmar.


Die Jhum-Lebensweise

Die Naga sind ein indigenes Volk, das aus über 40 Stämmen besteht. Das sogenannte Nagaland verteilt sich auf Nordost-Indien und Nordwest-Myanmar. Von den etwa 4 Millionen Naga lebt eine halbe Million auf dem Staatsgebiet von Myanmar. Für das Volk der Naga ist Land nicht nur eine produktive Ressource, sondern auch ein Ort tiefer historischer, kultureller und spiritueller Verbindungen. Das Land wird durch das überlieferte Besitzsystem der Naga verwaltet, das die nachhaltige Nutzung der Land- und Wasserressourcen gewährleistet. Die wichtigste Landnutzung im abgelegenen Hochland des Myanmar-Nagalandes ist der Wanderfeldbau, lokal Jhum genannt. Dieses extensive Landnutzungssystem wird nach dem Rotationsprinzip betrieben. Dabei werden die verschiedensten Feldfrüchte angebaut, und diverse Brachstadien erlauben der lokalen Bevölkerung eine breite Nutzung des Bodens; sie verdankt ihm von Baumaterial über Heilpflanzen bis zu hochwertigen Nahrungsmitteln. Jhum zeichnet darüber hinaus eine hohe Biodiversität und die Speicherung grosser Mengen von Kohlenstoff aus, wovon nicht zuletzt das globale Ökosystem profitiert. Die «Jhum-Lebensweise», wie die Naga es nennen, betrachtet und verwaltet Land auf ganzheitliche Art und erhält so multifunktionale Landschaften auf nachhaltige Weise.

Trotz zaghaften, positiven Anzeichen in jüngster Zeit anerkennt das heute in Myanmar geltende Recht die lokalen Gewohnheitsrechte an Land nicht. Ohne die formelle Anerkennung der Landrechte stellen die geplanten Infrastrukturprojekte eine grosse Gefahr für lokale und indigene Gruppen dar, einschliesslich ihrer Lebensweise und den lokalen bis globalen Funktionen ihrer Landnutzung.

Wenn Verkehrswege ausgebaut werden, so werden abgelegene Regionen zugänglicher. Der besseren Zugänglichkeit folgen typischerweise neue Ansprüche an Land durch Investitionen in kommerzielle Landnutzung, zu denen die Regierung Myanmars auch ausdrücklich einlädt. Wie die Debatte über Land Grabbing in der vergangenen Dekade gezeigt hat, stellen diese Ansprüche die Gewohnheitsrechte lokaler Gruppen in Frage. Der Druck auf lokale und indigene Gemeinschaften und ihre Landnutzungssysteme nimmt weiter zu.

Eine raison d’être der Megainfrastrukturprojekte ist es, Infrastruktur bereitzustellen, die internationalen Handel befördert. Das braucht Land, viel Land. Die neue Nutzung des Landes steht in starkem Kontrast mit den vielfältigen Funktionen von Land in gemeindebasierten Landnutzungssystemen, wie es die «Jhum-Lebensweise» exemplarisch zeigt. Ein kürzlich veröffentlichter globaler Bericht der zwischenstaatlichen Plattform für Biodiversität und Ökosystemleistungen (IPBES) zeigt, dass ein Grossteil der terrestrischen globalen Biodiversität in Gebieten liegt, die von indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften auf traditionelle Art und Weise verwaltet werden. Ihre langfristige gemeinschaftliche Nutzung des Landes hat vielfältiges lokales ökologisches Wissen, soziale Identitäten und Kulturen hervorgebracht. Grossprojekte, die lokale Gemeinschaften von ihrem Land verdrängen, bedrohen daher nicht nur die biologische Vielfalt des Planeten, sondern auch die kulturelle, institutionelle und soziale Vielfalt der Erde.

Was tut die Schweiz?

Die Beteiligung der Schweiz und anderer europäischer Länder an der BRI unterstützt und legitimiert die Vorstellung, dass der Bau von Megainfrastrukturen Entwicklung begünstige. Doch welche Art der Entwicklung? Und welchen Entwicklungsbegriff vertritt die Schweiz? Basierend auf einer im April 2019 unterzeichneten Absichtserklärung begrüsst die Schweiz die BRI offiziell und billigt damit die Erwartung, dass die BRI Infrastrukturen in Regionen entwickle, die diese dringend benötigen würden. Die Erfahrung mit negativen Auswirkungen von Megainfrastrukturprojekten im vergangenen Jahrzehnt zeigen jedoch, dass dabei allzu oft die Anerkennung der Bedürfnisse, Rechte und Stimmen der lokalen und indigenen Bevölkerungen fehlt. Die Gewährleistung nachhaltiger lokaler und indigener Gemeinschaftsstrukturen und Landnutzung müsste dringend ein integraler Bestandteil des Schweizer Engagements für die BRI sein.

Die entscheidende Rolle, die die Landnutzung für die nachhaltige Entwicklung hat, wird in den Debatten über die BRI bis dato weitgehend ausgeblendet. Sie muss stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.

Wenn die im Rahmen der BRI errichtete Infrastruktur die nachhaltige Entwicklung fördern soll, dann braucht es Regeln dafür. Wenn heute von Auf- oder Ausbau von Institutionen die Rede ist, dann werden Prinzipien für grüne Investitionen und Nachhaltigkeit der Verschuldung mitgedacht. Diese Schwerpunkte müssen dringend durch einen Fokus auf Land ergänzt werden; Befürworter der BRI wie die Schweiz müssen die Zielländer von Infrastrukturinvestitionen dazu anhalten, Land- und Territorialrechte der indigenen Völker und lokalen Gemeinschaften explizit anzuerkennen. Andernfalls sabotiert die BRI die Bemühungen für globale Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn der Agenda 2030.

Die Autoren:

  • Christoph Oberlack leitet das Cluster Sustainability Governance des Centre for Development and Environment (CDE) und ist Forscher am Geographischen Institut an der Universität Bern.
  • Athong Makury war Vorsitzender des Rates für Naga-Angelegenheiten und ist der Exekutivdirektor der NGO Resource Rights for the Indigenous Peoples in Myanmar.
  • Andreas Heinimann ist der für die regionale Zusammenarbeit zuständige stellvertretende Direktor des CDE.

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WTO-Kompromiss: alles nur Augenwischerei

20.06.2022, Handel und Investitionen

Die 12. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation verabschiedete einen substanzlosen Beschluss zu Covid. Auch eine dauerhafte Lösung für die Pflichtlagerhaltung von Lebensmitteln wurde nicht gefunden.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

WTO-Kompromiss: alles nur Augenwischerei

© Netzwerk OWINFS (Our World is Not for Sale)

Es war ein Sturm im Wasserglas: Nach zwei Nächten und einem zusätzlichen Tag lagen die Abschlussdokumente der Welthandelsorganisation (WTO) vor, deren 12. Ministerkonferenz eigentlich am 15. Juni hätte enden sollen. Doch weder für die Gesundheits- noch die Nahrungskrise, die unseren Planeten heimsuchen, werden valable Lösungen vorgeschlagen. Wie so oft bei solchen Verhandlungen wurden Beschlüsse nur verabschiedet, weil sie einen Kompromiss darstellen; wirklich zufrieden damit ist niemand.

Zunächst einmal einigten sich die 164 Mitglieder mit Ach und Krach auf einen Beschluss zum TRIPS-Abkommen, der meilenweit von dem Vorschlag entfernt ist, den Indien und Südafrika im Oktober 2020 eingebracht hatten. Dieser forderte eine vorübergehende Ausklammerung aller geistigen Eigentumsrechte − Patente, Geschäftsgeheimnisse und Datenexklusivität − auf Impfstoffe, Medikamente und Corona-Tests, wodurch deren Herstellung und Vermarktung in Entwicklungsländern erleichtert werden sollte. Der Vorschlag wurde von rund 100 Ländern und NGOs aus der ganzen Welt unterstützt, doch die Schweiz, die EU, die USA und Grossbritannien bekämpften ihn vehement.

Zwangslizenzen schwer umsetzbar

Der angenommene Beschluss wiederholt lediglich bereits bestehende WTO-Bestimmungen. Insbesondere besteht für anspruchsberechtigte Entwicklungsländer die Möglichkeit, mindestens fünf Jahre lang Zwangslizenzen für Impfstoffe zu erteilen und somit trotz Patentschutz Generika zu vermarkten. China hat sich verpflichtet, davon nicht Gebrauch zu machen. Bis in spätestens 6 Monaten müssen die Mitgliedstaaten entscheiden, ob sie den Beschluss auf Covid-Tests und -Medikamente ausweiten wollen. Die Bestimmung trägt notabene nicht zu einer Stärkung der lokalen Produktionskapazitäten bei: Es ist zwecklos, Patente aufzuheben, ohne die Produktionsgeheimnisse offenzulegen und Technologie und Know-how zu transferieren. Länder wie Südafrika, Ruanda und Senegal haben sich bereit gezeigt, mRNA-Impfstoffe herzustellen. Im Unterschied dazu wären die Länder im Falle von Vereinbarungen mit Pharmaunternehmen von deren Goodwill und Bedingungen abhängig; das Problem würde nicht grundlegend gelöst.

Darüber hinaus ist der Mechanismus der Zwangslizenzierung in der Umsetzung kompliziert und langwierig, weshalb er, obwohl es ihn seit 2001 gibt, nur sehr selten angewandt wurde. Die Schweiz weiss dies nur zu gut. Sie übte 2015 Druck auf Kolumbien aus, damit es auf die Ausstellung einer Zwangslizenz für das von Novartis hergestellte Krebsmedikament Glivec verzichtete, wodurch der Preis für eine Behandlung, die pro Patient und Jahr auf mindestens 15.000 US-Dollar geschätzt wird, um 77% hätte gesenkt werden können.

Angesichts dieser Situation hätten die NGOs, darunter Alliance Sud, gar kein Abkommen einem schlechten Abkommen vorgezogen; so wären die Mitglieder gezwungen gewesen, die Arbeit erneut aufzunehmen und zu versuchen, multilateral eine zufriedenstellende Lösung zu finden.

Keine dauerhafte Lösung für die Pflichtlagerhaltung von Lebensmitteln

Kaum erbaulicher ist die Antwort auf die Nahrungsmittelkrise, die den Ländern des Südens unter anderem wegen des Ukrainekrieges und der Klimakrise droht. Die Kernmassnahme, die es den Entwicklungsländern ermöglicht hätte, ihre Produktionskapazitäten zu erhöhen, wurde nicht verabschiedet.

Neun Jahre. Seit fast einem Jahrzehnt warten Indien und viele Entwicklungsländer auf eine dauerhafte Lösung für die brennende Frage der Pflichtlagerhaltung. Mit diesen Nahrungsmittel-Hilfsprogrammen können sie arme BäuerInnen und KonsumentInnen unterstützen, ohne eine Klage vor dem WTO-Streitschlichtungsgremium zu riskieren. Auf der Ministerkonferenz in Bali 2013 wurde eine entsprechende «Friedensklausel» beschlossen, die bis zur Einführung einer dauerhaften Lösung gelten sollte. Die Klausel sah vor, dass die WTO ihre Regeln für die Landwirtschaft überarbeiten würde, damit die Entwicklungsländer ihre armen Bäuerinnen und Bauern und Konsumentinnen und Konsumenten unterstützen können, so wie es die Industrieländer schon lange tun. Die USA, um nur ein Beispiel zu nennen, taten dies seinerzeit in der Grössenordnung von 75 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Die USA und weitere Länder lehnten eine dauerhafte Lösung kategorisch ab, weil sie befürchteten, dass Indien sein subventioniertes Getreide exportieren würde. Immerhin konnte damals eine vorübergehende Lösung gefunden werden.

Eine endgültige Lösung wurde immer wieder vertagt und auch auf dieser Ministerkonferenz konnte keine Einigung erzielt werden. Eine Vorlage über einen endgültigen Beschluss zur Ernährungssicherheit, womit eine dauerhafte Lösung bis zur nächsten Ministerkonferenz hätte ausgearbeitet werden sollen, wurde schliesslich abgelehnt. Einige Kreise befürchten, dass er nie zustande kommen wird.

Indien erreicht Nahrungsmittel-Selbstversorgung

Nichtsdestotrotz hat der Beschluss von Bali es Indien ermöglicht, ein Nahrungsmittel-Hilfsprogramm umzusetzen, das auf 20 Milliarden USD pro Jahr geschätzt wird. In seiner Rede am 14. Juni erinnerte der indische Handelsminister Shri Piyush Goyal daran, dass auch Ägypten und Sri Lanka, die besonders stark von der Nahrungsmittelkrise betroffen sind, eine dauerhafte Lösung mit Pflichtlagern gefordert hatten − wie viele andere Entwicklungsländer auch. Denn diese Vorräte haben sich bewährt: «Indien hat sich von einer Nation mit einem Nahrungsmitteldefizit zu einer sich weitgehend selbstversorgenden Nation entwickelt. Staatliche Unterstützung in Form von Subventionen und anderen staatlichen Eingriffen spielte für die Erreichung der Selbstversorgung eine wesentliche Rolle. Deshalb setzen wir uns im Namen aller Entwicklungsländer, einschliesslich der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs), unter Berufung auf unseren eigenen Weg und unsere Erfahrungen für diese Lösung ein», sagte er.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass eine dauerhafte Lösung eine Revision des Landwirtschaftsabkommens erfordert, was mit einem Geben und Nehmen verbunden ist. Industrieländer wie die Schweiz wollen die Frage der Pflichtlagerbestände mit anderen heiklen Themen wie der internen Stützung der Landwirtschaft verknüpfen. Sie möchten ein umfassendes Arbeitsprogramm zu allen Säulen der Landwirtschaft − interne Stützungen, Marktzugang, Exportsubventionen − und waren gegen eine endgültige Lösung der Frage der Pflichtlager im Rahmen dieser Konferenz. Sie hinterfragten das Konzept dieser Bestände, die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden und den möglichen Weiterverkauf auf dem Weltmarkt.

Dabei hätte die über Genf hinweg rollende Hitzewelle die Delegierten eigentlich daran erinnern sollen, dass die Klimakrise den gesamten Planeten betrifft und insbesondere die Ernährungssicherheit in den ärmsten Ländern bedroht. Sowohl in der Landwirtschaft als auch im Bereich des geistigen Eigentums bedürfen die vor Jahrzehnten festgelegten WTO-Regeln einer umfassenden Aktualisierung − im Interesse aller Beteiligten.