Medienmitteilung

Agenda 2030: Innenpolitik ist Aussenpolitik!

03.07.2018, Agenda 2030

Die Schweizer Zivilgesellschaft – zusammengeschlossen in der Plattform Agenda 2030 – hat ihren umfangreichen Bericht zur Umsetzung der Agenda 2030 durch die Schweiz vorgestellt. Er beantwortet die Frage: «Wie nachhaltig ist die Schweiz?».

Agenda 2030: Innenpolitik ist Aussenpolitik!

© Martin Bichsel

Die UNO-Agenda 2030 und die darin enthaltenen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) wurden 2015 als neuer, universeller Referenzrahmen von allen Staaten anerkannt. Die Agenda 2030 richtet sich nicht nur an Entwicklungsländer, sondern nimmt auch reiche Länder wie die Schweiz in die Pflicht. Ausserdem bezieht sie alle Dimensionen der Nachhaltigkeit mit ein: Soziales, Umwelt und Wirtschaft.
Sie definiert nachhaltige Entwicklung als globale Herausforderung, die nicht isoliert angegangen werden kann. Weder thematisch noch geographisch. Damit stehen neu auch die Auswirkungen von innenpolitischen Entscheiden auf andere Länder im Fokus. Die verschiedenen Politikbereiche müssen kohärent im Sinne der nachhaltigen Entwicklung gestaltet werden. Dies bedingt, dass Entscheide in der Wirtschafts-, der Steuer-, der Sozial-, der Klima- und Umweltpolitik die Erreichung der SDGs konsequent vorwärts bringen.

Für Eva Schmassmann, Präsidentin der Plattform Agenda 2030, müssen dringend Massnahmen ergriffen werden, um den Abfluss von Steuergeldern aus Entwicklungsländern ins Steuerparadies Schweiz zu verhindern: „Den Entwicklungsländern entgehen durch Steuerflucht und Steuerhinterziehung jährlich geschätzte 200 Milliarden US$ an Steuereinnahmen. Dieses Geld benötigen sie dringend, um die Umsetzung in ihren Ländern zu finanzieren.“

Für Marianne Hochuli von Caritas Schweiz ist Armut die grösste sozialpolitische Herausforderung der Schweiz: „Um die Agenda 2030 umzusetzen, muss die Schweiz die Armut in der Schweiz bis 2030 halbieren.“

Ohne den Privatsektor lässt sich die Agenda 2030 nicht umsetzen. Für Stella Jegher von Pro Natura ist klar: „Multinationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz müssen die Verantwortung für die Einhaltung von Umweltstandards auch im Ausland übernehmen und für Schäden zur Rechenschaft gezogen werden, welche sie oder ihre Tochterfirmen verursachen.“

Für die Autorinnen und Autoren des zivilgesellschaftlichen Berichts zeichnet der Bundesrat ein klar zu rosa gefärbtes Bild. „Es ist erbärmlich, welche Indikatoren im bundesrätlichen Bericht herbeigezogen werden, um diese Fortschritte im Bereich menschenwürdige Arbeit und geschützte Arbeitsrechte zu bewerten“, sagt dazu Regula Bühlmann vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. „Mit steigenden Erwerbsquoten der Frauen und sinkender Anzahl Berufsunfällen sind diese SDG noch längst nicht erreicht.“

Der über 80-seitige Bericht der Plattform Agenda 2030 enthält 11 Empfehlungen zur Umsetzung der Agenda 2030. Nebst der Respektierung der planetaren Grenzen und der Menschenrechte fordert die Plattform insbesondere ausreichende Ressourcen für die Umsetzung, eine starke institutionelle Verankerung der Agenda 2030 innerhalb der Bundesverwaltung, die Ausrichtung der Legislaturpläne an der Agenda 2030 sowie die Stärkung der politischen Kohärenz für nachhaltige Entwicklung.  

In der Plattform Agenda 2030, die mit der Publikation dieses Berichts erstmals an die grössere Öffentlichkeit tritt, sind über 40 Organisationen aus der Schweizer Zivilgesellschaft zusammengeschlossen. Diese engagieren sich in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Arbeits- und Menschenrechte, Umweltschutz, Gender, Frieden und nachhaltiges Wirtschaften.

Download des Berichts, der in deutscher, französischer und englischer Sprache erhältlich ist, unter folgender Adresse: www.PlattformAgenda2030.ch


Fotos der Pressekonferenz stehen ab 12 Uhr auf www.PlattformAgenda2030.ch zum Download bereit.

Artikel

Vom Hori­zont her: Welt­in­nen­po­litik

04.07.2018, Agenda 2030

Dominik Gross hat für den Blog «Geschichte der Gegenwart» über den Zusammenhang zwischen ökonomischer Globalisierung, neuem Nationalimus, Steuerpolitik und der UNO-Agenda 2030 nachgedacht.

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Vom Hori­zont her: Welt­in­nen­po­litik

Was ist die Antwort auf die ökonomistische Globalisierung und den globalen Nationalismus? Eine demokratische Weltinnenpolitik – basierend auf steuerpolitischer Zusammenarbeit – könnte die Umverteilung und den Aufbau demokratischer Institutionen auf globaler Ebene vorantreiben.

Der neue Schweizer Aussen­mi­nister Ignazio Cassis hat sich in den ersten Monaten im Amt in einen Satz verliebt: „Aussen­po­litik ist Innen­po­litik.“ Egal wo er auftritt ­– ob als Ehren­gast beim 50-jährigen Jubi­läum der Aussen­po­li­ti­schen Gesell­schaft, in einer Rats­de­batte zu einem Depar­te­ments­ge­schäft oder in einer Sitzung mit Mitar­bei­te­rInnen – immer hat er diesen Satz dabei. Er ist die einge­schwei­zerte Version von „America first“.

Cassis schwebt eine Aussen­po­litik vor, die sich in allen Berei­chen bedin­gungslos den „natio­nalen Inter­essen“ verschreibt. Oder dem Stamm­tisch, wie Cassis auch gerne sagt. Was er damit meint, zeigte sein Angriff auf die flan­kie­renden Mass­nahmen für den Lohn­schutz in den bila­te­ralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU: Er will zurück zur Gast­ar­bei­te­rIn­nen­po­litik der 1960er Jahre, die möglichst „billige“ auslän­di­sche Arbeits­kräfte mit möglichst wenig BürgerInnen- und Arbeits­rechten ausstatten will. Dass schon EMS-Chemie-Chefin und SVP-Nationlrätin Martullo-Blocher im Februar Ähnli­ches forderte, zeigt: Schlechter Lohn­schutz liegt im Inter­esse neoli­be­raler Natio­na­lis­tInnen. Cassis befür­wortet ganz im Einklang mit FDP und SVP zudem eine Finanz- und Steu­er­po­litik, die Banken und Konzernen so wenig gesell­schaft­liche Verant­wor­tung wie möglich über­trägt und die Intrans­pa­renz auf dem Finanz­platz so hoch wie möglich hält. Gemeinsam mit den SVP-Bundesräten und Partei­kol­lege Schneider-Ammann treibt er auch eine Aussen­wirt­schafts­po­litik voran, die umfas­sende Markt­zu­gänge für Schweizer Unter­nehmen mit möglichst wenig neuen rechts-, finanz-, steuer- und staats­po­li­ti­schen Verbind­lich­keiten für die Schweiz kombi­nieren will.

Für eine Globa­li­sie­rung der Rechte

In allen Welt­re­gionen nutzen Natio­na­lis­tInnen derzeit die erodie­rende Glaub­wür­dig­keit des wirt­schafts­li­be­ralen Kosmo­po­li­tismus der letzten vierzig Jahre. Diese Politik hat rund um den Globus den Graben zwischen Arm und Reich vergrös­sert und die Welt an den Rand einer ökolo­gi­schen Kata­strophe gebracht. Das Welt­wirt­schafts­system über­lebte 2008 den fünften Crash seit 1970 nur knapp und unter enormsten Kosten für die Allge­mein­heit. Der wirt­schafts­li­be­rale Multi­la­te­ra­lismus machte Welt­kon­zerne zu para­staat­li­chen Gebilden und schränkte gleich­zeitig die wirtschafts- und sozi­al­po­li­ti­schen Möglich­keiten natio­nal­staat­li­cher Demo­kra­tien massiv ein. Die Natio­na­lis­tInnen wollen das Grund­prinzip hinter der bröckelnden neoli­be­ralen Hege­monie aller­dings nicht über­winden, sondern im Gegen­teil radi­ka­li­sieren: Sie wollen wirt­schaft­liche Konkur­renz nicht mehr in multi­la­teral defi­nierten Regel­werken für Handel- und Kapi­tal­ver­kehr orga­ni­sieren, sondern ein neues unge­zü­geltes Recht der Stär­keren durch­setzen.

Die Entwick­lung einer demo­kra­ti­schen Welt­in­nen­po­litik bietet einen Ausweg aus der Bredouille von Neoli­be­ra­lismus und Natio­na­lismus, in der die Welt heute steckt. Eine solche Politik kehrte Cassis‘ Maxime um: „Innen­po­litik ist Aussen­po­litik“ – wäre ihre Losung. Eine demo­kra­ti­sche Welt­in­nen­po­litik könnte entlang der bereits bestehenden globalen Wert­schöp­fungs­ketten von Kapital und Arbeit eine Globa­li­sie­rung der Rechte voran­treiben. Die Berliner Philo­so­phin Bini Adamczak hat das neulich in einem Inter­view mit der Wochen­zei­tung so umschrieben:

Milli­arden von Menschen, die sich nicht kennen, stehen in Bezie­hung und sind aufein­ander ange­wiesen. Aller­dings hat diese Bezie­hung, vermit­telt über Welt­markt und Tausch­wert, die Form von Indif­fe­renz und Konkur­renz, Ausbeu­tung und Unter­drü­ckung. Ich halte es aber weder für möglich noch für wünschens­wert, sich aus dieser Abhän­gig­keit wieder zurück­zu­ziehen. Statt­dessen sollten wir die gegen­sei­tige Abhän­gig­keit zum Ausgangs­punkt nehmen, um zu fragen, wie wir sie demo­kra­tisch und egalitär gestalten können.

Die Antwort auf Natio­na­lismus und Ökono­mismus könnte also eine demo­kra­ti­sie­rende Welt­in­nen­po­litik in allen Berei­chen sein, wie sie etwa die schwei­ze­ri­sche entwick­lungs­po­li­ti­sche Arbeits­ge­mein­schaft „Alli­ance Sud“ – ein Zusam­men­schluss verschie­dener grosser Entwick­lungs­or­ga­ni­sa­tionen – vor zehn Jahren gefor­dert hatte und wie sie seit 2015 in der „Agenda 2030 für nach­hal­tige Entwick­lung“ der UNO (Sustain­able Deve­lop­ment Goals – SDGs) veran­kert ist. Entwick­lungs­po­li­tisch bedeuten die SDGs einen Para­dig­men­wechsel: Sie denken „Entwick­lung“ nicht mehr als einen post- bzw. neoko­lo­nialen Prozess, der im Sinne einer „nach­ho­lenden Entwick­lung“ die „Entwick­lungs­länder“ dem „Zivi­li­sa­ti­ons­ni­veau“ der „Indus­trie­länder“ näher­bringen soll, sondern setzen sich sieb­zehn welt­in­nen­po­li­ti­sche Ziele, die eine sozial und ökolo­gisch nach­hal­tige Entwick­lung der ganzen Welt bewirken sollen.

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung

Die „Agenda 2030 für nach­hal­tige Entwick­lung“ der Vereinten Nationen enthält 17 globale Nach­hal­tig­keits­ziele (SDGs), die im September 2015 von der UN-Generalversammlung verab­schiedet wurden.

Entwi­ckeln müssen sich dementspre­chend nicht mehr nur die ehemals kolo­ni­sierten Länder, sondern auch die ehemals kolo­ni­sie­renden „Indus­trie­staaten“, darunter natür­lich auch die Schweiz. Auch sie ist nach den Mass­stäben einer umfas­senden sozialen und ökolo­gi­schen Welt­ver­träg­lich­keit ein Entwick­lungs­land. In diesem Sinne könnte die Agenda 2030 eine Welt­ver­fas­sung fürs 21. Jahr­hun­dert werden – mit allen inneren Wider­sprü­chen, die auch jeder natio­nal­staat­li­chen Verfas­sung inne wohnen. Sie kombi­niert einen univer­sa­lis­ti­schen Eklek­ti­zismus mit einem demo­kra­ti­sie­renden Anspruch, die Zwei­tei­lung der Welt in „Entwi­ckelte“ und „Entwi­ckelnde“ zu über­winden. Das kann zu einem zentralen welt­po­li­ti­schen Wert werden. Die bereits einge­reichte Konzernverantwortungs-Initiative in der Schweiz ist ein aktu­elles Beispiel dafür, wie der Geist der Agenda verwirk­licht werden könnte: Sie will multi­na­tio­nale Konzerne mit Sitz in der Schweiz jenseits ihrer Bekennt­nisse in Hoch­glanz­bro­schüren dazu verpflichten, welt­weit Umwelt- und Sozi­al­stan­dards auch wirk­lich einzu­halten.

Steu­er­po­li­ti­sche Zusam­men­ar­beit oder Stand­ort­kon­kur­renz?

Die Globa­li­sie­rung der Rechte wird aller­dings etwas kosten. Die UNO geht davon aus, dass ihre Mitglieder jähr­lich 5000-7000 Milli­arden US-Dollar aufbringen müssen, um die SDGs bis 2030 zu errei­chen. Das klingt nach viel. Ist es aller­dings ange­sichts eines Welt­brut­to­in­land­pro­dukts von 76’000 Milli­arden US-Dollar nicht wirk­lich. Und umso weniger ange­sichts von aktuell 6100 Milli­arden Franken, die gemäss Angaben des Staats­e­kre­ta­riates für inter­na­tio­nale Finanz­fragen (SIF) alleine auf dem Schweizer Finanz­platz verwaltet werden – häufig noch immer steu­er­frei. Alleine den soge­nannten Entwick­lungs­län­dern gehen nach Schät­zungen des US-Think-Tanks Global Finan­cial Inte­grity jähr­lich 1000 Milli­arden US-Dollar an mögli­chen Steu­er­ein­nahmen durch Steu­er­ver­mei­dung von Privat­per­sonen und globalen Konzernen, Geld­wä­scherei und Korrup­tion verloren. Lücken im gegen­wär­tigen Steu­er­system erlauben es den Konzernen zudem, ihre Gewinne nicht dort zu versteuern, wo sie ihre Wert­schöp­fung erzielen, sondern dort, wo die Steuern am tiefsten sind.

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Plakat der Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive

Diese Mobi­lität der Gewinne ist das poli­ti­sche Kapital der Konzerne. Sie zwingt die national orga­ni­sierten Gemein­wesen zu einer Politik, die nicht mehr der demo­kra­tisch ausge­han­delten Finan­zie­rung komplexer Gesell­schaften und ihrer Insti­tu­tionen dient, sondern der möglichst idealen Stand­ort­pflege für Konzerne. Der „Steu­er­wett­be­werb“ fördert nicht, wie manche Wett­be­werbs­a­po­lo­ge­tInnen behaupten, die Viel­falt verschie­dener volks­wirt­schaft­li­cher Modelle und „effi­zi­ente“ (will heissen möglichst billige) Staats­wesen, sondern drängt Gebiets­kör­per­schaften dazu, immer genau das zu tun, was ihre Nach­barn und Stand­ort­kon­kur­renten auch tun. Und das hiess in den letzten Jahr­zehnten fast immer: Steuern senken, vor allem jene von Gross­un­ter­nehmen. Wie kurz der Weg von dieser Steu­er­dum­ping­po­litik zum neuen Natio­na­lismus ist, demons­trierte kürz­lich SVP-Finanzminister Ueli Maurer am Beispiel des Konzern­tief­steuer­ge­bietes Schweiz: Wenn die Euro­päi­sche Union den Binnen­markt­zu­gang für die Schweizer Börse einschränken sollte, gab er zu Proto­koll, würde die Schweiz zu erneuten Steu­er­sen­kungen für Unter­nehmen gezwungen, um die Wett­be­werbs­fä­hig­keit der Schweiz aufrecht­zu­er­halten. Gleich­zeitig drohte Maurer der EU à la Trump mit finanz­markt­po­li­ti­schen Vergel­tungs­mass­nahmen.

Eine globale Steu­er­po­litik, die nicht auf Stand­ort­kon­kur­renz, sondern auf eine welt­in­nen­po­li­ti­sche Zusam­men­ar­beit setzt, kann dieses rechte Perpe­tuum Mobile aus Auste­ri­täts­po­litik und Natio­na­lismus stoppen. Sie kann die finan­zi­ellen Grund­lagen für neue demo­kra­ti­sche Insti­tu­tionen auf regio­naler und globaler Ebene schaffen, die die poli­ti­schen, sozialen und wirt­schaft­li­chen Rechte der Bürge­rInnen garan­tieren und durch­setzen. Diese Insti­tu­tionen könnten soziale und poli­ti­sche Umver­tei­lung auf globaler Ebene betreiben und so der Entrecht­li­chung vieler Menschen, die die Natio­na­lis­tInnen voran­treiben, entge­gen­treten. Und die entspre­chende Steu­er­po­litik könnte den zerstö­renden Stand­ort­wett­be­werb zwischen Nationen (und in der Schweiz auch zwischen Kantonen, Städten und Gemeinden) beenden, die im Inter­esse der Konzerne und ihrer Aktio­näre soziale Ungleich­heit und natio­na­lis­ti­sches Stamm­tisch­denken schürt und den Service Public welt­weit lahm­legt.

Die Auste­ri­täts­po­litik, die sich aus dieser Stand­ort­kon­kur­renz ergibt, macht die Möglich­keit eines guten Lebens letzt­lich zu einer rein privaten Frage der indi­vi­du­ellen ökono­mi­schen Verhält­nisse und leistet damit den poli­ti­schen Menta­li­täten konser­va­tiver Natio­na­lis­tInnen Vorschub. Umge­kehrt steht eine Politik, die für offene Grenzen eintritt, gleiche Rechte für alle einfor­dert, eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung errei­chen will und sich für eine demo­kra­tiefä­hige Medien- und Kultur­land­schaft einsetzt, nur dann auf einem stabilen mate­ri­ellen Funda­ment, wenn sie sich auch für üppige Steu­er­ein­nahmen aus Unter­neh­mens­ge­winnen, Kapi­tal­ren­diten, hohen Löhnen und privaten Vermögen einsetzt. Letz­teres haben die neoli­be­ralen Kosmo­po­li­tInnen seit den 1970er Jahren versäumt. Eine koope­ra­tive Steu­er­po­litik könnte diese Lücke füllen und Insti­tu­tionen eines demo­kra­ti­sie­renden Multi­la­te­ra­lismus poli­ti­sche Gestal­tungs­mög­lich­keiten eröffnen, die Dörfer, Städte, Länder und Welt­re­gionen aus ihrer gegen­sei­tigen Konkur­renz befreien.

Deleuze statt Cassis

Die Schweiz ist ein guter Ausgangs­punkt für eine steu­er­po­li­ti­sche Zusam­men­ar­beit auf globaler Ebene. Sie lebte in den letzten Jahr­zehnten gut davon, mit ihren tiefen Steuern andere Unter­neh­mens­stand­orte auszu­booten und den ökono­mi­schen Über­schuss, den Firmen anderswo produ­ziert haben, zu ihren Gunsten abzu­schöpfen. Diese Stra­tegie ist seit der Krise von 2008 durch neue Regu­lie­rungs­ver­suche der G20-Länder, der EU und der OECD unter poli­ti­schen Druck geraten. Weil der Steu­er­wett­be­werb und die Profit­ver­schie­bungen der Konzerne aber gleich­zeitig weiter­gehen, sind die Unter­neh­mens­steuern im globalen Vergleich seit 2008 trotz allem weiter gefallen. Das hat auch für die Schweizer Unter­neh­mens­steu­er­stra­tegie Konse­quenzen: Je enger der poli­ti­sche Spiel­raum für Steu­er­oasen wird und je tiefer die Konzern­be­steue­rung im inter­na­tio­nalen Vergleich sinkt, desto grösser werden auch die ökono­mi­schen, poli­ti­schen und sozialen Kosten, die ein Tief­steuer­ge­biet wie die Schweiz aufbringen muss, um im globalen Wett­rennen um das Kapital der Konzerne attraktiv zu bleiben.

In vielen Schweizer Kantonen spürt man jetzt schon die Folgen dieser chro­ni­schen Abwärts­spi­rale. Bald wird es unter den gegen­wär­tigen wirt­schafts­po­li­ti­schen Voraus­set­zungen ohne einschnei­dende Quali­täts­ver­luste bei der Bildung, der Gesund­heits­ver­sor­gung oder beim Kultur­angebot nicht mehr gehen. So scheint ein Struk­tur­wandel im Geschäfts­mo­dell Schweiz unum­gäng­lich. Schlimm wäre das nicht: Ein über­wie­gende Mehr­heit der Menschen in der Schweiz hätte, wie ihre Mitbür­ge­rinnen und Mitbürger in der Welt auch, ein genuines Inter­esse an einem steu­er­po­li­ti­schen Para­dig­men­wechsel, weil sie heute vom Schweizer Kapi­tal­im­port unter dem Strich nicht mehr profi­tieren. Und poli­tisch aussichtslos ist eine Schweizer Vorrei­ter­rolle für eine inter­na­tio­nale Steu­er­ko­ope­ra­tion an sich auch nicht: Als Knoten­punkt welt­weiter Kapital- und Waren­ströme verfügt das Land in der Steuer- und Finanz­po­litik über eine gute Portion trans­na­tio­naler Gestal­tungs­macht. Sie könnte sich der Welt daher für einmal auch ganz prak­tisch mit etwas andienen, was sie zumin­dest mythologisch-theoretisch schon seit jeher zu ihren Kern­kom­pe­tenzen zählt: Demo­kratie und der Einsatz für die Menschen­rechte.

Ausge­rechnet Cassis’ Stamm­tisch­land könnte zeigen, wie man sich die Welt – wie der fran­zö­si­sche Philo­soph Gilles Deleuze einst sagte – nicht von der eigenen Türschwelle aus vorstellt, sondern vom Hori­zont her.

Der Historiker Dominik Gross, Alliance Suds Steuerexperte, hat diesen Beitrag für den Blog Geschichte der Gegenwart verfasst.
Wer hinter dieser Publikation steckt, erfahren Sie hier. Wer die Website aufruft, wird eingeladen, den Newsletter von GdG zu abonnieren.

Medienmitteilung

Grosser Auftritt auf der Weltbühne

09.07.2018, Agenda 2030

Am 17. Juli wird Bundesrätin Leuthard in New York der UNO den Länder­bericht zur Umsetzung der Agenda 2030 vorlegen. Parallel zur offiziellen Delegation werden VertreterInnen der Zivilgesellschaft Klartext über die Halbherzigkeit der Schweiz reden.

Grosser Auftritt auf der Weltbühne

© Thomas Stallkamp / pixelio.de

Heute beginnt in New York das hochrangige politische Forum für nachhaltige Entwicklung (HLPF). Dieses UNO-Gremium ist zuständig für die Fortschrittsprüfung bei der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Dieses Jahr haben sich 47 Länder gemeldet, um ihre Fortschrittsberichte zu präsentieren. Am 17. Juli wird Bundesrätin Leuthard den UNO-Mitgliedstaaten den offiziellen Länderbericht der Schweiz vorstellen. Einen Teil der Schweizer Redezeit vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen überlässt die Bundesrätin einer jungen Vertreterin der Zivilgesellschaft: Sophie Neuhaus (29) ist die Leiterin Politik und Projekte International bei der SAJV, der Schweize­rischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände. Sie wird die Bedeutung der Agenda 2030 für die Jugend unterstreichen und über die Herausforderungen bei der Umsetzung der Agenda und deren Überprüfung in der Schweiz sprechen.

Alliance Sud, der Think and Do Tank der Schweizer Entwicklungsorganisationen, wird in New York den Bericht der Plattform Agenda 2030 vorstellen. Alliance Sud ist eine von über 40 Mitgliedsorgani­sationen dieses Zusammenschlusses der Schweizer Zivilgesellschaft. Der Bericht der Plattform Agenda 2030 zeigt deutlich, wo die Herausforderungen in der Schweiz bezüglich nachhaltiger Ent­wicklung liegen. Er stellt der Schweiz ein ehrliches Zeugnis aus, das wesentlich differenzierter ausfällt als der schöngefärbte Bericht des Bundesrats.

Insbesondere fordern Alliance Sud und die Plattform Agenda 2030, dass der Bundesrat innerhalb der Verwaltung eine zentrale Stelle schafft, die mit den nötigen Kompetenzen und Ressourcen ausgestat­tet ist, um die Implementierung der Agenda 2030 zu koordinieren und kohärent über alle Departe­mente durchzusetzen.

Artikel, Global

Mitsprache ist Voraussetzung für Entwicklung

07.10.2018, Agenda 2030

In funktionierenden Gesellschaften übernimmt die Zivilgesellschaft die Rolle eines kritischen Gegenübers der Regierung. Weltweit werden die Räume für Mitbeteiligung und kritische Auseinandersetzung von NGOs beschränkt oder gar ganz geschlossen.

Mitsprache ist Voraussetzung für Entwicklung

Der CIVICUS-Monitor misst die Freiheit der Zivilgesellschaft.
© https://monitor.civicus.org

Wir lesen und hören es fast täglich: Autokraten wie Putin, Orbán oder Erdoğan gehen gewaltsam gegen Proteste vor, lassen kritische Blogger und Journalistinnen verhaften, bedrohen sie mit dem Tod. Gewalt gegen diejenigen, die sich für ihre Rechte einsetzen, ist in vielen Ländern an der Tagesordnung. Dabei wird der Kampf für die eigenen Rechte und die Rechte benachteiligter Menschen immer gefährlicher. Letztes Jahr wurden in 27 Ländern 312 MenschenrechtsaktivistInnen umgebracht. Im gleichen Zeitraum verloren 207 UmweltschützerInnen ihr Leben. Ein Allzeithoch. 

Auch andere zivilgesellschaftliche Organisationen stehen verstärkt unter Druck. Betroffen sind in erster Linie Organisationen, die sich politisch engagieren, sich kritisch gegenüber der Regierung äussern, mehr Rechenschaft und Transparenz fordern. So wurden etwa in Kenia 2014-2015 rund 1500 NGOs von der Regierung geschlossen. Mitsprache, Transparenz sowie Rechenschaftspflicht der Politik gegenüber der Gesellschaft gehören jedoch zu den Grundlagen nachhaltiger Entwicklung. Denn politische Offenheit und Entwicklung gehen Hand in Hand. So sind Länder, deren Zivilgesellschaft von einem offenen, förderlichen und befähigenden Umfeld profitiert, im Uno-Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index HDI) höher gelistet als autoritäre Länder, deren Zivilgesellschaft in einem eingeengten, beschränkten oder gar völlig geschlossenen Umfeld agieren muss.

Wenn NGOs die Arbeit der Regierung machen

Von den Restriktionen sind darum auch jene Organisationen betroffen, die Dienstleistungen erbringen und sich für Entwicklung einsetzen, beispielsweise in den Bereichen Bildung oder Gesundheit. Oft füllen sie Lücken, welche Regierungen in Entwicklungsländern nicht füllen, sei es in abgeschiedenen Regionen, aufgrund mangelnder Ressourcen oder wegen schlechter Regierungsführung. Für die Begünstigten ist die Arbeit dieser Organisationen oft überlebenswichtig, weil sie hilft, Grundbedürfnisse zu decken. Um nachhaltige Resultate erzielen zu können, müssen diese Dienstleistungen jedoch begleitet sein von einer politischen Ermächtigung der Begünstigten: Diese müssen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte gegenüber der Regierung geltend machen zu können und sich selber für eine Verbesserung ihrer Situation und der Entwicklung in ihrer Region einzusetzen. Um tatsächlich eine nachhaltige Entwicklung zu fördern, muss die Entwicklungsarbeit darum begleitet werden von einer politischen Arbeit dieser Organisationen. 

Da auch autoritäre Regierungen den Dienstleistungsaspekt von Entwicklungsarbeit – ob auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene – durchaus anerkennen, lassen sie (zumindest vordergründig) unpolitische Nichtregierungsorganisationen oft gewähren. Denn die Finanzierung und Bereitstellung elementarer Grundversorgung durch andere kommt ihnen durchaus zupass. In der internationalen Zusammenarbeit liegt darum die Herausforderung in der Förderung und Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure, ohne dem Prinzip «Teile und herrsche» der Regierungen Vorschub zu leisten. Es geht darum, die Begünstigten in ihrer politischen Rolle zu stärken, so dass sie den notwendigen Wandel in der Gesellschaft voran bringen können. 

Gute Lösungen schliessen alle mit ein

Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen ist in der Entwicklungszusammenarbeit seit langem anerkannt. In der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung werden sie explizit als wichtige Partner für die erfolgreiche Umsetzung genannt. In einer funktionierenden Gesellschaft ist es wichtig, dass in einem inklusiven Prozess gemeinsamüber Entwicklungsperspektiven verhandelt wird. In einem geschlossenen Prozess innerhalb elitärer Kreise werden hingegen Lösungen favorisiert, von denen wenige profitieren. Je mehr Menschen einbezogen werden, desto inklusiver werden auch die Lösungen. 

Dies lässt sich besonders gut in ressourcenreichen Ländern erkennen. Je mehr Menschen über Verteilung und Nutzung der natürlichen Ressourcen entscheiden, desto mehr Menschen profitieren davon. 

Der erdölreiche Tschad illustriert diesen Zusammenhang gut: Seit Beginn der Ölförderung 2003 sind rund 13 Milliarden US-Dollar in die Staatskasse geflossen. Im Entwicklungsindex der Uno ist das Land jedoch weiter zurückgefallen und belegt aktuell den drittletzten Platz. Vom Gewinn aus dem Erdölexport profitiert eine kleine Elite rund um den Staatspräsidenten Idriss Déby Itno, der sich seit 27 Jahren an der Macht hält.1 Gemäss CIVICUS, dem globalen Netzwerk für Bürgerpartizipation, ist die Zivilgesellschaft im Tschad unterdrückt. 

Leave no one behind, der Leitgedanke der Agenda 2030, ist zentral zur Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung für alle: Niemand darf zurückgelassen werden, alle müssen beteiligt sein. Dieses Motto setzt voraus, dass insbesondere die Schwächsten einbezogen werden. Sie müssen sich selber für ihre Rechte einsetzen können und über Lösungen mitdiskutieren (gemäss dem Grundsatz nothing about us without us – nichts über uns ohne uns). Per Definition ist eine kritische Zivilgesellschaft, die sich für eine nachhaltige und inklusive Entwicklung einsetzt, das Gegenüber der staatlichen Autorität und braucht darum Raum, Anerkennung, Zugang zu Finanzierung und Vertrauen, um diese Rolle konstruktiv spielen zu können. Nicht wegdiskutieren lässt sich das Dilemma, dass sich NGOs zwar ausserhalb staatlicher Strukturen engagieren, gleichzeitig jedoch darauf angewiesen sind, dass diese ihren Raum schützen.

Der aktuelle Trend Richtung shrinking space schränkt genau diesen Raum ein. Das erfolgt auf verschiedene Arten: 

  • Die Regierung stellt übertriebene Anforderungen bezüglich Registrierung und offizieller Anerkennung einer Organisation oder bezüglich Berichterstattung über deren Arbeit.
  • Der Zugang zu Finanzierung wird erschwert oder gar verunmöglicht. Sei dies durch Massnahmen im Namen des Antiterrorkampfes oder durch die Stigmatisierung als «ausländische Agentin». 
  • Gewalt, Androhung von Gewalt oder Zulassen von Gewalt durch Dritte.


All dies führt zu einem Klima der Angst und Unsicherheit, das oft zu Selbstzensur führt, so dass sich zivilgesellschaftliche Akteure nicht mehr trauen, eigentlich Selbstverständliches einzufordern oder anzuprangern. 

1Brot für die Welt: Atlas der Zivilgesellschaft. Berlin, Januar 2018.

 
Gemeinsamer Lernprozess mit der DEZA

In der Schweiz spannen private und öffentliche Entwicklungsakteure seit mehreren Jahren zusammen, um dem Trend zu shrinking spacein Entwicklungsländern gemeinsam entgegenzutreten. 2016 wurde ein erster gemeinsamer Anlass organisiert. Am 14. September fand in Bern ein weiterer Anlass statt. Anhand von gemeinsam erarbeiteten Fallstudien in Myanmar, Tanzania und Kambodscha wurden konkrete Optionen diskutiert, wie staatliche und private Akteure den Handlungsspielraum ihrer lokalen Partner stärken können. 

Die Alliance Sud-Position

Die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz muss sich dem Trend, den Raum der Zivilgesellschaft zu beschneiden, in ihren Partnerländern entgegen stellen. Der Schutz der Zivilgesellschaft ist eine Kernaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit. Denn nur wenn eine offene Debatte, eine inklusive, demokratische Willensbildung möglich ist, können Rechte erkämpft und durchgesetzt, Eliten zur Rechenschaft gezogen sowie Missstände überwunden werden; und damit eine nachhaltige Entwicklung für alle realisiert werden. Auch in der Schweiz musste vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, erst erkämpft werden. Sei es das Frauenstimmrecht oder die Rechte für Menschen mit Behinderungen. 

Global Logo

global

Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Artikel, Global

Den Widerstand weiterdenken

07.10.2018, Agenda 2030

Nicht nur in autoritär regierten Ländern sind Menschenrechts- und DemokratieaktivistInnen im Visier der Mächtigen. Zeit, um neue Visionen und Strategien zu entwickeln.

Den Widerstand weiterdenken

Demonstration in der georgischen Hauptstadt Tiflis gegen das Abhören von Telefonen (März 2016).
© CIVICUS

Noch vor wenigen Jahren konnten wir uns am Beginn einer neuen Ära wähnen, in der Menschen, Bürgerinnen und Bürger ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. In der arabischen Welt gab es Volksaufstände, im Westen die Occupy-Bewegung und überall die neuen Möglichkeiten, digitale Kampagnen zu führen; es war eine inspirierende und optimistische Zeit. Aber für jene, die sich täglich mit den Herausforderungen beschäftigen, denen die Zivilgesellschaft ausgesetzt ist, ist die zarte Morgenröte längst durch dunkle Wolken abgelöst worden. Weltweit wird systematisch gegen jene vorgegangen, die sich neue Räume erobert haben. Um dieser Entwicklung zu begegnen, müssen wir uns radikal neue Ansätze überlegen, dabei sind Entschlossenheit und Einfallsreichtum gefragt.

Die neusten Erkenntnisse aus dem CIVICUS Monitor, einem Instrument, das die  Bedingungen für Bürgeraktionen auf der ganzen Welt erfasst, zeigen, dass in 109 Ländern die Bürgerinnen und Bürger mit Problemen konfrontiert sind, wenn sie sich engagieren. Mit zunehmender Tendenz. In den letzten zwölf Monaten sind die Angriffe auf die Grundfreiheiten dreister geworden, und dies auch in Ländern, in denen sie früher die Ausnahme waren. Einschränkungen des Rechts, sich zu organisieren, die Beschneidung von Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit beobachten wir nicht mehr bloss in fragilen Staaten und Autokratien; sie kommen auch in gefestigten Demokratien vor – es ist beunruhigend, wie allgegenwärtig sie geworden sind. 

Schikanen ohne Ende

Die zehn wichtigsten Verletzungen der bürgerlichen Freiheiten auf der ganzen Welt sind heutzutage: Inhaftierung von AktivistInnen, Angriffe auf JournalistInnen, Zensur, Verhinderung oder Auflösung von Protesten, Anwendung übermässiger Gewalt, Belästigung oder Einschüchterung sowie bürokratische und legislative Hürden, welche die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen erschweren. 

Das Vorgehen gehen Bürgerbewegungen ist mittlerweile so verbreitet, dass es aus fast jedem Kontext in unserem Netzwerk zahlreiche Beispiele gibt. Im Iran wurden seit Anfang des Jahres Dutzende von Umweltaktivisten wegen unbegründeter Vorwürfe der Spionage festgenommen, viele davon werden in Einzelhaft und ohne Zugang zu Rechtsbeistand festgehalten. Seit den Protesten von Ende 2017 befinden sich über 150 Schülerinnen und Schüler in Haft, deren Familien von den Behörden unter Druck gesetzt werden, sie und ihre Handlungen öffentlich zu verurteilen. Wer in Guatemala die Menschenrechte verteidigt, lebt gefährlich. Seit Januar wurden 18 Aktivisten getötet und mindestens 135 angegriffen, viele davon bei Protesten gegen die Vertreibung von Grund und Boden, den ihre Gemeinschaften seit Menschengedenken bebaut haben. 

China als globaler Schrittmacher

In China, einem Land, das im globalen Süden häufig als Modell für politische Stabilität und wirtschaftlichen Erfolg gesehen wird, wird das zivilgesellschaftliche Engagement besonders stark eingeschränkt. Eine Reihe restriktiver neuer Gesetze zur nationalen Sicherheit und Terrorismusbekämpfung hat zu immer noch mehr Inhaftierungen von «Dissidenten» geführt. Das neue nationale Geheimdienstgesetz gewährt den Behörden weitreichende Befugnisse zur Überwachung von Personen und Institutionen im In- und Ausland, während das Gesetz über die Aktivitäten ausländischer NGOs es der Polizei ermöglicht, deren Finanzierungsquellen, Personal und Aktivitäten zu kontrollieren. Die unerbittliche Verfolgung von Kritikern hat zu Massenverhaftungen von Anwälten und Aktivistinnen geführt, Websites, die zum friedlichen Dialogs aufriefen, wurden geschlossen, regelmässig verhindern Sicherheitskräften legitime friedliche Proteste. 
Dass so viele andere Länder dem chinesischen Modell nacheifern, wird zum Problem. Denn der Erfolg Chinas beruht auf der Verletzung grundlegendster Rechte der chinesischen Bevölkerung. Heute stellt diese Tatsache eine echte Bedrohung für die Bürgerrechte auch in anderen Teilen des globalen Südens dar.

Und trotz alledem bleibt die Geschichte der Zivilgesellschaft nicht eine der Entmachtung, sondern eine des entschlossenen Widerstands. Allein im letzten Jahr haben wir gesehen, wie sich die Menschen Land für Land auf neue und kreative Weise engagiert haben, um die bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen, für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und fortschrittliche Werte zu kämpfen, angemessene Dienstleistungen zu verlangen, sich gegen Korruption, Wahlbetrug und Verfassungsfälschung auszusprechen; die Bürgerinnen und Bürger sind sich in ihrer nachhaltigen Entschlossenheit einig, dass sie einen positiven Wandel herbeiführen wollen. 

Dabei waren und sind wir durchaus erfolgreich, doch es braucht noch mehr als den Widerstand Tag für Tag. Wenn wir daran gehindert werden, uns zu wehren und zu entfalten, so müssen wir darauf überzeugende, tragfähige Antworten und Alternativen haben. Die Zivilgesellschaft ist gefordert, eine positive Vision für eine andere, bessere Welt zu formulieren.

Um eine solche Vision zu erarbeiten, müssen sich die Akteure der Zivilgesellschaft lokal, national und international vernetzen, Online-Aktivismus mit Offline-Aktionen verknüpfen, gemeinsame Anliegen finden und in progressiven Allianzen zusammenarbeiten. Und wir müssen uns weigern, den internationalen Rahmen unserer Arbeit preiszugeben. Denn wir wissen, dass die heutigen Probleme nicht mit nationalistischen Lösungen gelöst werden können, nein, sie erfordern einen fortschrittlichen, auf die Menschen ausgerichteten Multilateralismus. Wir müssen die demokratischen Institutionen wieder aufbauen, dafür sorgen, dass die Stimmen ausgegrenzter Gruppen und lokaler Gemeinschaften in Regierungen gehört werden, die heute von Partnerschaften zwischen Regierung und Privatsektor dominiert werden; wir müssen für starke, unabhängige Medien eintreten, die auf einem gemeinsamen Interesse an Transparenz und Rechenschaftspflicht beruhen; und wir werden weiterhin und unermüdlich für ein offenes Internet und eine digitale Welt kämpfen, in der unsere demokratischen Rechte geschützt und gewahrt werden. 

In all diesen individuellen, miteinander verbundenen Kämpfen ist es unsere Pflicht, das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren. Die grosse Herausforderung sind nicht die kurzfristig gegen uns gerichteten Angriffen, es geht um mehr: Uns verbindet die Vorstellung einer partizipativeren, substantiellen Demokratie für eine radikal veränderte Welt. 

Dr. Dhananjayan Sriskandarajah ist Generalsekretär von CIVICUS, der globalen Allianz der Zivilgesellschaft und Mitglied des hochrangigen UNO-Gremiums für digitale Zusammenarbeit. Ende Jahr wechselt er als neuer CEO zu Oxfam UK.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Meinung

NEIN zur SBI der SVP: Die Argumente

22.10.2018, Agenda 2030

Alliance Sud und ihre Träger- und Partnerorganisationen engagieren sich gegen die sogenannte Selbstbestimmungsinititiave (SBI) der SVP.

NEIN zur SBI der SVP: Die Argumente

Zusammen mit zahlreiche Menschenrechts-, Entwicklungs- und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagiert sich Alliance Sud für eine NEIN gegen die hochproblematische Vorlage, über die am 25. November 2018 abgestimmt wird.

Das sind unsere Argumente.

Artikel, Global

Zankapfel Migrationspakt

10.12.2018, Agenda 2030

Die Schweizer Politik hat in den letzten Wochen ein unwürdiges Bild abgegeben. Das Gezänk über die wohlabgewogene Absichtserklärung der Uno gibt einen Vorgeschmack auf das Wahljahr 2019.

Zankapfel Migrationspakt

Mark Herkenrath, Geschäftsleiter Alliance Sud.
© Daniel Rihs/Alliance Sud

Die nächsten eidgenössischen Parlamentswahlen finden zwar erst im kommenden Oktober statt, doch der Wahlkampf hat bereits begonnen. Sein erstes Opfer: der Uno-Migrationspakt. Weil sie den nationalkonservativen Teil der Stimmbevölkerung nicht einfach der SVP überlassen wollen, wettern auch die FDP und grosse Teile der CVP gegen das rechtlich unverbindliche Dokument, das nichts anderes ist als eine wohlabgewogene Absichtserklärung der Vereinten Nationen.

Die Kritiker des Paktes geben vor, sich um Arbeitsplätze, sozialstaatliche Errungenschaften und die kulturelle Identität der Schweizer Bevölkerung zu kümmern. Sie giessen aber bloss Öl ins Feuer. Besonders beliebt — und besonders irreführend — ist die Behauptung, der Pakt würde die Massenmigration aus Entwicklungsländern, insbesondere aus Afrika, weiter anheizen. Welche Massenmigration aus Afrika damit wohl gemeint ist?

Ein paar Fakten täten der aktuellen politischen Diskussion gut. Wussten Sie zum Beispiel, dass rund 83% aller in die Schweiz Eingewanderten aus Europa stammen und weitere 4% aus den USA und  Kanada? Menschen mit einem afrikanischen Pass machen nur gerade 1,3% der Schweizer Wohnbevölkerung aus. 2017 wanderten netto 4307 Personen aus Afrika in die Schweiz ein. Das macht pro Kopf der Schweizer StaatsbürgerInnen gerade einmal 0.0007 afrikanische ZuwandererInnen.

Die Schweiz ist also fast nur für EuropäerInnen ein Einwanderungsland. Junge Menschen aus afrikanischen und anderen Entwicklungsländern, die ihre Lebensperspektiven verbessern wollen, können sich den Weg in die Schweiz in der Regel gar nicht leisten. Und ihre Arbeitschancen in der Schweiz tendieren gegen null. Wollte man die Migration in die Schweiz massgeblich bremsen, müsste das Freizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt werden. Ein Anliegen, mit dem die SVP alleine dasteht. Deren – dieses Mal wenigstens klar formulierte – Volksinitiative werden FDP und die CVP aus guten Gründen bekämpfen.

Weder ist Migration ein Sonntagsspaziergang, noch ist Integration ein Kinderspiel. Aber das behauptet auch niemand. Bekannt – und durch zahlreiche Studien belegt – ist hingegen, dass Migration in den Zielländern einen grossen wirtschaftlichen Nutzen hat. Und dass sie über Rücküberweisungen, Wissenstransfers und intensivierte Handelsbeziehungen gleichzeitig auch zum Wohlergehen der Herkunftsländer beiträgt.

Der neue Migrationspakt der Uno will Migration so gestalten, dass sie kein Land überfordert, allen Betroffenen einen möglichst grossen Nutzen bringt und die MigrantInnen und Migranten vor Ausbeutung schützt. Es ist ausgesprochen bedenklich, dass sich die Schweiz aus wahlstrategischen Gründen vorderhand von diesem vernünftigen Anliegen verabschiedet hat.

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Artikel, Global

Es braucht endlich Nachhaltigkeitsprüfungen!

10.12.2018, Agenda 2030

Nachhaltigkeit darf kein Wunschkonzert sein. Nähme sie der Bundesrat ernst, müsste ihre Überprüfung auch in Freihandelsabkommen eine Selbstverständlichkeit sein.

Es braucht endlich Nachhaltigkeitsprüfungen!

Auf der Palmölplantage Daya Labuhan Indah (DLI) kommt Chemie zum Einsatz, Labuhanbatu, Nord-Sumatra, Indonesien.
© Chris de Bode / Panos

Anfang November hat die Schweiz1 die Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen mit Indonesien abgeschlossen. Es war im Parlament aus demselben Grund heftig umstritten wie jenes mit Malaysia: Es ging und geht um die Frage, wie mit dem meist wenig nachhaltig angebauten Palmöl aus Südostasien umgegangen werden soll. Ausserdem laufen zurzeit noch FHA-Verhandlungen mit Indien, Vietnam sowie dem südamerikanischen Freihandelsbündnis Mercosur (Paraguay, Uruguay, Argentinien und Brasilien), das aus einer Vielzahl von Gründen diskutabel ist (s. Artikel in global #71/2018). Wie es bei Freihandelsverhandlungen die Regel ist, finden auch diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Nichtsdestotrotz sind die Risiken auch in diesen Fällen bekannt: Verletzliche Sektoren könnten ungenügend geschützt, kleinbäuerliche Strukturen zugunsten der Agroindustrie hart getroffen werden. Umweltprobleme, welche die Agroindustrie verursacht, könnten zunehmen, in Südamerika stehen Industriejobs im grossen Stil auf dem Spiel.

Stimmen die Rahmenbedingungen, so können Handelsabkommen positive Auswirkungen für eine Mehrheit der Betroffenen haben. Stimmen diese jedoch nicht, so steht primär für die Länder im globalen Süden sehr viel auf dem Spiel. Handelsabkommen sollten nachhaltiger Entwicklung nicht zuwider laufen. Zu echter Nachhaltigkeit gehört neben der wirtschaftlichen und der Umwelt- auch die soziale Dimension. Die Agenda 2030, das von allen UN-Mitgliedern verabschiedete Dokument zur nachhaltigen Entwicklung, beinhaltet eine Vielzahl von Zielen und Unterzielen, die für Handelsabkommen relevant sind. Zum Beispiel verschiedene Punkte im Ziel 8, die Arbeitsplätze und -bedingungen  ansprechen, oder aber das Ziel 17.15, welches den Respekt vor dem politischen Handlungsspielraum (policy space) von Vertragspartnern verlangt.

Klare Worte der GPK-N

Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK-N) hat im Juli 2017 einen Bericht zu den «Auswirkungen von Freihandelsabkommen» veröffentlicht. Die erste Empfehlung dieses Berichts ist eine Aufforderung, Nachhaltigkeitsprüfungen durchzuführen. Begründet wird dies mit den Nachhaltigkeitsgrundsätzen in der Schweizer Verfassung,2  der Strategie Nachhaltige Entwicklung (SNE) und ausführlich mit der Agenda 2030. Im Bericht der GPK wird klar, dass sie das Fehlen von Nachhaltigkeitsprüfungen für einen offensichtlichen Fall von fehlender Politkohärenz hält: Der Bundesrat betont zwar die Wichtigkeit der nachhaltigen Entwicklung, lässt dem aber keine Taten folgen. In den Worten der GPK:

«Vor diesem Hintergrund ist für die GPK-N die bisher aus grundsätzlichen Überlegungen erfolgte Ablehnung von Nachhaltigkeitsstudien im Vorfeld von potenziellen FHA nicht kohärent mit strategischen Vorgaben des Bundes. Der Bundesrat sollte über die bestmöglichen Informationsgrundlagen verfügen, um zu entscheiden, ob ein FHA abgeschlossen werden soll oder nicht. Zu diesen Informationsgrundlagen sollten nach Ansicht der Kommission grundsätzlich soweit zweckmässig auch die Resultate von Nachhaltigkeitsstudien gehören. Die bisher aus grundsätzlichen Überlegungen erfolgte Ablehnung der Durchführung der entsprechenden Studien widerspricht der Betonung der Bedeutung der Nachhaltigkeit durch den Bundesrat.»

Die GPK erwähnt, dass solche Prüfungen jeweils mit dem Hinweis auf eine nicht ausreichende Methodologie abgelehnt wurden. Sie lässt dies als Argument jedoch nicht gelten und weist darauf hin, dass auch die EU und die USA solche Prüfungen durchführen.

In seiner Antwort auf den GPK-Bericht hatte der Bundesrat erneut kein Musikgehör für diese Empfehlung und lehnte sie mit demselben Hinweis auf die fehlende Methode, die Datenlage und das Kosten-Nutzen-Verhältnis besonders im sozialen Bereich erneut ab. Immerhin erklärte er sich bereit, «anstelle von umfassenden Nachhaltigkeitsstudien von Fall zu Fall gezielte Umweltverträglichkeitsstudien durchzuführen». Solche sind allerdings schon im «Aktionsplan Grüne Wirtschaft» aus dem Jahr 2013 verankert. Sie sind ein wichtiger und begrüssenswerter Schritt in die richtige Richtung, reichen aber nicht aus. Auch die soziale Dimension der Nachhaltigkeit sollte in solche Überprüfungen Eingang finden.

Keine Frage, es ist komplex

Nachhaltigkeitsüberprüfungen für Freihandelsabkommen sind schon länger ein Thema. So hatte beispielsweise Carlo Sommaruga 2009 eine Motion eingereicht, die eine Nachhaltigkeitsprüfung des Freihandelsabkommen mit China nach dem Modell der Sustainability Impact Assessments verlangte. Der Bundesrat lehnte den Vorstoss mit Verweis auf die hohe Komplexität, die fehlenden Daten und die hohen Kosten ab. Zwar sind Nachhaltigkeitsüberprüfungen nach dem Modell der EU tatsächlich kostspielig und komplex. Aber auch andere Modelle sind denkbar. Aus entwicklungspolitischer Sicht ist das Credo der UNO-Agenda 2030 Leave no one behind («niemanden zurücklassen») zentral: Es ist wesentlich, die verletzlichsten Gruppen zu identifizieren und die Auswirkungen von Freihandel auf diese Gruppen zu untersuchen. Olivier De Schutter, der frühere UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, hat beispielsweise Richtlinien für Menschenrechtsfolgeabschätzungen (Human Rights Impact Assessments, kurz HRIA) entwickelt, die dieses Anliegen aufnehmen. Sie wären ein weiterer Schritt in die richtige Richtung und würden die soziale Dimension mindestens teilweise einschliessen.

Unterstützt wird dies auch von Uruguay, einem der Schwellenländer, mit denen die Schweiz derzeit ein Freihandelsabkommen aushandelt. Die dort regierende Mitte-Links-Koalition Frente Amplio hat Leitlinien für Freihandelsabkommen entwickelt, die unter anderem eine ex-ante Folgenabschätzung für die nachhaltige Entwicklung verlangen.

Ohne hier auf methodische und teils sehr technische Details einzugehen, lässt sich festhalten, dass es durchaus eine Debatte um diese Methoden gibt. Wobei den Debattierenden durchaus bewusst ist, dass Zeit und Ressourcen für solche Überprüfungen beschränkt sind. Darum beinhaltet die Diskussion auch die Frage, wie die Prioritäten mit einem Fokus auf die verletzlichsten Gruppen richtig gesetzt werden können.

Alliance Sud hält es für fragwürdig, dass der Bundesrat Nachhaltigkeitsüberprüfungen seit bald zehn Jahren mit Hinweis auf methodologischen Schwierigkeiten ablehnt, ohne sich um die Entwicklung einer solchen Methode zu bemühen. Denn davon ist in der bundesrätlichen Stellungnahme zum GPK-N-Bericht weiterhin nicht die Rede.

Verschiedenste Akteure führen Nachhaltigkeitsprüfungen oder Menschenrechtsfolgenabschätzungen durch und entwickeln mögliche Methoden stetig weiter. Statt dieser Entwicklung den Rücken kehren, sollte der Bundesrat dazu beitragen, dass angemessene Instrumente zur Anwendung kommen, die allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit den ihnen gebührenden Stellewert beimessen.

 

1Die Schweiz hatte den Lead im Rahmen der Verhandlungen der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA, der sie zusammen mit Norwegen, Island und Liechtenstein angehört.
2Artikel 2, Absatz 1 und Artikel 73, BV

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Artikel

Die neuen unheimlichen Patrioten

18.01.2019, Agenda 2030

Die Diskussion über den Uno-Migrationspakt zeigt: In der Schweiz sind die Positionen unheimlicher Patrioten in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die neuen unheimlichen Patrioten

Keine Frage, die Vereinten Nationen sind weit davon entfernt, ihr wichtigstes Ziel, die Sicherung des globalen Friedens zu garantieren. Nicht nur im Syrien- und im Jemenkrieg blockieren sich die fünf ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats (USA, Russland, China, Grossbritannien, Frankreich) regelmässig per Veto. So verheerend das ist, so wenig ändert das daran, dass die Welt letztlich zur multilateralen Zusammenarbeit verdammt ist, sei es in Sicherheitsfragen, der Klimapolitik oder eben auch wenn es um Migration geht.

Raufen sich die DiplomatInnen der Staatengemeinschaft zusammen und formulieren in zäher Kleinarbeit sogenanntes soft law – politisch bindende, aber rechtlich nicht einklagbare Absichtserklärungen (wozu auch die Uno-Agenda 2030 mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung gehört), so sind das austarierte Kompromisse; nicht mehr und nicht weniger als der kleinste gemeinsame Nenner, der zwar etwas langweilig, aber eben auch ziemlich vernünftig ist, denn grosse Würfe mit Ecken und Kanten bleiben im Verhandlungsprozess auf der Strecke. So stipuliert der «Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration», wie der Uno-Migrationspakt offiziell heisst, eine ganze Reihe von Selbstverständlichkeiten: Migration ist ein Phänomen, das es schon immer gegeben hat und immer geben wird. Die Bedingungen von Migration sollen international im Dialog geregelt, Migration soll entkriminalisiert werden. Das von den Staaten gemeinsam zu verfolgende Ziel soll sein, humanitäre Katastrophen zu verhindern, die mit informeller, irregulärer oder illegaler Migration einhergehen. So weit, so banal.

Doch wie ist die Diskussion über den Migrationspakt in der Schweiz verlaufen? Es war ein unwürdiges Spektakel, das gezeigt hat, wie weit die politische Debatte in den letzten Jahren in der Schweiz nach rechts gerückt ist. Es begann damit, dass es der Bundesrat – obwohl die Schweizer Diplomatie bei der Erarbeitung des Pakts eine wichtige moderierende Rolle gespielt hatte – verpasste, offen und proaktiv eine ernsthafte Debatte um die Zukunft der globalen Migration anzuführen. Im Gegenteil, der für das Dossier zuständige Aussenminister Ignazio Cassis liess postwendend Verständnis für jene Kreise anklingen, die beim Stichwort Migration den Untergang des christlichen Abendlands an die Wand zu malen pflegen.  

Es sind dieselben Kreise, die in der Schweiz vor vierzig Jahren im Buch «Die unheimlichen Patrioten» (Limmat Verlag) beschrieben worden sind. Die Autoren Jürg Frischknecht, Peter Haffner, Ueli Haldimann und Peter Niggli durchleuchteten damals rund 1000 Schweizer Personen und deren nationalkonservativen, klerikal-faschistischen oder offen rechtsextremen Positionen und Aktivitäten. Was die unheimlichen Patrioten damals wie heute verband, war ihre Ablehnung der Uno und eines offenen Zugangs der Schweiz zur Welt. 1979 beim Erscheinen des Buchs war die Einwanderung in die Schweiz fast ausschliesslich auf wenige südeuropäische Herkunftsländer beschränkt. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten, infolge von Kriegen, Krisen und Konflikten, aber auch der Phase der Hyperglobalisierung geändert. Heute bezeichnet eine Studie der ETH-Konjunkturforschungsstelle KOF die Schweiz als das am stärksten globalisierte Land der Welt, das mithin auch zu den grössten Profiteuren internationaler Verflechtung gehört. Die Schweiz ist dadurch in den letzten Jahrzehnten kulturell vielfältiger und farbiger geworden, eine Entwicklung, mit der sich Ängste schüren und Ressentiments bewirtschaften lassen. War dieses Politikmodell Ende der 1970er Jahre noch weitgehend den unheimlichen Patrioten aus der politischen Schmuddelecke vorbehalten, so sind heute auch prominente VertreterInnen der sogenannt staatstragenden Parteien FDP und CVP vorne weg mit dabei, wenn es darum geht, mit der Angst vor «Überfremdung» und vermeintlichem Souveränitätsverlust Stimmung zu machen. Der Migrationspakt widerspricht zwar in keinem einzigen Punkt den Grundlagen der – in den letzten Jahren mehrmals verschärften  ­­̶   schweizerischen Asyl- und Migrationspolitik, doch die Vereinten Nationen, diese alles andere als perfekte Organisation, war schon immer ein Lieblingsfeindbild der unheimlichen Patrioten. Mit ihrer Kritik am Multilateralismus sind ihre heutigen Wiedergänger dabei in bezeichnender Gesellschaft: An der Uno-Generalversammlung vom 19. Dezember in New York stimmten die USA, Ungarn, Tschechien, Polen und Israel gegen den Pakt. Zusammen mit elf anderen Ländern hat sich die Schweiz der Stimme enthalten hat (weitere 24 nahmen an der Abstimmung gar nicht teil). Es ist ein bedenkliches Signal, das die Schweiz da ausgesendet hat.

Vorgeschobene Argumente

Ein Teil der Diskussion um den Uno-Migrationspakt hatte sich schnell auf die Frage verlagert, ob es richtig sei, dass der Bundesrat multilateral verhandeltes soft law in Eigenregie, also ohne Konsultation des Parlaments, unterzeichnen und ratifizieren dürfe. Das ist zwar eine interessante staatsrechtliche Frage, wer genau hinhörte, merkte jedoch schnell, dass es in den meisten Fällen ein billiges vorgeschobenes Argument war, um gegen die Uno zu polemisieren und mit dem Migrationsthema bei den Verängstigten und Globalisierungsverlierern zu punkten. Dass der Uno-Migrationspakt jetzt auch im National- und im Ständerat diskutiert wird, ist kein Drama, auch wenn sich die Unterschrift der Schweiz unter den Pakt dadurch verzögert; die Staatengemeinschaft ist sich gewohnt, wie langsam die demokratischen Mühlen in der Schweiz mahlen. Und gegen eine differenzierte Debatte über die Gründe und Hintergründe von Migration ist in einer offenen Gesellschaft sicher nichts einzuwenden, im Gegenteil, zu vielfältig sind die damit verbundenen Herausforderungen, Chancen und Risiken. In dieser Debatte würde auch klar, wie stark die Schweiz in ihrer Geschichte von Migration profitiert hat und wie lächerlich gering der Schweizer Beitrag zur Lösung globaler Migrationsprobleme in den letzten Jahren war. Auf eine solche Migrationsdebatte ohne populistische Verzerrungen zu hoffen, die den unheimlichen Patrioten Wind aus den Segeln nähme, wäre allerdings naiv. Wenn der Migrationspakt letztlich die nötige Zustimmung im Parlament findet, dann einfach darum, weil sein Inhalt vernünftig ist. Auf dem Weg dorthin werden die unheimlichen Patrioten weiterhin jede sich bietende Gelegenheit nutzen, multilaterales Handeln schlecht zu machen, Ressentiments gegen Muslime zu schüren und mit der fake news «bedrohte nationale Souveränität» Wahlkampf zu machen. Das ist übel und nicht immer einfach auszuhalten, aber in einer Demokratie gehört es zu den Spielregeln, dass auch Unvernünftige und Ewiggestrige mitmachen und hochtrabend Unsinn verbreiten dürfen. Oder wie sollen wir NZZ-Chefredaktor Eric Gujer verstehen, wenn er in einem Leitartikel zum Uno-Migrationspakt verkündet, die «Ära der Werte» sei vorbei und mit kaum verhüllter martialischer Rhetorik vom «Rollback der Realpolitik» schwärmt?

Dieser Text wurde erstmals im Aufbruch veröffentlicht.

Artikel

Das Wahljahr 2019 aus NGO-Sicht

01.02.2019, Agenda 2030

Die Schweiz muss endlich aufhören, die Ungleichheit auf der Welt zu fördern und davon zu profitieren, fordern Silva Lieberherr von der NGO Multiwatch und Jürg Staudenmann von Alliance Sud im grossen Interview mit der Wochenzeitung WOZ.

Das Wahljahr 2019 aus NGO-Sicht

WOZ: Jürg Staudenmann, sind Sie überrascht, wie schnell sich der Klimastreik von Schülerinnen und Schülern auch in der Schweiz ausgebreitet hat?

Jürg Staudenmann: In erster Linie bin ich natürlich begeistert und auch ein wenig erleichtert, dass sich endlich eine neue Klimabewegung zu manifestieren beginnt. Diese jungen Leute wollen sich nicht mehr von der Politik vorführen lassen. Sie wissen, es geht um ihre Zukunft, und sie sagen, es ist nicht in Ordnung, dass Klimapolitik von Partikularinteressen bestimmt wird. Es geht um Klimagerechtigkeit.

Eine der Forderungen lautet, den Klimanotstand auszurufen. Teilen Sie diese Forderung?

Staudenmann: Das trifft die Sache genau. Der Begriff «Klimawandel» ist ja halbwegs neutral. Immerhin begann man von einer «Klimakrise» zu sprechen, als die negativen Konsequenzen spürbar wurden – das Schmelzen der Gletscher, unberechenbares Wetter. Mit der Ausrufung des Notstands würden wir auch die dritte Dimension anerkennen, die soziale Dringlichkeit. Während wir bei uns noch diskutieren, wie die Klimaveränderung einzudämmen ist, leiden weltweit bereits Millionen darunter. Vor allem Menschen, die nichts zur Klimaveränderung beigetragen haben.

Silva Lieberherr: Wenn ich bei der Arbeit für Brot für alle mit Bäuerinnen und Bauern im Globalen Süden über ihre Probleme rede, dann ist der Klimawandel für sie keine Frage, sondern eine Realität. Sie sind ständig bedroht, und deshalb entsteht sehr viel Wut gegenüber dem System, das ihn verursacht.

Nun gibt es auch bei der neuen Bewegung einen Slogan, der oft zu vernehmen ist: «System change, not climate change». Ich sehe das auch so wie viele der jungen Demonstrantinnen und Demonstranten, dass wir nämlich im heutigen kapitalistischen System die Klimakrise nicht bewältigen können.

Kann sich diese Bewegung auch auf parlamentarischer Ebene auswirken – bei den Wahlen im Herbst?

Staudenmann: Die Mehrheit des heutigen Parlaments scheint uneinsichtig: Da haben die Bürgerlichen die Zeichen der Zeit verpasst. Sie ignorieren den Notstand und glauben, es könne irgendwie schon so weitergehen wie bisher. Es ist naiv und arrogant zugleich, wenn der Nationalrat beschliesst, die Schweiz brauche kein inländisches Klimaziel mehr. Das wird abgestraft, da bin ich hoffnungsvoll. Es liegt Veränderung in der Luft.

Lieberherr: Das denke ich auch. Es gibt viele Proteste, nicht nur der Jungen, sondern etwa auch die Aktionen der Klimaseniorinnen. Allerdings muss man nicht nur aufs Parlament und die Emissionen im Inland schauen, sondern genau analysieren, wie die Schweiz zur Klimaerwärmung beiträgt. Sie ist klein, ja, aber sie dient als Finanzplatz, und wenn man dessen Auswirkungen berechnet, dann sind die sehr viel grösser als das, was die Menschen in der Schweiz zusammen verursachen.

Staudenmann: Tatsächlich konzentriert sich die Schweizer Klimapolitik ausschliesslich auf die inländischen Emissionen. Dass wir fliegen und dass wir die Schwerindustrie ausgelagert haben, wird ausgeklammert, und verglichen mit dem nationalen Treibhausgasausstoss, sind die Auswirkungen des Finanzplatzes 22-mal so gross. Die global vernetzte Schweiz ist eben nicht so klein, wie uns immer weisgemacht wird, sondern trägt drei bis vier Prozent zur globalen Klimaerwärmung bei.

Lieberherr: Dazu kommt der Rohstoffhandel. Die Verantwortung für den weltweiten Handel mit Öl und Kohle, der zu einem grossen Teil über Genf und Zug läuft, wird ebenfalls ausgeklammert.

Die Konzernverantwortungsinitiative setzt zwar nicht beim Klima, aber zumindest bei der sozialen Verantwortung hier ansässiger Firmen an. Der Nationalrat hat einige entsprechende Forderungen in einen Gegenvorschlag aufgenommen. Silva Lieberherr, würde Multiwatch einem Rückzug der Initiative zustimmen, wenn auch der Ständerat diesen Gegenvorschlag absegnet?

Lieberherr: Multiwatch unterstützt die Initiative gemeinsam mit vielen weiteren Organisationen. Wir haben zusammen entschieden, dass wir dem Gegenvorschlag zustimmen würden. Aber für Multiwatch ist klar, dass es zu keinen weiteren Zugeständnissen kommen darf, denn die Abstriche sind jetzt schon sehr schmerzhaft.

Gerade bei der Umweltverantwortung …

Lieberherr: Die Verpflichtung, minimale Umweltstandards zu respektieren, bleibt. Aber sie gilt zum Beispiel nur noch für grosse Konzerne und ihre Tochtergesellschaften. Dafür hat der Gegenvorschlag den grossen Vorteil, dass schnell etwas umgesetzt werden könnte. Schnell und konkret: Das wäre schon mal gut.

Staudenmann: Der Gegenvorschlag könnte eine raschere Verbesserung für die Menschen vor Ort bringen. Wenn der Ständerat aber weitere Abschwächungen will, sind wir weg vom Verhandlungstisch, dann gehts in den Abstimmungskampf. Die Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren.

Schon das Entgegenkommen des Nationalrats war ja doch eher erstaunlich. Worauf führen Sie das zurück?

Staudenmann: Ich glaube, der Nationalrat hat hier schneller erkannt, wie breit die Unterstützung für das Anliegen in der Bevölkerung ist. Im Grunde ist es wie bei den Klimastreiks: Immer mehr Menschen wollen Gerechtigkeit, wollen nicht mehr zu denen gehören, die die Probleme der Welt verursachen.

Lieberherr: Beide Anliegen können zu einer progressiveren Mobilisierung beitragen. Es ist schon erstaunlich, wie viel jetzt über das Verhalten der Konzerne geredet wird. Und wenn dann erste Konzerne für ihre Verfehlungen geradestehen müssen, dann wäre das für unsere Kämpfe sehr motivierend.

Und dann würde man eine neue, weiter gehende Initiative starten?

Lieberherr: Eine Konzernabschaffungsinitiative zum Beispiel (lacht). Aus linker Perspektive muss man die Konzernverantwortungsinitiative als ersten Schritt sehen. Man kann die schlimmsten Auswirkungen der grössten Konzerne abmildern. Aber gerade der Klimanotstand wird damit natürlich nicht gelöst.

Immerhin könnte die Schweiz mit der Initiative international wieder mal ein positives Zeichen setzen.

Lieberherr: Angesichts der Grösse des Wirtschaftsstandorts hätte es tatsächlich Signalwirkung. Obwohl es in anderen Ländern schon entsprechende Regelungen gibt, etwa in Frankreich, den Niederlanden, Kanada und Grossbritannien, wo Klagen gegen Konzerne bereits möglich sind. Und es gibt eine internationale Bewegung gegen die Straffreiheit für Konzerne.

Das bietet viele Möglichkeiten für konkrete internationale Solidarität, wie wir es bei unserer Organisation machen, etwa am Beispiel der Kohleminen. Es ist immer eindrücklich, wenn man vor Ort sieht, was Kohleabbau wirklich bedeutet, auch abgesehen vom globalen Klima: für die Umwelt, die Luft und für die Menschen. Deren Protest gegen die Verheerungen hierherzutragen und zu verstärken, das hat ein grosses Potenzial. Und damit waren wir auch schon erfolgreich.

Staudenmann: Das hat einen weiteren Effekt. Im Schweizer Selbstbild gehören wir immer zu den fortschrittlichsten Ländern der Welt. Das stimmt für viele Bereiche schon lange nicht mehr.

Lieberherr: Im Gegenteil.

Staudenmann: Ja, im Gegenteil. Bei der Umweltpolitik sowieso, aber auch, wenn es um eine gerechte Ausgestaltung der Aussenwirtschafts- und Aussenpolitik geht. Da hinkt die Schweiz in vielen Fällen hinterher. Oder noch schlimmer: Sie bremst bewusst, etwa beim Thema «internationales Steuerregime und Transparenz».

Jürg Staudenmann, Sie waren bei der Uno-Klimakonferenz in Kattowitz. Wie hat die Schweizer Delegation dort verhandelt?

Staudenmann: In der internationalen Klimadebatte spielt die Schweiz eine zwiespältige Rolle. In bestimmten Bereichen setzt sie sich für strenge Regeln ein, etwa wenn es um Planung oder Berichterstattungen über nationale Emissionen geht. In anderen Bereichen wird weniger unternommen. Gerade die Auswirkungen und die Bewältigung der Klimakrise in Ländern des Südens werden nur als Nebenthema betrachtet.

Vor allem aber gibt es eine grosse Diskrepanz zwischen der Haltung auf Klimakonferenzen und dem nationalen Handeln: Man setzt sich zumindest teilweise für strikte Regeln ein, konkrete Massnahmen sollen aber vor allem die anderen treffen. Der eigene Klimafussabdruck soll verringert werden, indem möglichst viel ins Ausland ausgelagert wird. Bei der Unterstützung direkt Betroffener in Entwicklungsländern wird dann wiederum geknausert. Die sogenannte Klimafinanzierung ist im Pariser Abkommen genauso Pflicht wie die weltweite Emissionsreduktion, ohne sie wird man in Entwicklungsländern keine Fortschritte erzielen. Dennoch nutzt die Schweiz sie als Teil der Verhandlungsmasse, als notwendiges Übel, um die Entwicklungsländer an Bord zu haben.

Auch bei den Waffenexporten besteht eine grosse Diskrepanz zwischen der Bevölkerung und der Politik. Da musste der Bundesrat zuletzt immerhin einen kleinen Schritt zurückmachen, auf Druck der Öffentlichkeit.

Staudenmann: Man kann sagen, dass es symptomatisch dafür ist, wie die derzeitige Bundespolitik Problemlagen verkennt.

Lieberherr: Von den Interessen und Machtverhältnissen her hätte ich eigentlich darauf vorbereitet sein sollen, aber dennoch hat es mich echt schockiert, dass der Bundesrat Exporte in Bürgerkriegsländer zulassen wollte. Immerhin besteht die Hoffnung, dass nun wieder mehr über die Rolle der Schweiz geredet wird oder zum Beispiel auch darüber, ob die Credit Suisse zu Waffenkäufen in Moçambique beigetragen hat.

Staudenmann: Der Bundesrat untergräbt seit ein, zwei Jahren das internationale Bild der Schweiz mit aussenpolitischen Äusserungen, die inakzeptabel sind. Dadurch wird auch internationaler Goodwill zerstört. Die Schweiz hat durchaus ihre Verdienste im humanitären, diplomatischen Bereich – und die sollen jetzt für Partikularinteressen geopfert werden.

Lieberherr: Die viel beschworene humanitäre Tradition der Schweiz ist ein Mythos. Sie wird nicht erst seit kurzem infrage gestellt.

Staudenmann: Aber vom neuen Aussenminister hörte man kurz nach Amtsantritt etwa, dass das Uno-Flüchtlingshilfswerk in Palästina Teil des Problems und nicht der Lösung sei …

Lieberherr: … während er behauptet, Glencore in Sambia sei Teil der Lösung.

Staudenmann: Wobei Glencore dann selbst berichtigen musste, dass dort nicht alles rosig läuft – ein kommunikativer Super-GAU! Die Schweiz konnte früher ihre diplomatischen Dienste einsetzen, etwa um zwischen den USA und dem Iran zu vermitteln; gewisse Dinge machte sie durchaus gut. Das wird momentan fahrlässig aufs Spiel gesetzt.

Die Fassade bröckelt?

Staudenmann: Die Fassade bröckelt eindeutig. Ich habe das auch in den Klimaverhandlungen gesehen. In Kattowitz, zwei Tage nachdem Alain Berset seine Eröffnungsrede gehalten hatte, ging die Nachricht durch die Gänge, dass der Nationalrat das Inlandziel im neuen CO2-Gesetz abgelehnt habe. Es gab einen Aufschrei: Wie bitte, in der Schweiz? Das kann doch nicht wahr sein.

Lieberherr: Auch das weiterhin in die Schweiz fliessende Schwarzgeld hat das Image angekratzt. In Indien etwa, woher riesige Summen in die Schweiz transferiert wurden, hat sich das Bild geändert. Die Schweiz ist dort nicht mehr primär der schöne Ort, wo Bollywoodfilme gedreht werden, sondern wo das Schwarzgeld versteckt wird.

Welche Rolle spielen Finanz- und Steuerpolitik für Ihre Arbeit?

Staudenmann: Die Schweiz betreibt weiterhin eines der intransparentesten Finanz- und Steuersysteme. Die allermeisten Bürgerlichen bezichtigen die Länder des Südens pauschal der Korruption, wehren sich aber gegen Transparenz auf dem Schweizer Finanzplatz und ermöglichen den Konzernen immer wieder neue Steuervermeidungsinstrumente. Auch im Rahmen der Steuervorlage 17. Wir kritisieren vor allem den Steuerabfluss aus Entwicklungsländern, also die buchhalterischen Tricks, dank deren sich Gelder innerhalb von Konzernen in die Schweiz verschieben lassen, um nicht versteuert zu werden. Das ist genau jenes Geld, das Staaten fehlt, um ihre öffentliche Infrastruktur aufrechterhalten und ausbauen zu können.

Lieberherr: Die Steuervorlage 17 bringt da keinerlei Verbesserung gegenüber der abgelehnten Unternehmenssteuerreform III. Sie stützt weiterhin den Dumpingstandort Schweiz. Ich war gerade für ein halbes Jahr in Südafrika, und dort ist das ein Riesenthema, denn für die Leute hat es sehr konkrete Auswirkungen: Die Konzerne wollen die Löhne auf Basis ihrer Gewinne in Südafrika verhandeln. Diese halten sie durch solche Abflüsse aber künstlich tief, und alles ist so intransparent, dass es fast unmöglich ist, dagegen vorzugehen.

Staudenmann: Wir schätzen, dass weltweit etwa zwanzigmal so viel Geld aus dem Süden in den Norden fliesst, wie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in den Süden gelangt.

Lieberherr: Man unterschätzt oft, wie wichtig es für die Leute im Süden ist zu sehen, dass im Norden jemand mit ihnen kämpft. Mein Tag heute hat damit begonnen, dass eine Aktivistin festgenommen worden ist, mit der wir zusammenarbeiten, in einem Land, das ich hier nicht nennen kann. In solchen Fällen ist es wichtig, dass wir darüber schreiben, dass wir Geld sammeln, dass wir internationalen Protest gemeinsam organisieren.

Währenddessen ist hierzulande aber wieder die Debatte aufgeflammt, die Entwicklungszusammenarbeit müsse stärker als Hilfsmittel für den Wirtschaftsstandort Schweiz eingesetzt werden.

Staudenmann: Das ist für Alliance Sud ein Kernthema. Entwicklungszusammenarbeit muss die Zivilgesellschaft und die Menschen vor Ort befähigen, an politischen Prozessen teilzunehmen, die teils auch gegen die Interessen von Schweizer Firmen bestehen müssen.

Lieberherr: Entwicklungszusammenarbeit sollte aktiv gegen die vorherrschende Wirtschaftspolitik vorgehen, und wir unterstützen die entsprechenden Kämpfe. Das kann im Widerspruch zur offiziellen Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz stehen, zum Beispiel, wenn die öffentlichen Stellen immer mehr mit Schweizer Konzernen zusammenspannen. Ein akuter Fall ist die Water Resources Group, in der Nestlé mitmischt, die unsägliche Wasserprivatisierungsvorhaben vorantreibt. Und auch in der Landwirtschaft gibt es etwa in Afrika Public Private Partnerships, bei denen die Schweiz dabei ist und die in eine falsche Richtung laufen.

Staudenmann: Die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit ist zum Spielball von Politik und Kapital geworden. Es ist enttäuschend zu sehen, dass hier die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit so unkritisch mitmacht und wenig Einfluss nimmt, nicht hinsteht und erklärt, was Entwicklungszusammenarbeit kann und soll und was nicht. Die Deza ist ja mehr und mehr ein eigennütziges Instrument der Schweizer Aussenpolitik geworden, statt sich auf bedingungslose Armutsbekämpfung zu konzentrieren.

Lieberherr: Und statt hinzuschauen, woher die Armut kommt.

Staudenmann: Da klafft sowieso eine Verständnislücke. Rechtsbürgerliche Kreise glauben immer noch, es sei in Ordnung, wie wir wirtschaften, nach der unsäglichen Haltung: Wer arm ist, ist selber schuld. Und der Druck nimmt zu, die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit noch mehr zu instrumentalisieren. Die Parlamentsmehrheit verlangt, dass damit Investitionen der Schweizer Wirtschaft im Ausland unterstützt und abgesichert werden. Immer unter dem Deckmantel, das helfe auch den betreffenden Ländern. Den Ärmsten vor Ort nützt dies aber nichts, vor allem, solange die Profite zu uns zurückfliessen.

Kann eine kleine Organisation wie Multiwatch da Gegensteuer geben?

Lieberherr: Ich glaube, konkrete Anliegen und Solidaritätsaktionen können schon etwas bewirken. Und auch kleine Erfolge erzielen. Zum Beispiel in Indien, in Chhattisgarh: Die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter im Zementwerk einer Lafarge-Holcim-Tochter kämpfen schon lange für eine Festanstellung. Das ist ja ein typisches Problem: Da werden Leute, die jahrzehntelang für eine Fabrik arbeiten, immer nur als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter angestellt. Sie bekommen nur einen Bruchteil des Lohns und überhaupt keine Sozialleistungen. Sie kämpfen zusammen mit den internationalen Gewerkschaften dagegen, und eben auch mit uns. Nach Jahren haben wir erreicht, dass Ende 2017 die Situation endlich gelöst wurde. Doch es geht weiter: In dieser Fabrik gibt es viele tödliche Unfälle, während Lafarge-Holcim sich weigert, den Arbeiterinnen- und Arbeiterschutz zu verbessern.

Wenn in der Schweiz aber über die Verantwortung der hier ansässigen Unternehmen diskutiert wird, kommt rasch der Einwand, dass man damit der Wirtschaft schade. Das Festhalten an Privilegien ist tief verankert – viel eher noch lassen sich die Leute auf einen Ablasshandel ein, indem sie im Alltag auf gewisse Dinge verzichten.

Staudenmann: Aber es darf nicht alles auf den Konsumenten und die Konsumentin abgeschoben werden. Auch nicht beim Klima: Natürlich ist es wichtig, dass man sich überlegt, nicht zu fliegen oder das Auto weniger zu benützen. Doch da liegt oft nicht die Hauptverantwortung. Man hat nicht immer die freie Wahl, vieles ist vorgegeben. Deshalb braucht es eine disruptive Transformation, wie es aktuell die Schülerinnen und Schüler auf der Strasse fordern. Beispielsweise indem man Ölheizungen ganz einfach verbietet.

Gleichzeitig sind wir aber etwa von den Pensionskassen abhängig, die in solche Industrien investieren …

Lieberherr: Dieses Argument müssen wir bekämpfen. Erstens dürfen wir nicht von einem «wir» in der Schweiz reden. Ich lasse mich nicht mit den grossen Energiekonzernen und den Banken in einen Topf werfen. Sie sind es, die schädliche Technologien weiterhin pushen, weil sie davon profitieren. Man muss bei der Produktion ansetzen, etwa endlich den Abbau von Kohle verbieten.

Natürlich überlege ich mir durchaus, wie ich konsumiere, was ich konkret ändern kann, wie ich meinen ökologischen Fussabdruck verkleinere – das kann auch dazu inspirieren, sich vorzustellen, dass ein gutes Leben mit viel weniger und jenseits kapitalistischer Konsumlogik möglich ist. Grundsätzlich sollten wir aber weniger über Konsum reden, sondern über Macht.

Staudenmann: Man kann individuell ökologischer leben, aber gleichzeitig wissen viele gar nicht, was ihre Pensionskasse mit ihrem Geld macht, wo sie es anlegt. Darum versucht die Klimaallianz, auf die Pensionskassen einzuwirken: Ich will doch wissen, wohin mein Geld geht, und ich will, dass die Kassen aus fossilen Energien aussteigen.

Lieberherr: Es heisst immer: Wenn wir am System etwas ändern, dann wird es euch schlechter gehen. Da muss ich kontern: Wir haben bessere Ideen, solidarischere, gerechtere, klimafreundlichere Modelle. Wir hätten auch die Technologien für ein besseres Leben in einer ökosozialistischen Gesellschaft. Unsere Ideen dünken mich viel weniger naiv und unrealistisch als der Glaube, auf dem jetzigen Weg könne es weitergehen.

Staudenmann: Dieser radikal andere Ansatz ist wichtig. Aber auch im jetzigen System kann man schon einiges machen. Dass zum Beispiel die Pensionskassen noch immer Renditen mit fossilen Energien erzielen können, ist nur möglich, weil dieser Sektor noch immer stark subventioniert wird. Erneuerbare Energien haben die fossilen gesamtheitlich und ökonomisch betrachtet eigentlich schon längst überholt. Doch die Erdölbranche drückt den Schwamm aus, solange er noch etwas hergibt. Das lässt sich politisch bekämpfen, indem man dem als Gesellschaft den Riegel schiebt und auf andere Technologien setzt.

Lieberherr: Wenn du von anderen Investitionen sprichst, dann bleibst du in der Profitlogik. Wir fordern natürlich auch, dass man bei den Pensionskassen interveniert, aber das ist nur ein kleiner Schritt, und das grosse Ziel einer besseren Gesellschaft darf darüber nicht vergessen werden.

Staudenmann: Es braucht beides. Wir arbeiten ja an den gleichen Themen, aber mit verschiedenen Ansätzen, die sich ergänzen.

 
Die Agrarwissenschaftlerin und Geografin Silva Lieberherr (34) ist Aktivistin bei der NGO Multiwatch und engagiert sich vor allem im Bereich Landwirtschaft. Die Organisation mit Sitz in Bern beobachtet in der Schweiz ansässige multinationale Konzerne, dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und verschafft den vor Ort Betroffenen hier Gehör. Lieberherr arbeitet auch für die NGO Brot für alle, einer der Trägerorganisationen von Alliance Sud.

Jürg Staudenmann (50), ehemaliger Verantwortlicher für Klima- und Umweltpolitik beim entwicklungspolitischen Thinktank Alliance Sud. Die Organisation setzt sich in der Schweizer Politik für die Interessen benachteiligter Menschen im Globalen Süden ein. Staudenmann lobbyiert für gerechte Nord-Süd-Beziehungen in Bundesbern und betätigt sich auf internationaler Ebene als Beobachter und zivilgesellschaftlicher Netzwerker.

Das Interview ist in der WOZ Nr. 05/2019 vom 31.01.2019 erschienen. Das Gespräch haben Raphael Albisser und Stefan Howald geführt.