Interview mit Gunjan Veda

«Wir haben die Kunst des Zuhörens verlernt»

30.09.2025, Internationale Zusammenarbeit

Dekolonisierung betrifft nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft einer gerechten internationalen Zusammenarbeit (IZA). Darüber hat Alliance Sud mit Gunjan Veda, Generalsekretärin des Movement for Community-led Development, gesprochen.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

«Wir haben die Kunst des Zuhörens verlernt»

Im Kasangadzi Area Program in Dowa, Malawi, nutzen Teilnehmende ein partizipatives Tool für gemeinschaftsgeführte Entwicklung. © Gunjan Veda / MCLD

Sie sind Expertin für die Dekolonisierung der IZA. Welche persönlichen Erfahrungen haben Ihr Bild der internationalen Zusammenarbeit geprägt?

Ich begann meine Laufbahn als Aktivistin in Indien und arbeitete dort fast 20 Jahre im Non-Profit- und Regierungssektor, bevor ich nach Kanada und in die USA zog. Das war eine Art Schock für mich. Als ich mit Institutionen wie USAID zu arbeiten begann, war mein erster Eindruck: Ich dachte, ich könnte Englisch. Aber offenbar konnte ich es nicht, denn der Jargon in diesem Sektor ist voller Fachbegriffe. Es gab nur wenige Momente, in denen wir einander wirklich zuhören und uns verstehen konnten. Diese Erfahrung war frustrierend und gleichzeitig aufschlussreich. Sie hat es mir ermöglicht, die vielfältigen Sichtweisen unterschiedlicher Akteursgruppen in der Majority und der Minority World zu verstehen.

Sie verwenden die Begriffe Majority und Minority World: Was verstehen Sie darunter?

Historisch haben wir viele Begriffe für Länder und Regionen benutzt, die wir zur Majority World zählen – Afrika, Lateinamerika, Karibik, Asien. Von «am wenigsten entwickelte Länder» über «Dritte Welt» oder «ressourcenarme Länder» bis hin zu «Globaler Süden». Jeder dieser Begriffe trägt nicht nur starke Machtverhältnisse in sich, sondern ist auch unzutreffend. Sie stellen die Majority World so dar, als sei sie weniger wert als die Minority World. Als ob sie unzureichend sei und in ihrer Entwicklung aufholen müsse.

Woher stammen die Begriffe?

Der Begriff Majority World wurde vom bangladeschischen Aktivisten und Fotografen Shahidul Alam in den frühen 1990er-Jahren geprägt. Er wollte damit die Minority World herausfordern: Wenn ihr Demokratie wirklich ernst nehmt, wie kann es dann sein, dass ein kleiner Teil der Welt über die grosse Mehrheit bestimmt? Für mich persönlich ist der Begriff auch aus einem weiteren Grund wichtig: Er erinnert uns in der Majority World daran, dass wir die Mehrheit der Weltbevölkerung sind, dass wir Einfluss haben und die Welt verändern können.

 

Gunjan Veda sitzt vor einer Palme, die in einem Topf auf einem Asphaltplatz steht. Sie trägt eine Brille, Ohrringe mit roten Fäden dran und ein schwarzes Kleid.

Gunjan Veda ist Generalsekretärin des Movement for Community-led Development, einem Netzwerk mit über 3000 lokalen, gemeinschaftsbasierten Organisationen. Als Politikstrategin, Menschenrechtsaktivistin und Autorin ist sie eine aktive Stimme in den Debatten über die Dekolonisierung und die Bewegung #ShiftThePower. Sie hat mit Organisationen wie USAID und der Weltbank zusammengearbeitet, um lokalen Stimmen im internationalen Entwicklungsdiskurs Gehör zu verschaffen. Routledge hat kürzlich ihr drittes Buch veröffentlicht: Community-led Development in Practice: We power our own change.

Finanzierungsstrukturen und gewisse Arbeitsweisen im Entwicklungs- und humanitären Sektor verstärkten ein Gefühl der Machtlosigkeit und Abhängigkeit.

 

Sie sind eine engagierte Unterstützerin der weltweit aktiven Bewegung #ShiftThePower. Sehen Sie bereits konkrete Anzeichen dafür, dass lokale Gemeinschaften mehr Entscheidungsmacht erhalten haben?

Das Movement for Community-led Development gehörte zu den frühen Unterstützern des Begriffs #ShiftThePower, als er 2016 geprägt wurde. Damals war es ein radikales Konzept, weil es die Machtungleichgewichte in unserem Sektor klar benannte. Inzwischen sind wir aber weitergegangen. Denn «Macht verschieben» impliziert, dass jemand – die Minority World oder Geldgeber –, der die Macht hat, diese abgeben müsste: den Gemeinschaften und Organisationen in der Majority World. Wir in der Majority World hätten auch Macht. Wir hatten sie schon immer. Der Kolonialismus versuchte, sie auszulöschen und uns ein Gefühl der Machtlosigkeit und Abhängigkeit überzustülpen. Finanzierungsstrukturen und gewisse Arbeitsweisen im Entwicklungs- und humanitären Sektor verstärkten dieses Gefühl zusätzlich. Mit der zunehmenden Diskussion über die Dekolonisierung erkennen dies immer mehr Menschen. Aber im Mainstream angekommen ist die Idee noch nicht.

Was hält die internationale Zusammenarbeit zurück?

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die allermeisten Menschen mit guten Absichten in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind. Wir arbeiten in diesem Bereich, weil wir an Menschenrechte glauben und etwas bewegen wollen. Aber die Institutionen der internationalen Zusammenarbeit – ob Regierungsstellen, Stiftungen oder auch NGOs – wurden nicht geschaffen, um eine gerechte Welt aufzubauen. Sie wurden als Instrumente der Kontrolle und der «Soft Power» entworfen. Menschen in der internationalen Zusammenarbeit fügen sich immer wieder diesen Logiken und fördern so ungewollt diejenigen Machtungleichgewichte, die sie eigentlich bekämpfen wollen. Das System verstärkt die Abhängigkeit und das koloniale Erbe. Und genau das hält uns zurück.

 

Es gibt weder Hauptdarsteller:innen noch Nebenrollen. In manchen Bereichen ist das Wissen der internationalen NGOs wichtig, in anderen das Wissen lokaler Akteure.

 

Wie also können wir die kolonialen Muster in unserem System überwinden?

Wir müssen unsere Rollen neu denken. Es gibt weder Hauptdarsteller:innen noch Nebenrollen. Jede Rolle ist wichtig, und es gibt Raum für alle. Die Diskussion über die Lokalisierung der Zusammenarbeit hat viele Ängste ausgelöst, insbesondere bei internationalen NGOs, die fürchten, dass ihr Wissen nicht mehr relevant ist, wenn lokale Akteure mehr Verantwortung und Macht erhalten. Aber darum geht es gar nicht. In manchen Bereichen ist ihr Wissen wichtig, in anderen das Wissen lokaler Akteure. Wir müssen unsere Rollen neu ganz nach unseren Stärken ausrichten. Wir müssen vom Konkurrenzdenken zu echter Zusammenarbeit kommen. Und wir müssen anfangen, einander ganz bewusst zuzuhören. Auch wenn es so einfach klingt – es ist unglaublich schwierig. Wir haben die Kunst des Zuhörens verlernt.

Wie könnten wir besser zuhören – und einander dadurch besser verstehen?

Zuhören erfordert einen grundlegenden Wandel in der Haltung. Wir müssen einsehen, dass auch Menschen, die nicht so aussehen oder klingen wie wir, die unsere Sprache nicht sprechen, keinen Zugang zu Eliteinstitutionen haben und vielleicht nie ihr Heimatland verlassen haben, Wissen, Erfahrung und Weisheit besitzen. Ihre Weltsicht zählt, ihre Ideen zählen, ihre Werte zählen. Wir müssen Sprachbarrieren abbauen, neugierig sein, Fragen stellen. Zuhören verlangt Demut und die Bereitschaft zu lernen.

Ist Zuhören der Schlüssel für den lange ersehnten Systemwandel in der internationalen Zusammenarbeit?

Um es klar zu sagen: Das System «Entwicklungszusammenarbeit» wird nie gerecht sein. Entwicklungszusammenarbeit wurde als System von Kontrolle und Macht geschaffen, um ehemalige Kolonien geopolitisch und wirtschaftlich nicht zu verlieren. Die Diskussion um die Lokalisierung der Zusammenarbeit macht ein ungerechtes System nur etwas weniger ungerecht.

Sollte also die internationale Zusammenarbeit überwunden werden?

Ich sage nicht, dass die internationale Zusammenarbeit abgeschafft werden soll. Das wäre aktuell eine Katastrophe für Millionen von Menschen weltweit, die aufgrund fortgesetzter Ausbeutung keinen Zugang zu Grundversorgung und keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen haben. Genau deshalb dürfen wir internationale Zusammenarbeit nicht als Hilfe oder Wohltätigkeit verstehen, sondern als Reparationen für historische und fortdauernde Unrechtssysteme.

 

Echten Systemwandel schaffen wir nur, wenn wir das globale Wirtschaftssystem grundlegend verändern. Gerechte Lösungen für stark verschuldete Länder und global gerechte Steuersysteme sind dringend nötig.

 

Was braucht es für einen Systemwandel?

Einen echten Systemwandel schaffen wir nur, wenn wir das globale Finanz- und Wirtschaftssystem grundlegend verändern. Gerechte Lösungen für stark verschuldete Länder und global gerechte Steuersysteme sind dringend nötig. Das würde den Regierungen der Majority World ermöglichen, für ihre Bevölkerung zu sorgen und sich von Entwicklungsgeldern loszusagen.

Welche Rolle sehen Sie für internationale NGOs in dieser Welt ohne Entwicklungszusammenarbeit?

Organisationen der Minority World haben Einfluss auf die Menschen und die Politik in ihren Ländern. Es ist enorm wichtig, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, weil das Verständnis von globaler Solidarität, Demokratie und Menschenrechten weitgehend verloren gegangen ist. Auch deshalb sind anti-demokratische Kräfte momentan so stark.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Es gibt Kontexte, in denen Akteure der Minority World tätig sein können, wo es für lokale Akteure gefährlich wird. Wenn Sie zum Beispiel LGBTQI+-Aktivistin in Uganda sind und in Ihrem Land verfolgt werden, braucht es internationale Partner. Diese können ihre Reichweite nutzen, um Stimmen lokaler Akteure zu verstärken oder auf Missstände aufmerksam zu machen. Auch internationale Organisationen werden auf jeden Fall weiterhin eine Rolle spielen. Aber weder internationale noch lokale Organisationen sollten dauerhaft Dienstleistungen, zum Beispiel in den Bereichen Bildung oder Gesundheit, erbringen.

Aber diese sind zentral für die Armutsbekämpfung – warum sollte sich die Zivilgesellschaft in diesen Bereichen nicht engagieren?

Gesundheit, Bildung, Wasser, Strom, Strassen – das sind grundlegende Menschenrechte, garantiert durch Verfassungen und Regierungen. Es ist die Aufgabe gewählter Regierungen, diese Grundversorgung zu leisten – nicht die von NGOs. Die Rolle der Zivilgesellschaft ist es, Regierungen zu befähigen, diese Pflichten zu erfüllen, und die Bevölkerung zu befähigen, ihre Rechte einzufordern.

 

Die globale Finanzarchitektur ermöglicht es Konzernen, Ressourcen auszubeuten, ohne Steuern zu zahlen oder Gemeinschaften zu entschädigen. Dagegen braucht es starkes politisches Engagement der Zivilgesellschaft, insbesondere von internationalen NGOs.

 

Und in Kontexten, in denen der Staat diese Leistungen nicht erbringen will?

Die Geschichte zeigt: Die brutalsten und autoritärsten Regime werden gestürzt, wenn sie aufhören, auf ihre Bevölkerung zu hören. Aus diesem Grund gibt es Revolutionen. Wenn Regierungen grundlegende Leistungen nicht erbringen, werden sich die Menschen auflehnen. Wenn du deine Familie hungern siehst, hast du nichts mehr zu verlieren – du hast keine andere Wahl als zu protestieren. Grundversorgung von aussen ist nie eine nachhaltige Lösung. Sie kann kurzfristig helfen – in Katastrophen oder Konflikten zum Beispiel.

Aber wir müssen uns bewusst sein, dass viele Regierungen der Majority World nicht in der Lage sind, grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen, weil ihre Steuereinnahmen zu grossen Teilen in den Schuldendienst fliessen. Die globale Finanzarchitektur und Steuergesetze ermöglichen es multinationalen Konzernen, Ressourcen auszubeuten, ohne Steuern zu zahlen oder Gemeinschaften zu entschädigen. Das muss sich ändern – und dafür braucht es ein starkes politisches Engagement der Zivilgesellschaft, insbesondere von internationalen NGOs, da oft die Regierungen der Minority World diese ausbeuterischen Strukturen erhalten.

 

Wenn die Sicherheit der Schweizer Bürger:innen Priorität hat, dann müssen zuerst die grossen, globalen Fragen angegangen werden.

 

Welche Botschaft haben Sie an die Schweizer Regierung, etwa im Hinblick auf die zentrale Rolle der Schweiz in der Rohstoffindustrie oder ihrem Finanzplatz?

Die Schweiz ist sehr stolz darauf, Hüterin des humanitären Völkerrechts und Verfechterin der Menschenrechte zu sein. Aber wenn sie diese Werte ernst nimmt, darf sie keine Systeme stützen, die diesen Werten zuwiderlaufen. Der Erhalt von Steueroasen oder die Kürzung der Gelder für die internationale Zusammenarbeit bedeuten heute den direkten Todesstoss für zahlreiche Menschen weltweit. Entwicklungszusammenarbeit muss nicht bleiben, sie sollte nicht bleiben. Aber wie der Ausstieg erfolgt, muss gemeinsam mit den Betroffenen entschieden werden. In unserer stark vernetzten Welt können wir es uns nicht leisten, nur an die «eigenen Leute» zu denken. Wenn die Sicherheit der Schweizer Bürger:innen Priorität hat, dann müssen zuerst die grossen, globalen Fragen angegangen werden.

Und welche Botschaft haben Sie an die Schweizer Zivilgesellschaft?

Im Moment formieren sich anti-demokratische Kräfte, um diejenigen Rechte und Freiheiten zu untergraben, für die wir so lange gekämpft haben. Und wir versäumen es, gemeinsam gegen diese Bedrohung vorzugehen. Wir müssen aus unseren Silos herauskommen und zusammenfinden. Wir müssen uns wieder an die mächtigste Kraft in diesem System erinnern: die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder. Wir müssen anfangen, aufeinander zuzugehen, zuzuhören und uns einzubringen, wenn wir die Menschenrechte verteidigen wollen.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.