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Rio-Marker: Alles nur Augenwischerei?

13.11.2023, Klimagerechtigkeit

Um ihren finanziellen Verpflichtungen im Rahmen der Rio-Konventionen nachzukommen, bedienen sich viele Länder – darunter auch die Schweiz – aufgeblähter Zahlen und Doppelzählungen. Dabei sollte ein eigens eingerichtetes Messsystem, die sogenannten «Rio-Marker», dies eigentlich verhindern. Seine Kriterien sind jedoch nicht klar genug und lassen Raum für eine grosszügige Auslegung.

Maxime Zufferey
Maxime Zufferey

Junior Professional Officer, Mitarbeiter Klimafinanzierung

Rio-Marker: Alles nur Augenwischerei?

Vorbereitungen für den Karneval in Rio de Janeiro (Symbolbild).

© Keystone / AP / SILVIA IZQUIERDO

In der internationalen Klimafinanzierung dreht sich die Diskussion vor allem um die Nichteinhaltung der «quantitativen» Verpflichtungen der Industrieländer, von 2020 bis 2025 jährlich 100 Milliarden US-Dollar zu mobilisieren, um den Klimafinanzierungsbedarf der Entwicklungsländer zu decken. In dieser Hinsicht erfüllt die Schweizer Klimafinanzierung, die hauptsächlich aus dem Budget für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (EZA) stammt, derzeit das Kriterium der «neuen und zusätzlichen» Ressourcen nicht. Mehr noch: Diese Mittel werden doppelt verbucht, nämlich als Ausgaben für die EZA und als Klimafinanzierung, obwohl die Entwicklungsländer sie nur einmal erhalten. Aber auch die Überprüfung der «qualitativen» Indikatoren hinsichtlich der Wirksamkeit von Klimaschutzmassnahmen ist nicht zu vernachlässigen. Dies umso mehr, da die klimapolitische Rechtfertigung der entsprechend ausgewiesenen Aktivitäten der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder zu Kontroversen führt. Sowohl der Oxfam-Bericht über die «echten Zahlen» der Klimafinanzierung, die jüngste Studie des Center for Global Development & The Breakthrough Institute über das Klimaprojektportfolio der Weltbank (WB) als auch der Artikel der ETH Zürich und der Universität Sankt Gallen über den Einsatz künstlicher Intelligenz zur Bewertung der Relevanz bilateraler Klimafinanzierung haben eine Reihe von Schwächen aufgezeigt, insbesondere bei der Anwendung der Rio-Marker, die oft inkohärent und manchmal ungenau erfolgt, was echte Klimaschutzmassnahmen konterkariert.

Entschlüsselung der Rio-Marker

Als Reaktion auf den Erdgipfel von Rio im Jahr 1992 und die anschliessende Verabschiedung der Konvention über die biologische Vielfalt, der Klimakonvention und der Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung erarbeitete der Entwicklungsausschuss (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die sogenannten Rio-Marker. Fünf Indikatoren – zwei betreffen den Klimawandel (Abschwächung und Anpassung), einer die biologische Vielfalt, einer die Wüstenbildung und einer lokale Umweltprobleme – waren ursprünglich dazu gedacht, den Einbezug von Umweltbelangen in die Portfolios der Entwicklungszusammenarbeit nachzuvollziehen. Sie wurden jedoch rasch zu einem Instrument zur Erfassung der internationalen Finanzflüsse im Umwelt- und insbesondere im Klimabereich. Die Rio-Marker basieren auf einem kategorisierten Klassifizierungssystem, anhand dessen die Bedeutung der Ziele der Rio-Konventionen in den Aktivitäten der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung beurteilt wird. So erhält ein Projekt die Bewertung «principal», wenn das Umweltziel als grundlegende Motivation für die Aktivität beurteilt wird; es erhält die Bewertung «significant», wenn ein Rio-Ziel explizit erwähnt wird, die Aktivität aber nicht in diesem Sinne konzipiert wurde. Damit Rio-Marker zugesprochen werden, muss für ein Projekt also im Vorfeld klar und explizit das vom Geldgeber angestrebte politische Ziel kommuniziert werden.

Da die Rio-Marker jedoch eher deskriptiver als streng quantitativer Natur sind, ermöglichen sie nur eine ungefähre Quantifizierung der Finanzströme. Ausserdem hat der DAC zwar Richtlinien für die Zuweisung von Markern herausgegeben, sich auch auf Definitionen geeinigt – einschliesslich dazu, was eine Aktivität im Zusammenhang mit der Eindämmung des Klimawandels oder der Anpassung an den Klimawandel ist – und auch erklärt, die Berichte der Geberländer würden regelmässig geprüft. Aber diese Empfehlungen sind nicht bindend. Folglich verfügen die Länder bei der Umsetzung über einen beträchtlichen Ermessensspielraum, sei es bei der Klassifizierung der Projekte oder der Zuweisung der Koeffizienten. Im Rahmen der internationalen Klimafinanzierung zeigt sich dies in der Tendenz, dass Länder die Indikatoren grosszügig auslegen und so ihre finanziellen Beiträge aufblähen. Dies führt zu einer Verzerrung bei der Mittelzuweisung zwischen dem, was in den Finanzberichten angekündigt wird, und den Aktivitäten, die sich tatsächlich auf die Ziele der Rio-Konventionen auswirken. Darüber hinaus lässt die fehlende Harmonisierung bei der Anwendung dieser länderspezifischen Indikatoren einen aussagekräftigen internationalen Vergleich kaum zu. Ganz zu schweigen davon, dass der Mangel an objektiven Daten über den Umfang der bereits geleisteten Klimafinanzierung es den Entwicklungsländern zusätzlich erschwert, die Rückzahlung der historischen Klimaschuld einzufordern.

Der Schweizer Ansatz

Die Schweiz verwendet die Rio-Marker-Methode zur Bewertung der Klimarelevanz ihrer bilateralen, regionalen und multilateralen Zusammenarbeit. Sie ist ausserdem eines der wenigen Länder, die ihrer Hauptkategorie («principal») einen Reduktionsfaktor (x0,85) auferlegen, während die meisten anderen Länder, darunter Deutschland oder Italien, diese nicht gewichten (x1). Projekte der Kategorie «significant» belegt Italien lediglich mit einem Faktor von x0,4, während die Schweiz diesen einen Faktor von x0,5 zubilligt, ebenso wie ihr Nachbar Deutschland. In Frankreich oder den USA erfolgt die Zuweisung der Koeffizienten für die Rio-Marker fallweise. Was die Anwendung dieser Marker betrifft, so existiert in der Schweiz keine systematische und harmonisierte Methodik, die für alle zuständigen Ämter gelten würde. Die Marker sollten zwar der Projektkonzeption zugewiesen werden, doch entsprechen die öffentlichen Projektbeschreibungen nicht immer eindeutig und explizit den von der OECD festgelegten Förderkriterien.

Beispielsweise stellte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) 8,5 Mio. CHF im Rahmen des bilateralen Projekts Capacity Building for large Gas Infrastructure Developments (2014-22) bereit. Dessen Ziel war die Entwicklung der technischen Kapazitäten des öffentlichen Sektors in Albanien bezüglich der Verwaltung grosser Gasinfrastrukturprojekte, dies in Zusammenhang mit der Realisierung der Trans-Adriatischen Pipeline (TAP). Dieses Projekt zur Förderung einer fossilen Energieindustrie in Albanien erhielt den Rio-Marker «significant» für die Anpassung an den Klimawandel mit der Begründung, dass Gas als neue Energiequelle dazu beitragen würde, die Energiesicherheit des Landes zu erhöhen, dessen nationale Energieproduktion hauptsächlich auf Wasserkraft beruhte, die durch den Klimawandel gefährdet sei. Das SECO hat auch dem Programm Managing Natural Resource Wealth des Internationalen Währungsfonds (IWF) den Rio-Marker «significant» für die Abschwächung des Klimawandels zugewiesen. Das Programm soll Länder mit niedrigen und unteren mittleren Einkommen dabei unterstützen, ihre natürlichen Ressourcen zu verwalten und das Beste aus ihren Öl-, Gas- und Mineralressourcen herauszuholen. In der Projektbeschreibung findet sich jedoch kein ausdrücklicher Hinweis auf ein Klimaschutzziel. Ebenso ist das SECO der Ansicht, dass seine Verpflichtungen – zumindest seit 2019 – bei der Private Infrastructure Development Group (PIDG) einen «signifikanten» Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels darstellen. Die PIDG mobilisiert Kapital aus dem Privatsektor für den Bau von Infrastruktur in Subsahara-Afrika und Asien. Ein Blick auf die Geschichte der Gruppe lässt Zweifel an der systematischen Anwendung eines solchen Faktors aufkommen. Tatsächlich veröffentlichte Global Witness vor der COP 26 in Glasgow, dass die PIDG zwischen 2002 und 2018 fast 750 Millionen US-Dollar in neue fossile Infrastruktur investiert hat. Eigene Recherchen anhand der öffentlichen Datenbank der PIDG zeigen zudem, dass seit diesem Bericht bis 2021 weitere 144,8 Millionen US-Dollar für neue fossile Infrastruktur bereitgestellt wurden.  

Reformbedarf

Ihre uneinheitliche Anwendung, undurchsichtige Nutzung, mangelnde Kohärenz und ein schwaches System der offiziellen Überprüfung und öffentlichen Aufsicht stellen grosse Herausforderungen bei der Umsetzung der Rio-Marker dar. Die Harmonisierung dieser Marker auf internationaler Ebene und die Berücksichtigung der Klimaprioritäten der Entwicklungsländer müssen die Eckpfeiler ihrer Verwendung sein. Die Schweiz sollte sich für einen präziseren Rahmen für die Vergabe der Rio-Marker und die Stärkung des Systems der periodischen Überprüfung durch den DAC einsetzen, damit eine kohärente und transparente Anwendung der Marker gewährleistet und sichergestellt wird, dass internationale Investitionen tatsächlich die beabsichtigten Umweltauswirkungen haben. Zu begrüssen wäre ein systematischer Ansatz zur Umsetzung dieser Marker mit dem Einbezug von Kriterien zur Folgenabschätzung, die spezifisch auf die betreffenden Konventionen anwendbar sind. Ohne solche Reformen laufen die Rio-Marker Gefahr, ein unvollkommenes und ungeeignetes Instrument zur Bereitstellung dringender und wirksamer internationaler Finanzmittel für den Kampf gegen den Klimawandel und den Erhalt der biologischen Vielfalt zu bleiben.