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Lückenhafter neuer Nationaler Aktionsplan (NAP)

11.02.2020, Internationale Zusammenarbeit,

Der Bundesrat hat den Nationalen Aktionsplan der Schweiz (NAP) 2020-2023 zur Einhaltung der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet. Es stellt keine solide Grundlage für die Respektierung der Menschenrechte im Ausland dar.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Lückenhafter neuer Nationaler Aktionsplan (NAP)

Der neue NAP folgt auf den ersten für den Zeitraum 2016-2019, den der Bundesrat im Dezember 2016 in Erfüllung eines parlamentarischen Postulats veröffentlicht hatte. Für das Verfassen des neuen NAP stützte sich der Bundesrat auf eine verwaltungsextern in Auftrag gegebene Studie mit dem Titel: «Bestandsaufnahme über die Umsetzung der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte durch den Bund und durch Schweizer Unternehmen». Sie enthält neben einer Bestandsaufnahme eine Reihe von Empfehlungen, die im revidierten NAP aber nur teilweise übernommen wurden. Akteure der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft waren im August 2019 eingeladen, eigene Inputs zu geben und einen ersten NAP-Entwurf zu kommentieren.

Der neue Aktionsplan enthält zwar einige Verbesserungen, aber er bietet in den Augen der Zivilgesellschaft keine solide Grundlage um zu garantieren, dass die Schweizer Unternehmen bei ihren Aktivitäten und Beziehungen mit Handelspartnern im Ausland die Menschenrechte respektieren.

Hier finden Sie die Analyse und den Kommentar zum NAP 2020-2023 folgender zivilgesellschaftlicher Organisationen.

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Medienmitteilung

Nationalrat hält an Kompromissvorschlag fest

05.03.2020, Internationale Zusammenarbeit

Im parlamentarischen Ringen um einen Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative lässt der Nationalrat den Weg für einen politischen Kompromiss offen. Nun ist der Ball wieder beim Ständerat.

Nationalrat hält an Kompromissvorschlag fest

Der Nationalrat hat heute an seinem Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative festgehalten. Dieser stellt einen Kompromiss zwischen den beiden Rechtskommissionen, Kräften der Wirtschaft (u.a. IG Detailhandel, GEM, FER) und den Initianten dar.

Für die Initiant/innen beinhaltet dieser Gegenentwurf schmerzhafte Abstriche: Die verbindlichen Regeln gelten nur für sehr grosse Konzerne und die Haftungsbestimmungen sind massiv eingeschränkt. Dennoch hat das Initiativkomitee auch im Vorfeld der heutigen Debatte einen Rückzug zugesichert, sollte der Gegenvorschlag des Nationalrats Gesetzeskraft erlangen. Grund dafür ist, dass gesetzliche Massnahmen so schneller in Kraft treten als mit einer Volksabstimmung. Dies ist gerade für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen wichtig.

Abstimmungsempfehlung des Nationalrats zur Initiative: knappes Nein

Dick Marty, alt Ständerat FDP (TI) und Co-Präsident Initiativkomitee, kommentiert den heutigen Entscheid: «Konzerne sollen Menschenrechte und Umweltstandards respektieren. Und sollten Konzerne dennoch Menschenrechte verletzen, sollen sie in Zukunft dafür geradestehen müssen. Unsere Forderung mit der Konzernverantwortungsinitiative ist eine Selbstverständlichkeit. Deshalb ist auch die Unterstützung im Parlament gross. Fast die Hälfte der Parlamentarier/innen hat sich heute für eine Ja-Empfehlung ausgesprochen. Auch dank der immer grösseren Unterstützung – gerade auch aus bürgerlichen Kreisen – bin ich sehr zuversichtlich für eine allfällige Abstimmung. 3 von 4 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern unterstützen gemäss neusten Umfragen unsere Initiative.»

Ständerat entscheidet am 9. März

Nun wird der Ständerat das Geschäft wieder beraten und entscheiden, ob er an seinem von Bundesrätin Keller-Sutter kurzfristig zurechtgezimmerte Alibi-Gegenvorschlag festhalten will. Diese Vorlage wird selbstverständlich nicht zu einem Rückzug der Initiative führen, da sie keinerlei verbindliche Regeln bringt, welche Menschenrechtsverletzungen durch Konzerne verhindern. Konzerne wie Glencore und Syngenta müssten so nicht für angerichtete Schäden geradestehen, sondern bloss einmal im Jahr eine Hochglanzbroschüre veröffentlichen.

Artikel, Global

Grosse Herausforderung oder Augenwischerei?

23.03.2020, Internationale Zusammenarbeit,

Die Ziele der Agenda 2030 können nur mit voller Unterstützung der Wirtschaft erreicht werden. Doch ist diese überhaupt willens und bereit dafür? Wohlklingende Antworten gibt der World Business Council for Sustainable Development.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Grosse Herausforderung oder Augenwischerei?

Plastikabfall der Millionenstadt Bekasi auf der Insel Java in Indonesien wird rezykliert.
© Laurent Weyl / Argos / Panos

Die Uno-Agenda 2030 ist der globale Bezugsrahmen für nachhaltige Entwicklung. Er gilt für alle, sowohl die Regierungen aller Staaten, die Zivilgesellschaft und für den gesamten privaten Sektor. Wörtlich verpflichtet das 2015 in New York verabschiedete Dokument alle Unternehmen, «ihre Kreativität und ihren Innovationsgeist für die Lösung von Problemen der nachhaltigen Entwicklung einzusetzen.»

Papier ist geduldig, sagt der Volksmund. Erst recht gilt dies für jenes Papier, auf das internationale Übereinkommen und Absichtserklärungen wie die Sustainable Development Goals (SDG) gedruckt sind. Wie ernst nimmt der Corporate Sector, die globalisierten, multinational organisierten Unternehmen, die über schier grenzenlose finanzielle Mittel und Möglichkeiten verfügen, die nachhaltige Entwicklung? Und wer übernimmt den Lead im Prozess, der die globale Wirtschaft auf Nachhaltigkeit trimmen soll?

Bis heute haben die Vereinten Nationen keine Richtlinien oder Instrumente geschaffen, die darüber Auskunft geben, wie Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung (neu) ausrichten sollen. Noch weniger ist die Rede davon, Unternehmen auf Nachhaltigkeit zu verpflichten. NGOs kritisieren das Fehlen solcher Richtlinien und fordern, dass ein solcher zusätzlicher Rahmen zu den SDGs geschaffen werden müsse. Und sie befürchten, dass der Privatsektor die entscheidende Rolle missbraucht, die ihm die SDGs zuschreiben. Denn Nachhaltigkeit, die primär der Imagepflege geschuldet ist, ist alles andere als nachhaltig. Analog zu pseudoökologischem Verhalten (greenwashing) wird dafür heute der Begriff Rainbow washing gebraucht. Die grossen Fragen lauten: Wie lässt sich der positive Einfluss von Unternehmen auf das Erreichen der SDGs überhaupt messen? Wie kann man sie dazu bringen, negativen Auswirkungen, spezifisch auf Menschenrechte und Umwelt, Rechnung zu tragen? Welchen Grad an Transparenz können wir von sich gegenseitig konkurrierenden Unternehmen überhaupt erwarten? Wie nehmen Unternehmen NGOs wahr? Wie arbeiten sie mit der UNO und den Regierungen zusammen?

Die Antworten auf diese grossen Fragen fallen sicher ganz unterschiedlich aus, je nach CEO oder Board, dem man diese stellt. Anzunehmen ist, dass die meisten auf freiwillige Massnahmen bzw. ihre Eigenverantwortung pochen würden. Wir haben sie Filippo Veglio, dem Geschäftsleiter des World Business Council for Sustainable Development, gestellt. Der Stiftungszweck des WBCSD, der als Verein organisiert ist, lautet: Im Interesse seiner Mitglieder Antworten auf diese grossen Fragen zu geben und «den Übergang zu einer nachhaltigen Welt zu beschleunigen.»

Annäherung an die SDGs

Laut der UNO sollen Unternehmen durch ihre Aktivitäten einen entscheidenden Beitrag zum Erreichen der SDGs leisten. Um das zu schaffen, sollen sie positive wie negative Auswirkungen ihres Wirkens bewerten, sich ehrgeizige Ziele setzen und transparent über die Ergebnisse kommunizieren. Laut Veglio nähert sich der WBCSD dieser Herausforderung aus vier Perspektiven an: Risiken, Chancen, Governance und Transparenz sowie Zusammenarbeit. Darüber hinaus stellt der WBCSD die Menschenrechtsperspektive in den Mittelpunkt seiner Arbeit und erinnert seine Mitglieder daran zu prüfen, wo die negativen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit liegen. «Dies ist ein entscheidender Beitrag, den Unternehmen zur Realisierung der SDGs leisten können», so Veglio. Dieser Ansatz orientiert sich an den UN-Richtlinien für Unternehmen und Menschenrechte, die auf der WBCSD-Website im CEO Guide to Human Rights ihren Niederschlag finden. Der WBCSD betont, dass Nachhaltigkeit sich nicht auf Innovation und Profitgelegenheiten beschränken dürfe, sondern dass sie auch den wichtigen Aspekt der Verantwortung umfasse.

Auf die Frage, ob freiwillige Ansätze ausreichen oder – so wie es in der Schweiz die Konzernverantwortungsinitiative verlangt – ein gesetzlicher Rahmen Unternehmen zur Wahrnehmung von Verantwortung verpflichten soll, bleibt Veglio vage: «Die Unternehmen sind nicht gegen alles, sie haben Lösungen, verfolgen pragmatische Ansätze. Wir beteiligen uns jedoch nicht an Diskussionen und Debatten im Schweizer Parlament, sondern versuchen die systemischen Fragen ins Zentrum zu rücken, mit denen wir uns befassen sollten.»

Ein Hauptziel seiner Arbeit sieht der WBCSD darin, die 17 Ziele und 169 Unterziele so zu übersetzen, dass die SDGs für Unternehmen in der Praxis umsetzbar werden, wobei den vier erwähnten Perspektiven folgende Überlegungen zugrunde liegen:

  • Was bedeuten Risiken wie Wasserknappheit oder Klimawandel konkret für ein Unternehmen? Nicht erst in ferner Zukunft, sondern schon jetzt in Bezug auf das Geschäftsmodell, die Reputation oder mögliche Regulierung: Denken Unternehmen hier proaktiv genug?
  • Aus der Geschäftsperspektive bieten die SDGs auch Chancen: Es geht um Lösungen, Innovation, Technologien, Partnerschaften und Expansion; die Erreichung der SDGs braucht es, um die Rentabilität eines Unternehmens zu erhalten.
  • Grosse Unternehmen müssen Rücksicht auf viele Systeme nehmen: Politiken, Governance- und Transparenz-Standards etc. Wie sollen diesbezügliche Anforderungen der SDGs in die Geschäftsberichte integriert werden? Welche Daten sollen mit Investoren, der Zivilgesellschaft, Regierungen, aber auch innerhalb des Unternehmens geteilt werden? Welche Art von Daten muss überhaupt erhoben werden?
  • Unabhängig von der Grösse und dem Einfluss eines Unternehmens innerhalb eines Wirtschaftszweigs braucht es Zusammenarbeit auch unter Konkurrenten, um die Herausforderungen in Wertschöpfungsketten anzugehen. Hier sieht der WBCSD Raum für Public Private Partnerships und die Zusammenarbeit mit NGOs.

Unternehmen und NGOs: Feinde oder Freunde?

Die SDGs postulieren den Dialog zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das Verhältnis zwischen Unternehmen und NGOs beurteilt der CEO des WBCSD positiv. Ihr Wissen, ihr Know-how und ihre oft jahrzehntelange Erfahrung erlaube NGOs eine stark an der Realität orientierte Sichtweise. NGOs seien wie kritische Freunde, wie ein Radar, das mit konstruktivem Engagement oder allenfalls auch einer Kampagne ein Unternehmen dazu drängen könne, mehr zu tun. Dank Daten, Technologie und sozialen Medien sei es heute ein Leichtes herauszufinden, was wirklich vor Ort geschehe, sagt Veglio. «Warum sollte ein Unternehmen Dinge behaupten, die nicht glaubwürdig sind? Gut, man kann ins Feld führen, noch nicht alle Firmen seien soweit, aber es ist unser Ziel, sie dorthin zu bringen. Wie könnten wir sonst gegenüber unseren ‚kritischen Freunden‘ glaubwürdig sein? Um dem Risiko des Rainbow Washing zu begegnen, fordern wir unsere Mitglieder auf, glaubwürdig zu sein und die Kritik der NGOs ernst zu nehmen.»

Auch Nachhaltigkeit ist Wettbewerb

Als Vertreter eines Wirtschaftsverbands ist für Veglio klar, dass Unternehmen nicht über Methoden, sondern über die Leistung konkurrieren sollten; sie sollten sich zwar auf Methoden einigen, dann jedoch die Besten gewinnen lassen, denn «in diesem 'Rennen um Nachhaltigkeit' wird es Gewinner und Verlierer geben.» Für jene, die in diesem Wettbewerb auf der Strecke bleiben, brauche es eine Art Puffer, die beim Übergang zu nachhaltigem Wirtschaften eingebaut werden müssten. «Hier müssen wir mit den Regierungen zusammenarbeiten; und die drängenden Fragen der NGOs beantworten können: Wie kommunizieren Sie Ihre Steuerdaten? Wie bezahlen Sie Ihre Mitarbeiter?».

Wirkungsmessung

Von Unternehmen zu erwarten, dass sie sich in Richtung nachhaltige Entwicklung bewegen und zur Erreichung der SDGs beitragen, ist eine Sache. Die tatsächlichen Auswirkungen messen zu können, eine andere. Laut Filippo Veglio zeigen zwei Beispiele, dass verschiedene Ansätze möglich sind: Der eine ist business-driven, der andere policy-driven.

Eine vor 15 Jahren vom WBCSD in Zusammenarbeit mit dem World Resources Institute entwickelte Methodik, das Greenhouse Gas Protocol (GHG Protocol), habe letztlich zur Offenlegung der CO₂-Emissionen geführt. Dies sei ein Beispiel für einen freiwilligen Ansatz der Businesswelt, der zur Entwicklung gemeinsamer Methoden geführt habe und von Unternehmen und Regierungen gleichermassen akzeptiert werde.

Ein anderes Beispiel betreffe die Rolle der Zentralbanken bei der Identifikation systemischer Risiken im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Als Gouverneur der Bank von England hatte Mark Carney die Unfähigkeit des Systems angesprochen, die Auswirkungen des Klimawandels auf Vermögenswerte, Investitionen, Unternehmenspolitik und systemische Risiken für das Finanzsystem zu definieren. Und dies trotz der offensichtlichen Gefahr kollabierender Vermögenswerte, massiver Abwertung und so weiter. Bei diesem Ansatz komme der Druck «von oben», eine klimabezogene finanzielle Offenlegung und Transparenz zu schaffen. Laut Veglio hat der WBCSD in diesem Fall Stakeholder an einen Tisch gebracht, um zu versuchen, die Richtlinien der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) auf sektoraler Ebene für Unternehmen etwa in den Bereichen Öl, Energie und Chemie umzusetzen.

Negative Auswirkungen durch positive Beiträge kompensieren?

Mit seiner Arbeit will der WBCSD auch negative Auswirkungen der Geschäftstätigkeit seiner Mitglieder auf die Menschenrechte verringern. Der sogenannte SDG-Kompass – eine Zusammenarbeit zwischen der Global Reporting Initiative (GRI), dem UN Global Compact und dem WBCSD – gibt Anleitungen, wie die UN-Richtlinien in Unternehmen umgesetzt werden sollten. Ein Bekenntnis zur Förderung von Menschenrechten oder zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung könne die Übernahme echter Verantwortung jedoch nicht ersetzen. In diesem Zusammenhang erinnert Veglio daran, dass im Umweltbereich viel über Kompensationsmechanismen diskutiert werde, um einen Ausgleich zu Emissionen oder Verschmutzung zu ermöglichen. «Im sozialen Bereich ist es nicht möglich, grundlegende Herausforderungen, mit denen Sie in Ihren Lieferketten konfrontiert sind, zu kompensieren. Die Unternehmen müssen sich den systemischen Herausforderungen stellen, mit denen sie in Bezug auf Preise, Produktionsbedingungen, Löhne, Arbeitsbedingungen und Zulieferer konfrontiert sind.»

Fazit

Die SDGs verlangen tiefgreifende Veränderungen von der Wirtschaft; dementsprechend lancieren einzelne ihrer Verbände wie der WBCSD klare Aufrufe zum Handeln. Und einige prominente Wirtschaftsführer zeigen sich offen dafür. Doch wird die notwendige Transformation schnell genug erfolgen? Ist die Messlatte hoch genug gelegt? Alliance Sud bleibt dran und wird den kritischen Austausch mit dem WBCSD fortsetzen.

Das gesamte Interview im englischen Original-Wortlaut ist hier nachzulesen.

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Verantwortungsvoll unternehmerisch handeln !

22.06.2020, Internationale Zusammenarbeit,

Die Coronakrise legt auf brutale Weise die tiefen Ungleichheiten in globalen Wertschöpfungsketten offen. Gleichzeitig stellt die Krise die Ernsthaftigkeit von Unternehmen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung auf die Probe.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Verantwortungsvoll unternehmerisch handeln !

Textilarbeiterinnen in der Bekleidungsfabrik Dulal Brothers Ltd. in Dhaka, Bangladesch.
© G.M.B. Akash/Panos

Nach einer Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von Anfang April 2020 waren weltweit rund 2,7 Milliarden ArbeitnehmerInnen von den Massnahmen betroffen, welche die Regierungen quer über den Globus gegen die Ausbreitung der Covid19-Pandemie verfügt haben. Kaum eine Einschätzung liess so aufhorchen, wie jene des Internationalen Währungsfonds (IWF), dass die Weltwirtschaft vor der schwersten Rezession seit der Grossen Depression der 1930er Jahre stehe.

Die Coronakrise hat deutlich gezeigt, wie einseitig die Chancen und Risiken in den globalen Wertschöpfungsketten heute verteilt sind: Soziale Kosten und das wirtschaftliche Risiko werden einseitig auf die Arbeitnehmenden und die Zuliefererfirmen in Entwicklungsländern ausgelagert. Um selbst überhaupt noch Gewinne erwirtschaften zu können, vernachlässigen viele Unternehmen ihre soziale Verantwortung (CSR) und ihre Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte. Die Folge ist die bekannte Prekarität unserer globalen Produktions- und Konsumsysteme. Im Bekleidungssektor zum Beispiel bestand die unmittelbare Reaktion vieler globaler Marken auf den Ausbruch der Pandemie darin, einseitig Bestellungen für bereits produzierte oder in Produktion befindliche Waren zu stornieren. Von den Zulieferern in Bangladesch, die plötzlich und ohne Entschädigung Verträge verloren, gaben mehr als 70 Prozent an, dass sie ihren Beschäftigten kein Einkommen bieten konnten als sie entlassen wurden, und mehr als 80 Prozent gaben an, dass sie keine Abfindung zahlen konnten als die Annullierung von Aufträgen zur Entlassung von Beschäftigten führte. Mehr als 95% gaben an, dass sie keine Unterstützung von Marken und Einzelhändlern zur Deckung dieser Kosten erhielten. In einer Vielzahl von Wirtschaftssektoren sehen sich Unternehmen mit katastrophalen Verlusten konfrontiert, die ihre Solvenz bedrohen. Insbesondere bescheiden kapitalisierte kleine Unternehmen sind vom Konkurs bedroht, Abermillionen von Arbeitnehmenden sind mit Einkommensverlust oder gar Entlassung konfrontiert.  

Angesichts dieser dramatischen Situation haben die OECD, die UN-Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Menschenrechte und mehrere internationale NGOs an den internationalen normativen Rahmen erinnert, der verantwortungsbewusstes unternehmerisches Handeln (Responsible Business Conduct, RBC) definiert. Jetzt, in Zeiten der globalen Covid19-Pandemie und der sich daraus ergebenden Wirtschaftskrise, stehen Regierungen und Unternehmen vor der beispiellosen Bewährungsprobe, wie ernst es ihnen damit war und ist. RBC anerkennt die negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte, die sich ergeben können, wenn ein Unternehmen redimensionieren muss. Und RBC betont die Verantwortung der Unternehmen, diese negativen Auswirkungen zu minimieren oder zu verhindern. Die einschlägigen UN- und OECD-Richtlinien erwarten von Unternehmen, die sich aus ihren Geschäftsbeziehungen zurückziehen, dass sie dies verantwortungsvoll tun und zusätzliche negative Auswirkungen auf Arbeitnehmende und betroffene Gemeinschaften so weit wie möglich reduzieren.

Verantwortung ist kein Schönwetterprogramm

In ihrer Analyse listet die OECD konkrete Massnahmen auf, welche die Unternehmen ergreifen sollten, um auch angesichts der Krise verantwortungsvolle Geschäftspraktiken zu gewährleisten. Kommt es zu Störungen der Nachfrage (demand-side disruptions) und als Folge davon zur Stornierung oder zur Annullierung von Aufträgen, so muss ein Unternehmen sorgfältig auch die Auswirkungen auf die Umwelt oder die Gesellschaft evaluieren, genauso wie es dazugehört abzuklären, was es braucht, um einen Betrieb nach der Krise wieder hochzufahren. Die Ergebnisse – wozu auch die Erarbeitung alternativer Lösungsszenarien gehört – sind nicht nur den Geschäftspartnern und Regierungen, sondern auch den Gewerkschaften und ArbeitnehmervertreterInnen mitzuteilen. Ziel muss sein, in der Krise zusammenzuarbeiten, gemeinsam praktikable Optionen zu prüfen, mit denen die Folgen der Krise so weit wie möglich gemildert werden können. Innovative Lösungen, wie etwa die Kürzung von Managergehältern oder die Streichung von Dividendenzahlungen sollen geprüft werden, damit Gehälter finanziert, Entlassungen oder unbezahlte Zwangsurlaube vermieden werden können.

In der jetzigen Phase der Krise ist es von entscheidender Bedeutung, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen nicht zu einer Senkung von Standards führen. Im Gegenteil: Jetzt gilt es für verantwortungsvolle Unternehmen den Tatbeweis anzutreten, dass die internationalen Instrumente, die verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln definieren, kein Schönwetterprogramm sind, das beim ersten grossen Sturm beiseitegelegt wird. Es ist darum richtig, wenn die UN-Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Menschenrechte fordert, dass jede finanzielle Unterstützung oder gar Rettung von Unternehmen mit Steuergeldern an deren klares Bekenntnis gebunden sein sollte, die Standards für verantwortungsbewusstes Geschäftsgebaren zu respektieren.
Die Achtung der Menschenrechte während der Krise und darüber hinaus muss eine Schlüsselaufgabe für Unternehmen sein, um zu einer nachhaltigen Erholung beizutragen. Die Due-Diligence-Prüfung der Menschenrechte erfordert, dass die Risiken für die Menschen identifiziert und abgemildert werden. Dazu gehört es, angemessene Präventivmassnahmen zu ergreifen, um unter anderem die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmenden zu gewährleisten.

The new normal

Die Pandemie wird schliesslich vorübergehen. Wie die UN-Arbeitsgruppe ist auch Alliance Sud überzeugt, dass die Staaten und die Wirtschaftsakteure aus dieser Krise lernen sollten. Es kann nicht darum gehen, möglichst schnell zu einer vermeintlichen Normalität zurückzukehren, vielmehr muss eine «neue Normalität» auf der Grundlage internationaler Instrumente für verantwortungsbewusstes unternehmerisches Handeln geschmiedet werden. Die Erholungsphase sollte eine Gelegenheit sein, belastbare und robuste globale Wertschöpfungsketten zu schaffen, deren Priorität es sein muss, die Verwundbarkeit von Arbeitnehmenden zu verringern. Konkret bedeutet dies, dass menschenwürdige Arbeitsbedingungen und tragfähige Sozialversicherungssysteme geschaffen und Löhne bezahlt werden, die des 21. Jahrhunderts würdig sind. Das Ziel muss sein, dass uns diese neue Normalität in die Lage versetzt, uns besser auf die nächste Krise vorzubereiten und uns Raum gibt, unsere kollektive Aufmerksamkeit auf die Klimakrise und andere menschenrechtliche Herausforderungen zu konzentrieren, die sich aus den wachsenden Ungleichheiten ergeben.

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Medienmitteilung

Ja zur Konzernverantwortung fördert Gerechtigkeit

26.10.2020, Internationale Zusammenarbeit

Für Alliance Sud ist klar: Die Konzernverantwortungsinitiative ist ein wichtiger Schritt, um Menschen im globalen Süden vor Willkür und Ausbeutung zu schützen.

 

Ja zur Konzernverantwortung fördert Gerechtigkeit

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Am 29. November entscheiden die Stimmberechtigten, ob Konzerne in der Schweiz auch für Schäden geradestehen müssen, die sie im Ausland anrichten. Die Konzernverantwortungsinitiative verlangt, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz weltweit die Menschenrechte und anerkannte Umweltstandards einhalten. Wenn sie trotzdem Menschenrechte verletzen oder die Umwelt zerstören, sollen sie vor einem unabhängigen Gericht in der Schweiz dafür geradestehen – also in dem Land, wo der Hauptsitz des Konzerns die relevanten Entschei-dungen trifft. Verantwortungsvoll zu handeln ist eine Selbstverständlichkeit, doch die Praxis sieht zu oft anders aus. Die entwicklungspolitische Denkfabrik Alliance Sud kämpft schon seit der Lan-cierung der Petition «Recht ohne Grenzen» konsequent für die gesetzliche Verankerung einer Sorgfaltspflicht für international tätige Unternehmen mit Sitz in der Schweiz.

«Während die grosse Mehrheit der Schweizer Unternehmen verantwortungsvoll wirtschaftet, ver-schaffen sich einzelne Konzerne auf haarsträubende Weise Konkurrenzvorteile; sie gefährden damit auch Fortschritte, die der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit zu verdanken sind», sagt Mark Herkenrath, Geschäftsleiter von Alliance Sud und Mitglied des Initiativkomitees. Der Gegen-vorschlag des Bundesrates sei eine durchsichtige Alibiübung, fügt er hinzu: «Er verpflichtet auch die skrupellosesten Konzerne bloss darauf, in jährlichen Hochglanzbroschüren ihre Menschen-rechtspraktiken zu beschönigen.»


Die Gegner der Initiative operieren im Abstimmungskampf mit falschen Behauptungen und Angst-mache. Aus entwicklungspolitischer Sicht ist klar:

- Konzerne, die Menschenrechte und Umweltschutz verletzen, fördern die nachhaltige Entwicklung nicht, sondern schaden ihr. Wirtschaftliche Entwicklung und die konsequente Durchsetzung internationaler Menschenrechts- und Umweltstandards stehen nicht im Wider-spruch zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Seit Jahrzehnten versuchen die Ver-einten Nationen darum, den Bereich «Unternehmen und Menschenrechte» so zu regeln, dass legitime Interessen in ein Gleichgewicht gebracht werden. Ein diesbezüglicher Meilenstein wa-ren die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die der UN-Menschenrechtsrat 2011 einstimmig verabschiedete. Die Staaten werden darin verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Un-ternehmen unter ihrer Jurisdiktion die Menschenrechte einhalten.

- Schweizer Konzerne haben grosse wirtschaftliche Interessen in Entwicklungs- und Schwellenländern und werden sich bei Annahme der Initiative keinesfalls von dort zurückziehen. Unternehmen, die bereits heute sorgfältig wirtschaften, wissen: Die Einhaltung der Menschenrechte und Umweltstandards schafft nur geringe Mehrkosten und erzeugt grosse Reputationsgewinne. In gewissen Sektoren (namentlich Rohstoffe) gibt es gar keine Möglichkeiten, ausserhalb von Ländern des globalen Südens tätig zu sein. Eine Umfrage bei den Finanzchefs von Schweizer Unternehmen zeigt klar, dass ein JA zur Initiative keinen Einfluss auf ihre Investitionen im Ausland haben wird.

- Das Argument, nachstossende chinesische Konzerne gingen rücksichtsloser vor als Schweizer Konzerne, ist hochgradig zynisch: Es rechtfertigt vereinzelte Schweizer Ge-schäftspraktiken, die schlicht nicht tolerierbar sind. Notabene haben Länder wie Grossbritan-nien, die Niederlande oder Frankreich gesetzliche Regeln im Bereich Unternehmen und Men-schenrechte bereits in Kraft gesetzt; die EU arbeitet an einer entsprechenden Richtlinie.

Die Konzernverantwortungsinitiative ist massvoll und kann mit wenig bürokratischem Aufwand umgesetzt werden. Der internationale Reputationsschaden, den die Schweiz bei einer Ablehnung erleiden würde, wäre beträchtlich, denn die Initiative verlangt eine Selbstverständlichkeit: Schwei¬zer Konzerne sollen nicht ungestraft bleiben, wenn sie dafür verantwortlich sind, dass Menschen vergiftet oder ganze Gemeinschaften vertrieben werden.
 
Weiterführende Informationen:
Editorial von Mark Herkenrath in der Alliance Sud-Zeitschrift «global» zur freien Verfügung.
Hintergrundinformation zur KVI auf der Alliance Sud-Website
E-Dossier zur KVI von Alliance Sud InfoDoc.

Artikel

«Die Konzern-Initiative ist entwicklungsfördernd»

02.11.2020, Internationale Zusammenarbeit,

Ist die Konzernverantwortungsinitiative auch gut und gerecht für die Bevölkerung in Entwicklungsländern? Eindeutig ja, sagen 15 renommierte EntwicklungsökonomInnen aus der ganzen Schweiz. Lesen Sie hier ihre Stellungnahme.

«Die Konzern-Initiative ist entwicklungsfördernd»

Am 29. November wird über die Eidgenössische Volksinitiative  «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» (kurz: Konzernverantwortungsinitiative) abgestimmt. Bei dieser von einer breiten Koalition aus Politik, Wirtschaft und Schweizer Hilfswerken unterstützten Initiative geht es darum, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz verpflichtet werden sollen, auch bei ihrer Tätigkeit im Ausland grundlegende Menschenrechte und Umweltstandards einzuhalten.

Als Professorinnen und Professoren der Entwicklungsökonomie an verschiedenen Schweizer Universitäten beschäftigen wir uns regelmässig mit der Bedeutung der Wirtschaft für die Entwicklung in den armen Ländern dieser Welt. Da die entwicklungspolitische Wirksamkeit der Initiative zunehmend in den Fokus der Diskussion gerät, möchten wir unsere Expertise in diesen Diskurs einbringen. Unter uns besteht der folgende Konsens:

  • Die Privatwirtschaft ist ein entscheidender Motor der Entwicklung und der Armutsbekämpfung – aber nur, wenn dabei grundlegende Menschenrechte wie der Schutz von Leib und Leben gewährleistet sind und keine groben Verletzungen des natürlichen Lebensumfelds damit einhergehen, die die zukünftigen Einkommensmöglichkeiten der Menschen erheblich beeinträchtigen.
  • Ohne klare Haftungsregeln werden immer wieder einzelne Unternehmen mit ihrer Tätigkeit grossen entwicklungspolitischen Schaden anrichten, insbesondere dann, wenn ihre Machtposition im betroffenen Land gross und die Regierung schwach ist.
  • Die Konzernverantwortungsinitiative ist für die grosse Zahl von Schweizer Unternehmenförderlich, die internationale Menschenrechts- und Umweltstandards schon jetzt respektieren. Sie sorgt nämlich für die Einhaltung dieser elementaren Spielregeln durch alle Schweizer Unternehmen. Sie schafft also faire Wettbewerbsbedingungen, indem diejenigen, die ihrer Sorgfaltspflicht in dieser Hinsicht nicht genüge tun, für nachweisbar von ihnen verursachte Schäden auch haften müssen. Dies ist auch ein Grund, warum viele Schweizer Unternehmen die Initiative aktiv unterstützen.
  • Die Konzernverantwortungsinitiative trägt zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit bei. Die Ziele der Entwicklungszusammenarbeit dürfen nicht durch Interessen einzelner Unternehmen ausgehebelt werden. Schweizer Steuergelder, die für Projekte zur Armutsbekämpfung und Umweltschutz in Entwicklungsländern eingesetzt werden, können nur wenig Wirkung erzielen, wenn Projekterfolge durch die unverantwortliche Tätigkeit einzelner Schweizer Unternehmen sogleich wieder in Frage gestellt werden. Auch der Bundesrat identifiziert in seiner laufenden Botschaft zur internationalen Zusammenarbeit der Schweiz Handlungsbedarfbezüglich der Kohärenz zwischen Unternehmensverantwortung und Entwicklungszielen.
  • Schon kleine, kostengünstige Massnahmen können in Entwicklungsländern teilweise erhebliche Verbesserungen der sozialen und Umweltsituation erzielen. Angesichts der hohen Kosten einer Standortverlegung ist daher nicht mit einem Rückzug von Schweizer Konzernen aus Entwicklungsländern zu rechnen, wenn sie durch die Konzernverantwortungsinitiative angehalten werden, solche Massnahmen umzusetzen. Zu rechnen ist vielmehr damit, dass diejenigen Unternehmen, die sich bisher tatsächlich schwerwiegende Verstösse gegen Menschenrechte und Umweltstandards zuschulden kommen lassen, zukünftig gewisse Anpassungen vornehmen werden, um zumindest den Minimalkriterien gerecht zu werden. Oft ist ein Weggang der Unternehmen im Übrigen auch deswegen nicht möglich, weil die betriebliche Tätigkeit an die Gewinnung lokaler Rohstoffe gebunden ist. Somit ist nicht mit einem Verlust an Arbeitsplätzen zurechnen, sondern mit der Verbesserung der derzeitigen Umwelt- und Arbeitssituation in den betroffenen Ländern.
    Wir sind daher der Überzeugung, dass die Konzernverantwortungsinitiative ein geeignetes Instrument ist, um sicherzustellen, dass Aktivitäten von Schweizer Unternehmen in Entwicklungsländern entwicklungsfördernd und nicht entwicklungshemmend wirken. Sie unterstützt zudem die Wirksamkeit der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Und sie lässt «Swissness» zum Label für verantwortungsvolles Unternehmertum werden.

Prof. Julia Cajal Grossi, The Graduate Institute Geneva
Prof. Gilles Carbonnier, The Graduate Institute Geneva
Prof. Lorenzo Casaburi, Universität Zürich
Prof. Nicolas Depetris Chauvin, HEG Genève
Prof. Christelle Dumas, Université de Fribourg
Prof. Günther Fink, Universität Basel
Prof. Charles Gottlieb, Universität St. Gallen
Prof. Isabel Günther, ETH Zürich
Prof. Roland Hodler, Universität St. Gallen
Prof. Guilherme Lichand, Universität Zürich
Prof. Jérémy Lucchetti, Université de Genève
Prof. Katharina Michaelowa, Universität Zürich
Prof. Ugo Panizza, The Graduate Institute Geneva
Prof. Dina Pomeranz, Universität Zürich
Prof. Lore Vandewalle, The Graduate Institute Geneva

Medienmitteilung

Ja zur Konzernverantwortungsinitiative am 29. Nov.

01.11.2020, Internationale Zusammenarbeit

Die Initianten der Konzernverantwortungsinitiative haben heute in Bern ihre Argumente dargelegt. Sie fordern eine Selbstverständlichkeit: Konzerne mit Sitz in der Schweiz sollen dazu verpflichtet werden, die Menschenrechte und internationale Umweltstandards auch im Ausland zu respektieren. Tun sie dies nicht, sollen sie für angerichtete Schäden geradestehen.

Ja zur Konzernverantwortungsinitiative am 29. Nov.

 

In der peruanischen Stadt Cerro de Pasco sind Wasser, Boden und Luft vergiftet. Der Zuger Rohstoffriese Glencore kontrolliert hier die Minengesellschaft Volcan, welche zu den weltweit grössten Produzentinnen von Zink, Blei und Silber gehört. 2019 untersuchte die Stiftung «Climate Crime Analysis Center» im Auftrag des norwegischen Staatsfonds die Situation vor Ort mittels Haaranalysen und Satellitenbildern und kam zum Schluss, dass die Schwermetallbelastung durch die Mine verantwortlich ist für die massiven Gesundheits-schäden der Bevölkerung und die extreme Umweltverschmutzung. Zusätzlich konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass sich die Bleibelastung bei Kindern seit der Übernahme der Mine durch Glencore weiter verschlimmert hat.

Dieses Beispiel steht stellvertretend für die wiederkehrenden Menschenrechtsverletzungen und Umweltprobleme, welche einige Konzerne mit Sitz in der Schweiz verursachen. Mit der Konzernverantwortungsinitiative wäre Glencore verpflichtet, Massnahmen gegen die Verschmutzung zu ergreifen. Und die geschädigten Menschen aus Cerro de Pasco könnten hier in der Schweiz Wiedergutmachung erlangen.

Eine Selbstverständlichkeit im Dienste der Menschen vor Ort

Dick Marty, Co-Präsident des Initiativkomitees erklärt: «Unsere Initiative fordert eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein zentraler Grundsatz unserer Gesellschaft und unseres Rechtstaates, dass alle Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen. Und dass, wer einen Schaden anrichtet, auch dafür geradestehen muss.»

Nichtregierungsorganisationen, die mit Partnern in Entwicklungsländern arbeiten, wissen, welche zerstörerischen Folgen die Tätigkeiten gewisser Konzerne haben. Chantal Peyer, Vorstandsmitglied der Initiative und Expertin für Menschenrechte und Wirtschaft bei Brot für alle hat in der Demokratischen Republik Kongo die Auswirkungen der Kobalt-Minen Glencores kennengelernt: Verschmutzte Flüsse, verschandelte Landstriche, verletzte Menschen. Peyer betont: «In Ländern mit schwachen Staatsstrukturen werden Menschen, die sich vor Ort wehren, oft bedroht und die Justiz ist korrupt. Deshalb ist es zentral, dass Betroffene hier in der Schweiz Wiedergutmachung verlangen können.»

Pragmatisch und wirkungsvoll

SP-Ständerat und Rechtsprofessor Daniel Jositsch hat die Arbeiten des Parlaments zur Konzernverantwortungsinitiative als Mitglied der Rechtskommission begleitet. Er ist überzeugt, dass die Initiative einen pragmatischen Weg verfolgt: «Mit der Initiative nehmen wir genau jene wenigen Konzerne in die Pflicht, die sich heute um Menschenrechte und Umweltstandards foutieren. Und das kommt allen Schweizer Unternehmen zu Gute, die heute einen Konkurrenznachteil haben, weil sie anständig wirtschaften.»

Breite Unterstützung

Neben 130 Organisationen der Zivilgesellschaft, 300 Unternehmer/innen, den Kirchen und Tausenden von Freiwilligen in über 400 Lokalkomitees steht ein gewichtiges Bürgerliches Komitee mit über 450 Politiker/innen hinter der Konzernverantwortungsinitiative. Dominiert wird dieses von CVP-Vertreter/innen, was sich auch in den Positionen der Kantonalparteien spiegelt: Im Thurgau, in Bern und in Genf hat die CVP unlängst eine Ja-Parole gefasst. Keine Überraschung sagt Dominique de Buman, langjähriger Freiburger CVP-Nationalrat: «Für mich und den grössten Teil unserer Basis geht es hier um den Kern unserer Werte: Die Menschenwürde. Es ist sonnenklar, dass Konzerne nicht mehr wegschauen dürfen, wenn ganze Landstriche vergiftet oder Minderjährige zu schlimmsten Arbeiten gezwungen werden.»

In den nächsten Tagen und Wochen werden die Initianten ihre Anstrengungen nochmals verstärken, um ihre Argumente möglichst hörbar zu machen. Tausend von Unterstützer/innen haben über 800'000 Postkarten bestellt, um ihr persönliches Umfeld zu informieren. Lokalkomitees werden wo möglich Standaktionen mit Schutzkonzepten durchführen und mittels Crowdfunding konnte eine Abstimmungszeitung finanziert werden. Dick Marty ist optimistisch: «Ich bin optimistisch, dass wir es schaffen, die Menschen über die Falschinformationen der Bundesrätin und der Gegner aufzuklären. Denn eigentlich ist es ja klar: Wem die Menschenleben in Nigeria oder Peru gleich viel wert sind wie jene in der Schweiz, der stimmt ja.»

Medienmitteilung

Mehrheit für Konzernverantwortung, kein Ständemehr

29.11.2020, Internationale Zusammenarbeit

Die InitiantInnen der Konzernverantwortungsinitiative sind erfreut über das Volksmehr, aber enttäuscht, dass es nicht für das Ständemehr gereicht hat. Heute hat sich damit die Konzernlobby durchgesetzt, leider auch dank Falschbehauptungen.

Mehrheit für Konzernverantwortung, kein Ständemehr

Den Grosskonzernen ist es gelungen, KMU als besonders betroffen darzustellen, obwohl sie ausgenommen wären. Die Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat wider besseren Wissens die irreführende Behauptung der Beweislastumkehr verbreitet. Und Komitees der PR-Agentur Furrer Hugi haben nicht nur mit einem Fake-Faktencheck auf den Tamedia-Portalen geworben, sondern auch Angst vor Klagewellen amerikanischer Prägung geschürt – obwohl die Prozesshürden in der Schweiz sehr hoch sind. In der Summe hat die Verwirrungstaktik der Konzernlobby leider funktioniert.


Dank an Zehntausende von Freiwilligen
Der Dank der Initianten geht an die Zehntausenden von Freiwilligen, welche für das Anliegen gekämpft haben und damit eine Mehrheit der Stimmbevölkerung überzeugen konnten. Es gab in jüngster Zeit wohl keine Abstimmung, für welche sich so viele Menschen eingesetzt haben. Trotz der heutigen Enttäuschung kann die Konzernlobby das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Heute bestreitet niemand mehr, dass sich Unternehmen auch im Ausland an Menschenrechte und Umweltstandards halten müssen. Während der letzten Monate haben alle Grosskonzerne für sich in Anspruch genommen, dass sie Menschenrechte und die Umweltstandards respektieren. Die Konzerne werden sich an dieser Behauptung messen lassen müssen.


Forderungen der Konzernverantwortungsinitiative werden umgesetzt werden
Für die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ist klar, dass Profit nicht auf Kosten der Menschen oder der Umwelt erwirtschaftet werden darf. Deshalb hat die Mehrheit der Bevölkerung Ja gestimmt. Dies entspricht auch einem internationalen Trend: Immer mehr Länder erlassen Gesetze zur Konzernverantwortung. Die Initianten sind überzeugt: In wenigen Jahren werden sich die Forderungen der Konzernverantwortungsinitiative auch hier durchsetzen. Dafür werden sich alle Organisationen weiterhin mit ganzer Kraft einsetzen.


Zitate:
Dick Marty, Co-Präsident des Initiativkomitees und Tessiner alt Ständerat der FDP:
«Heute möchte ich vor allem den Freiwilligen danken. Die Kampagne hat gezeigt, dass Zehntausende von Bürgerinnen und Bürgern zusammen viel erreichen können – auch wenn wir heute anerkennen müssen, dass die Konzernlobby mit ihren Falschmeldungen gewonnen hat. Das Engagement der Bürger/innen und das Volksmehr macht mir grossen Mut. Ich werde mich weiterhin für mehr Gerechtigkeit einsetzen.»

Monika Roth, Co-Präsidentin des Initiativkomitees, Rechtsprofessorin und Compliance-Spezialistin:
«Ich bin überzeugt, dass die Selbstverpflichtung ohne wirksame Kontrolle und Haftung nicht ausreichend sind, damit alle Konzerne internationale Umweltstandards und die Menschenrechte respektieren. Der indirekte Gegenvorschlag wird deshalb keine Verbesserungen bringen. Klar ist, dass die starke Koalition für mehr Konzernverantwortung sich weiterhin dafür einsetzen wird, dass sich künftig alle an ein Mindestmass an Verantwortung halten werden.»

Artikel, Global

Die Wirtschaft in die Verantwortung nehmen

08.12.2020, Internationale Zusammenarbeit

Mit dem Volksmehr auf ihrer Seite darf sich die einmalig breite KVI-Koalition aus 130 Organisationen der Zivilgesellschaft durchaus als Gewinnerin fühlen.

Die Wirtschaft in die Verantwortung nehmen

© Chris Stowers / Panos

Ob sich die Konzernlobby richtig freuen kann über ihren knappen Abstimmungserfolg, der nur dank dem verpassten Ständemehr, vor allem aber dank einer beispiellosen Angstmacher-Kampagne zustande gekommen ist? Fakt ist: Eine Mehrheit von 50,7 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten hat «Ja» gestimmt. Sie widersetzte sich jenen Kräften, die jahrzehntelang glaubten, die Schweizer Politik in ihrem Interesse steuern zu können, dabei aber die Rechte der Menschen und die Umwelt im globalen Süden grosszügig ignorierten.

Die Niederlage der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) an der Urne ist zu akzeptieren, und doch ist klar festzuhalten: Mit dem Volksmehr auf ihrer Seite darf sich die einmalig breite KVI-Koalition aus 130 Organisationen der Zivilgesellschaft durchaus als Gewinnerin fühlen. Noch nie wurde auf allen denkbaren medialen Kanälen so intensiv über Fragen der globalen Verantwortung der Schweiz und ihres Geschäftsmodells diskutiert. Noch nie standen economiesuisse, SwissHoldings, der Gewerbeverband und auch der Bauernverband mit ihren Argumenten dermassen im Gegenwind. Diese Kräfte, denen Machterhalt und Profit offenbar wichtiger sind als die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in Entwicklungsländern, konnten ihre Deutungshoheit nur mit zweifelhaften Mitteln durchsetzen.

Eine Mehrheit der Stimmberechtigten in den Städten und in der lateinischen Schweiz war nicht bereit, sich von einer mit Unwahrheiten und Verdrehungen gespickten Kampagne vorgaukeln zu lassen, was verantwortungsvolles Unternehmertum bedeutet. Auch viele weitsichtige UnternehmerInnen und InvestorInnen haben die harte, kompromisslose Haltung der Manager alter Schule zurückgewiesen, deren ParteigängerInnen hinterfragt und einen anderen, nachhaltigen Weg für die Wirtschaft aufgezeigt.

Mit dem Ausgang der Abstimmung vom 29. November tritt der von economiesuisse und Bundesrätin Karin Keller-Sutter ins Spiel gebrachte indirekte Gegenvorschlag in Kraft. Was ihm insbesondere fehlt, ist eine sektorübergreifende Sorgfaltspflicht und ein Haftungsmechanismus, der Unternehmen mit Menschenrechts- und Umweltrisiken in ihren Geschäftsbeziehungen dazu bringen würde, diese Risiken ernsthaft zu evaluieren und anzugehen. Stattdessen werden wir jetzt Berichte zu lesen bekommen, die ausgewählte Massnahmen im Bereich sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit dokumentieren. Doch wir wissen, Papier ist geduldig; es wird weiterhin Konzerne geben, die diese Berichterstattung als reine Alibiübung erledigen, ohne dass dies für sie Konsequenzen hätte.

Soviel ist klar: Die KVI-Koalition, die Alliance Sud von Anfang an mitgeprägt hat, wird auch in Zukunft genau hinschauen. Sie wird die Wirtschaft in die Verantwortung nehmen, den dringend notwendigen Schweizer Beitrag zur globalen nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Artikel

«Das Feld ist gross für Angstmache»

13.01.2015, Internationale Zusammenarbeit

Alliance-Sud-Geschäftsleiter Peter Niggli im Interview mit der Basler Zeitung über Fremdenfeindlichkeit, Migration, Entwicklung und Solidarität.

«Das Feld ist gross für Angstmache»

© Daniel Rihs/Alliance Sud

BaZ: Peter Niggli, in der Schweiz sorgten 2014 die Masseneinwanderungs- und die Ecopop-Initiative für Schlagzeilen. Beide haben die Zuwanderung respektive deren Beschränkung zum Inhalt. Sind wir fremdenfeindlich?

Peter Niggli: Seit etwa 30 Jahren ist eine Strömung von 20 bis 25 Prozent der Schweizer Bevölkerung feststellbar, die relativ oder stark fremdenfeindlich ist. Mit diesem maximal einen Viertel der Bevölkerung lässt sich die Mehrheit für die Masseneinwanderungs-Initiative nicht erklären. Deren Annahme hängt vielmehr mit Problemen der Einwanderung zusammen, wie sie heute alle europäischen Länder kennen. Alle sehen sich mit Defiziten bei der Integration der schon Eingewanderten konfrontiert.

Wie sieht gute Integrationspolitik aus?

Wir sind in der Schweiz eine Einwanderergesellschaft, folglich ist Integration eine Daueraufgabe. Dabei stellen sich viele Fragen. Wie bekommen Kinder von Eingewanderten die gleichen Chancen wie Kinder von Schweizern? Das setzt im Bildungssystem mehr voraus, als wir heute bieten. Auch die Integration ins Berufsleben birgt Probleme, wegen schulischer Defizite, aber auch wegen der Diskriminierung aufgrund der Endung des Namens. Verpasst haben wir zum Beispiel auch, dass Vertreter grosser Einwanderungsgruppen in den Polizeikorps angemessen vertreten sind. Es gäbe noch viel aufzuzählen, mir ist aber gleichzeitig wichtig festzuhalten, dass in der Schweizer Integrationspolitik vieles gar nicht so schlecht lief.

Trotzdem will ganz offensichtlich eine Mehrheit der Schweizer nicht noch mehr Einwanderung. Sie beschwert sich über überfüllte Trams und Züge, über Wohnungsnot und fürchtet eine Zubetonierung der Landschaft. Wie viel Zuwanderung erträgt die Schweiz?

Wir sind deshalb ein Einwanderungsland, weil wir viel reicher sind als die Umgebung. Unsere Unternehmen sind erfolgreich und haben einen Durst nach Arbeitskräften, der vom Inland nicht gesättigt wird. Es gab übrigens auch grosse Einbrüche bei der Zuwanderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Der erste war in den 1970er Jahren, als wir 300'000 Menschen als Folge einer Kaskade kleinerer Wirtschaftskrisen über die Grenze schickten. Der zweite Einbruch erfolgte in den 90er Jahren, als die Schweiz Jahre des Nullwachstums auswies. Die Maschinenindustrie baute Arbeitsplätze in grossem Stil ab, die Leute wurden in die Invalidenversicherung umgelagert. Seit 2005/06 erleben wir einen relativ starken Wirtschaftsaufschwung, der auch von der internationalen Finanzkrise 2008 nicht gebremst wurde. Ich glaube aber, dass sich der Aufschwung nicht mehr lange fortsetzen wird. Weil die Wirtschaft in den kommenden Jahren nicht mehr so stark expandieren wird, wird die Einwanderung von alleine zurückgehen.

Wenn es der Schweiz gut geht, kommen Einwanderer, wenn es ihr nicht gut geht, kommen sie nicht, sagen Sie. Ist das nicht eine etwas sehr positive Sicht? Immerhin zieht die Schweiz auch Einwanderer an, die nicht erwünscht sind, da und dort ist die Rede von Sozialtouristen.

Diese Einwanderung in die Sozialsysteme ist ein Slogan der Rechten in ganz Europa. Sie findet in der Schweiz nicht statt. Sie ist auch nicht rechtens. Niemand kann in die Schweiz kommen und sich bei der Arbeitslosenkasse anmelden, die Behörden können solche Leute ausweisen. Hier ist das Feld gross für Übertreibungen und Angstmache. Wir wollen nur Fachkräfte, heisst es. Ja schon, sage ich, aber die Schweizer Landwirtschaft, treue SVP-Wähler, will möglichst billige Erntearbeiter. Gleiches gilt für das Gastgewerbe und den Tourismus, die «niederen Arbeiten» in diesen Branchen werden alle von Nicht-Fachkräften ausgeübt. Die Schweizer Haltung ist da sehr widersprüchlich.

Auch Klagen über den Anstieg der Asylzahlen werden lauter. Gemeinden wehren sich gegen Unterkünfte und beschweren sich über massiv steigende Ausgaben für die Betreuung der Asylanten, die lange gar nicht arbeiten dürfen und danach oft nur schwer in den Arbeitsprozess integriert werden können.

Wir wissen, warum die Asylzahlen 2014 stiegen. Was in Syrien und im Irak abläuft, produziert Millionen Flüchtlinge. Was in einzelnen afrikanischen Staaten geschehen ist, produziert Flüchtlinge. Von diesen Abermillionen Flüchtlingen kommt eine Schaumkrone nach Europa. Diese Menschen haben ein Recht auf Schutz.

Es fliehen aber vergleichsweise wenig Iraker oder Somalier in die Schweiz, stattdessen kommen Eritreer, in deren Heimat aktuell kein Krieg ist.

In Eritrea herrscht ein Unterdrückerregime. Das Asylrecht, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, dient dem Schutz vor unterdrückerischen, repressiven, totalitären Regimes. Krieg kommt ausserdem als Asylgrund dazu. Anrecht auf Einwanderung in die Schweiz haben eigentlich nur Bürger aus der EU, für Menschen aus Afrika und den meisten asiatischen Staaten ist eine legale Einwanderung praktisch ausgeschlossen. Also müssen diese Menschen illegal einwandern und Asyl beantragen. Eine Einwanderungsmöglichkeit, die allerdings überschätzt wird, da die wenigsten Asylbewerber in der Schweiz auch Asyl erhalten. Trotzdem debattiert die Schweizer Politik wochenlang solche Themen, statt dass wir uns fragen, ob wir nicht dringendere Probleme hätten.

Sie sind Geschäftsleiter von Alliance Sud, dem Zusammenschluss der grössten Schweizer Hilfswerke. Kann Entwicklungshilfe zur Entschärfung der Migrationsbewegungen beitragen?

Wäre die Einkommensverteilung auf der Welt und die Verteilung von wirtschaftlichen Chancen viel gleicher, als sie das heute ist, gäbe es weniger Migrationsprobleme. Von diesem Zustand sind wir aber ziemlich weit entfernt. Die acht Millionen Menschen in der Schweiz zum Beispiel erarbeiten wirtschaftlich 20 Prozent mehr als die 850 Millionen Menschen, die in der Gruppe der ärmsten Länder leben. So lange es solch krasse Unterschiede gibt, wird die Migrationsdynamik anhalten. Entwicklungszusammenarbeit trägt dazu bei, dass sich diese Unterschiede einebnen, aber sicher nicht von heute auf morgen, die Unterschiede werden in den nächsten 20 bis 30 Jahren sehr gross bleiben.

Was hat die Entwicklungszusammenarbeit der vergangenen Jahrzehnte gebracht?

Die westlichen Staaten machen zuallererst Machtpolitik. Sie stützten Regierungen, die ihnen genehm waren und stürzten ihnen ungenehme. Wir schürten Konflikte, manchmal versuchten wir auch Frieden zu stiften. Die westlichen Staaten verfechten unsere wirtschaftlichen Interessen, haben Länder in Lateinamerika und Afrika zur Marktöffnung gezwungen, was dort bestehende schwache Industrien ganz weggefegt hat. Und neben all dem geben wir noch ein bisschen Hilfe. Trotzdem sind sichtbare Erfolge vorzuweisen: Menschen, die dank Entwicklungszusammenarbeit überlebt haben, eine Krankheit überwinden oder eine Ausbildung machen konnten oder die einen Rechtsanspruch auf von ihnen bearbeitetes Land bekommen haben. Das sind nur einige Beispiele aus Bereichen, in denen die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit sich besonders engagiert.

Ist Entwicklungshilfe mehr als ein Gebot der Solidarität?

Der Grund, warum wir Entwicklungszusammenarbeit leisten, sollte Solidarität sein. Dass es mir gut geht oder Ihnen, hängt ja nicht damit zusammen, dass wir wahnsinnig viel geleistet hätten. Das wichtigste war, dass wir in der Schweiz, zu dieser Zeit, geboren wurden. Wäre ich auf der Müllhalde in Kairo zur Welt gekommen oder in einer Hütte irgendwo in Zentralafrika, hätte das meine Lebenschancen von der ersten Sekunde an entscheidend verkleinert. Weil wir alle wissen, dass Fortuna die Startchancen enorm ungleich verteilt, ist Solidarität ein sinnvolles Gefühl. Daneben aber wollen wir wie gesagt auch etwas von diesen Ländern: Freihandelsverträge, Doppelbesteuerungsabkommen zugunsten unserer Konzerne, Investitionsschutzabkommen usw.

Wagen Sie zum Schluss noch den Blick in die Migrations-Kristallkugel: Wie sieht die Schweizer Bevölkerung in 50 Jahren aus?

Dann wäre ich 114...

Ich werde Sie bestimmt nicht belangen.

Also dann: In 50 Jahren wird sich die grosse Diskussion um das Schrumpfen der Bevölkerung drehen, in der Schweiz wie in Europa. Denn bis dahin wird die Bevölkerungsentwicklung auch in Weltregionen, in denen das Wachstum heute gross ist, stagnieren und schliesslich schrumpfen. In einem Wirtschaftssystem, das auf dem Wachstum des eingesetzten Kapitals basiert, werden wir uns dann fragen, wie man bei schrumpfender Bevölkerung weiter wächst. Vielleicht werden sich europäische Staaten dann um Einwanderer streiten.

Ein originelles Schlussvotum.

Halt, ich sehe noch eine zweite Herausforderung, auch für uns Schweizer: das gewandelte Klima. Es wird dann um die zwei Grad wärmer sein als 1990, wir müssen also mit schwerwiegenden klimatischen Veränderungen rechnen. Wichtige Reisanbaugebiete in Vietnam und Indien zum Beispiel werden mit einschneidenden Wasserproblemen und in der Folge mit Nahrungsmittelknappheit kämpfen. Auch das beeinflusst die Wanderungsbewegungen, es wird Gegenden geben, in denen man schlicht nicht mehr so dicht leben kann wie heute. Das Gute für Sie bei der Basler Zeitung ist, dass Sie sich darüber keine Gedanken zu machen brauchen, weil Sie den Klimawandel für ein Märchen halten.

Das Interview wurde von Dominique Burckhardt geführt, es ist in der Basler Zeitung vom 2. Januar 2015 erschienen.