Medienmitteilung

Sparkaninchen vor der fiktiven Schuldenschlange

20.10.2022, Entwicklungsfinanzierung

Der Bundesrat hat gestern einen «Zusatzbericht zum Voranschlag 2023» veröffentlicht. Er will damit vor den anstehenden Budgetdebatten das Parlament auf einen harten Sparkurs einschwören.

Sparkaninchen vor der fiktiven Schuldenschlange
Die Finanzlage für den Bundeshaushalt ist längst nicht so aussichtslos, wie sie der Bundesrat präsentiert.
© Parlamentsdienste 3003 Bern

Die naheliegendste Massnahme, auf den übereilten und überflüssigen Entscheid zur Erhöhung des Armeebudgets zurückzukommen, fehlt dort ebenso wie eine längst überfällige realistische Diskussion der Schuldenfrage. Alliance Sud, das Kompetenzzentrum für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik, ist hoch besorgt über die Auswirkungen, die dieser Bericht haben könnte. Er identifiziert bei den «schwach gebundenen» Ausgaben ein Potential von Kürzungen von 3% im Jahr 2024 und 10% ab 2025; dies nominal, also ohne die Inflation zu berücksichtigen.

Zu diesen Ausgaben gehört auch die Internationale Zusammenarbeit (IZA), also die Unterstützung der ärmsten Länder durch die Schweiz. Während die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt nach wie vor weit entfernt ist vom international vereinbarten Ziel, 0.7% des Bruttonationaleinkommens für die IZA einzusetzen, verschärfen sich aktuell weltweit verschiedene Krisen. Sowohl die extreme Armut wie auch Hungersnöte sind in den letzten zwei Jahren massiv angestiegen und die Klimakrise bedroht die Lebensgrundlagen unzähliger Menschen.

Der Krieg in der Ukraine und die aktuellen Zinserhöhungen der Zentralbanken verschärfen die Lage zusätzlich – mehr als die Hälfte der ärmsten Länder sind heute kaum noch in der Lage, ihre Staats-schulden zu bedienen. Mit der ansteigenden Armut und dem zunehmenden Hunger wächst aber auch die Fragilität und die Krisenanfälligkeit vieler Länder. «Entwicklungsausgaben sind Investitionen, um die Welt etwas stabiler und sicherer zu machen, sie sind auch eine Investition in die Sicherheit der Schweiz», sagt Kristina Lanz, Fachverantwortliche Entwicklungspolitik bei Alliance Sud.

Bevölkerung will die Entwicklungszusammenarbeit stärken

Während der Bericht einige laufende Geschäfte nennt, die sistiert werden könnten, um den Haushalt zu entlasten, verschweigt er die Möglichkeit, den übereilten Entscheid zur Erhöhung des Armeebud-gets zu korrigieren. Bereits im Mai äusserte sich gemäss einer repräsentativen Umfrage der Tamedia eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung kritisch dazu. Die jährliche Sicherheitsstudie der Militärakademie der ETH bestätigte dieses Bild mit einer Befragung im Juni 2022. Nur 19% der Schweizer Bevölkerung bewerteten die Schweizer Armeeausgaben als zu wenig hoch. 30% fanden hingegen, dass zu viel für die Verteidigung ausgegeben werde. Mittlerweile hat die russische Armee klar vorgeführt, dass von ihr für die Schweiz keinerlei Bedrohung durch konventionelle Waffen ausgeht; somit dürfte die Zustimmung der SchweizerInnen zu den erhöhten Armeeausgaben wohl noch geringer ausfallen. Die Zustimmung der Bevölkerung zu einer Erhöhung der Entwicklungsausgaben ist gemäss Sicherheitsstudie der ETH hingegen gross – sie wird von 68% der Befragten und von Personen aller politischen Einstellungen befürwortet.

Für 2023 wird ein Überschuss erwartet

Der Bericht ist zudem durchtränkt vom Maurer-Mantra der Gefährlichkeit der Staatsschulden. Dabei kam die Finanzverwaltung erst vergangene Woche zum Schluss: «Für den Gesamtstaat (Bund, Kan-tone, Gemeinden und Sozialversicherungen) wird (für 2023) ein Überschuss von 1,3 Milliarden erwartet, dies bei stabilen Staatsausgaben und höheren Staatseinnahmen. Die Schulden dürften ab 2023 zurückgehen.» Auch die Schulden des Bundes allein sind im internationalen Vergleich verschwindend klein, wie folgende Grafik der Finanzverwaltung zeigt:

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© Eidgenössische Finanzverwaltung


Öffentliche Finanzen der Schweiz 2020 – 2023

«Natürlich ist die Schuldenbremse in der Verfassung ein Zwangskorsett, doch eine vorausschauende Finanzpolitik müsste die Diskussion über deren Sinnhaftigkeit endlich lancieren», sagt Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud. Die Nettoschuldenquote der Schweiz (in Prozent des BIP) sank seit ihrem Höchststand von 39,4% im Jahr 2004 bis 2019 auf 17,3%. Der Corona-Anstieg ist minimal und temporär (siehe Grafik oben). Die Schuldenbremse ist damit zu einer Gefahr für die Schweiz geworden. Will die Schweiz bis 2050 klimaneutral sein und eine Volkswirtschaft werden, die nicht mehr auf Kosten anderer Länder prosperiert, so muss sie massive Investitionen tätigen und ihr Steuersystem völlig neu gestalten. Wie der Zusatzbericht richtig festhält, dauert das. Ein moderater Schuldenanstieg gibt der Schweiz die dafür nötige Zeit. Auch eine «peer-review» der OECD hat der Schweiz angesichts ihrer exzellenten Finanzlage und mit Blick auf eine dringend nötige Erhöhung der Ausgaben für die IZA kürzlich geraten: «Switzerland’s high GDP per capita and low public debt suggest room to invest more in sustainable development.»

Für weitere Informationen:
Kristina Lanz, Verantwortliche Entwicklungspolitik Alliance Sud, Tel. +4176 295 47 46, kristina.lanz@alliancesud.ch

Andreas Missbach, Geschäftsleiter Alliance Sud, Tel. +4131 390 93 30, andreas.missbach@alliancesud.ch

Siehe auch: Die Schweizer Armee im Kampf gegen Windmühlen

Artikel

Wer zu stark auf die Bremse tritt, schleudert

23.02.2023, Entwicklungsfinanzierung

Mit Interessen gepanzerte Ideologien sind leider äusserst resistent gegen einfache Fakten. Die Schuldenbremse ist ein krasses Beispiel dafür.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Wer zu stark auf die Bremse tritt, schleudert

© KEYSTONE/CHROMORANGE/Christian Ohde

Als Reaktion auf den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die überstürzte Erhöhung des Militärbudgets schrieb Alliance Sud: «Auch für Alliance Sud ist Sicherheit ein zentrales Anliegen; dabei geht es aber um menschliche Sicherheit auf der ganzen Welt, die nicht an der Landesgrenze Halt macht. Krieg, Terrorismus und Instabilität sind oft nur die Symptome tieferliegender politischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Krisen. Und in einer globalisierten Welt sind wir nur sicher, wenn alle sicher sind.»

Die Mehrheit des Parlaments aber will uns mit Milliarden für die Hochrüstung der Armee in falscher Sicherheit wiegen. Die Rechnung dafür präsentierte der Bundesrat am 15.2.2023: Die ungebundenen Ausgaben – dazu gehört auch die internationale Zusammenarbeit (IZA) – sollen 2024 um 2 Prozent gekürzt werden, weitere Kürzungen sollen folgen. Nötig wären diese Kürzungen nicht, hätte sich in Parlament und Bundesrat nicht eine extremistische Interpretation der Schuldenbremse festgesetzt. Auf den Spar-Mullah Maurer folgt die Sparfüchsin Keller-Sutter, laut Duden ist das eine «Person, die [auf schlaue Weise] besonders sparsam [und dabei fast schon geizig] ist».

Die Fakten zeigen etwas anderes als eine dramatische Finanzlage: Sie zeigen eine Schuldenbremse, die längst das Ziel aus den Augen verloren hat, nämlich den unkontrollierten Anstieg der Verschuldung, der in den Nuller Jahren befürchtet wurde, zu bremsen.

Wer nicht glauben will, muss schauen:

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© Alliance Sud


Netto-Staatsverschuldung der Schweiz (nur Bund)

Die Schulden des Bundes haben seit 2005 nicht nur absolut abgenommen; relativ zur Grösse der Schweizer Wirtschaft, d. h. gemessen am BIP, sind sie geradezu eingebrochen. Corona war finanzpolitisch nicht mehr als ein kleiner Schluckauf.

Und heben wir mal den Blick vom helvetischen Bauchnabel, dann sieht das so aus:

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© Alliance Sud

Die Niederlande und Deutschland sind jetzt ja auch nicht gerade als besonders verschwenderisch bekannt.

Und wichtig ist vor allem eins: Staatschulden werden zwar irgendwann fällig, aber sie müssen dann nicht aus dem Staatshaushalt zurückbezahlt werden. Und das werden sie auch nicht, sondern der Staat nimmt neue Anleihen auf, um alte zurückzuzahlen. «Roll-over» heisst das im Finanzslang. Die Schuldenrückzahlung zu Netto Null ist nicht nur nicht nötig, sondern wäre für die Finanzmärkte ein Alptraum. Diese sind nämlich auf die Staatsanleihen als risikoarmen oder risikofreien Anker angewiesen.

Ein Problem erhält ein Staat nur dann, wenn die Finanzmarktakteure den Glauben an die Solvenz eines Staates verlieren und deshalb für die neuen Schulden höhere Zinsen verlangen als für die alten. Wenn dann die Zinsen auch noch höher sind als das BIP-Wachstum, wird es brenzlig. Aber das ist ein Szenario für Schwellenländer oder «serial defaulters» wie Argentinien mit seiner Abfolge von Staatsbankrotten. Dass die Schweiz auch bei einer Verdreifachung der Schuldenquote jemals in eine vergleichbare Situation kommen könnte, ist ausgeschlossen.

Mit Interessen gepanzerte Ideologien – darum handelt es sich bei der Schuldenbremse – sind leider äusserst resistent gegen einfache Fakten. Deshalb wird die Schweiz vorerst darauf verzichten, sich die in den Stürmen der Polykrise dringend nötigen Finanzen günstig zu beschaffen. Wir bleiben dran.

Artikel, Global

Wenn mehr weniger ist

27.03.2023, Entwicklungsfinanzierung

Die globale Ungleichheit wächst und wächst − anders als die Entwicklungsfinanzierung der OECD-Mitglieder. Reiche Länder wie die Schweiz setzen vor allem auf fragwürdige Buchführungspraktiken, um ihren Beitrag schönzureden.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Wenn mehr weniger ist
Schlafsaal in einer Asylunterkunft in der Freiburger Poya-Kaserne, die ab Januar 2023 als Asylunterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine genutzt wird.
© Peter Klaunzer/Keystone

Der Entwicklungsausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD DAC) hat 1969 die international anerkannte Referenzgrösse der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung eingeführt: die Aide publique au développement (APD; Official development assistance, ODA). Seither ist sie der Massstab für die Erfassung des Umfangs und der Qualität der bereitgestellten Mittel und bildet damit die Grundlage für die Beurteilung dafür, ob die Geberländer ihren Versprechungen nachkommen.

Die APD wird definiert als Entwicklungsfinanzierung, die a) von staatlichen oder lokalen Regierungen gewährt wird; b) die Empfängerländer in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung unterstützt und c) konzessionär ist, das heisst reine Zuwendungen oder Kredite zu Vorzugsbedingungen umfassen. Die Auslegung dieser Definition gibt immer wieder Anlass zu hoch technischen und gleichzeitig politischen Debatten. Im Kern geht es darum, welche öffentlichen Ausgaben der APD angerechnet werden dürfen. Die unterschiedlichsten Akteure kritisieren, dass die OECD-Mitgliedsstaaten ihre effektiven Zugeständnisse über zweifelhafte und kreative Buchführungspraktiken künstlich in die Höhe treiben und damit die Definition von «Entwicklungshilfe» immer mehr verwässern.

Wie OECD-Mitglieder ihre Knauserigkeit schönreden

Die Kritik an der Anrechenbarkeit kommt sowohl aus der OECD selbst als auch aus den Ländern des Globalen Südens und von Nichtregierungsorganisationen weltweit. Dabei geht es primär um zwei Tendenzen: Die künstliche Aufblähung der APD durch die Anrechnung von Geldern, welche nicht im engeren Sinn zur Entwicklungszusammenarbeit gehören (ODA inflation) und die gleichzeitige Kürzung von Mitteln in Bereichen, wo sie dringend notwendig sind (ODA diversion). So wird getrickst:

1.    Kosten für Asylsuchende im Inland

Seit 1988 können die Kosten für die Unterbringung und Ausbildung von Geflüchteten während dem ersten Jahr ihres Aufenthalts im Geberland (in-donor refugee costs) der APD angerechnet werden. Während es die OECD den Ländern selbst überlässt, ob und wieviel Asylkosten sie der APD anrechnen, nutzt die Schweiz den Spielraum jeweils grösstenteils aus. 2021 machten diese Ausgaben 9% der gesamten APD der Schweiz aus. Darin enthalten sind die Pauschalen, die das Staatssekretariat für Migration an die Kantone entrichtet, die Kosten der Bundesasylzentren (inkl. Beschäftigungsprogramme), die Kosten für die Rechtsvertretung während der Verfahren, jene für Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie die Kosten an die Kantone für schulpflichtige Kinder in den Bundesasylzentren. Auch wenn diese Gelder für den Schutz von Menschen in der Schweiz eingesetzt werden, haben sie keinen entwicklungspolitischen Effekt und tragen nicht zur Reduktion von Armut und Ungleichheit im Globalen Süden bei.

Es ist zu erwarten, dass die APD für 2022 aufgrund der Anrechnung der Kosten der ukrainischen Geflüchteten durch die Decke geht (ohne dass tatsächlich mehr in die EZA investiert wurde). Im schlechteren Fall werden die Asylkosten angerechnet, ohne dass die APD-Quote steigt, was reale Kürzungen in anderen Bereichen bedeuten würde. Damit würden ärmere Länder, die ohnehin schon unter den Auswirkungen des Krieges leiden, auch noch die Rechnung für die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten in Europa bezahlen.

2.    Privatsektor-Instrumente

2016 hat der OECD-Entwicklungsausschuss entschieden, dass sogenannte Privatsektor-Instrumente (PSI)  also verschiedene Arten von Investitionen, Beteiligungen und Garantien an Unternehmen für die Mobilisierung privater Finanzmittel  ebenfalls der APD angerechnet werden können. Weil sich die Mitglieder des OECD DAC nicht auf eine gemeinsame Definition von «Vorzugsbedingungen» bei Krediten an den Privatsektor einigen konnten, wurden vorläufige Bestimmungen zur Anrechenbarkeit der PSI verabschiedet, welche den Grundwert der Konzessionalität untergraben. Für die Anrechnung der PSI an der APD muss jetzt nur noch die Zusätzlichkeit der Entwicklungsgelder (additionality) ausgewiesen werden, was das Konzept der APD im Grundsatz erschüttert.

Bisher scheint die einzige Begründung zur Anrechnung der PSI zu sein, dass der Privatsektor als Antwort auf die fehlenden und dringend benötigten Mittel zur Entwicklungsfinanzierung gesehen wird. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Empfängerländer interessant: Der weitaus grösste Teil des durch PSI erzielten Mitteleinsatzes geht an Länder mit mittlerem Einkommen (2018: 59%, 2019: 51%), verglichen mit 7% (2018) und 2% (2019), die in den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs) zu verzeichnen sind. Die Geberländer müssen sich auf strenge und verbindliche Kriterien und Standards sowie auf wirksame Transparenz- und Rechenschaftsmechanismen einigen, die den Einsatz von PSI in der Entwicklungszusammenarbeit regeln und den entscheidenden konzessionären Charakter der öffentlichen Entwicklungsgelder nicht gefährden. In der Schweiz nimmt die Rolle der PSI bisher einen marginalen Stellenwert ein (40 Mio. CHF). Doch mit der zunehmenden strategischen Ausrichtung der internationalen Zusammenarbeit auf die Kooperation mit dem Privatsektor, ist es durchaus möglich, dass dieser Anteil in den kommenden Jahren massiv steigen wird.

3.    Abgetretene Corona-Impfdosen

2021 beschloss der Entwicklungsausschuss, dass Corona-Impfdosen, die an ärmere Länder abgetreten wurden, den Entwicklungsausgaben zum Referenzpreis von 6.72 USD pro Impfdosis angerechnet werden dürfen. Dies ist ebenso absurd wie skrupellos, denn diese Impfdosen wurden nie im Interesse der ärmeren Länder gekauft − im Gegenteil, die masslosen Käufe in reichen Ländern führten dazu, dass sie in anderen Ländern weder verfügbar noch zahlbar waren. Die Positionierung der Schweiz ist zusätzlich fragwürdig, da sie als einziges Land den Umfang der gespendeten, überschüssigen Impfdosen aus Datenschutzgründen nicht transparent machen will.

Die Auswirkungen auf die APD-Quote sind beträchtlich. Gegenüber dem Vorjahr ist die gesamte APD aller OECD-Länder um 8,5% angestiegen, was hauptsächlich auf die COVID-19-Unterstützung, insbesondere in Form von Impfstoffspenden, zurückzuführen ist. Ohne diese Impfstoffspenden wäre die APD 2021 nur um 4,8% gestiegen. Im Entwicklungsausschuss ist aktuell die Debatte darüber im Gang, zu welchem Referenzpreis die Spenden der APD im Jahr 2022 angerechnet werden können. Statt über den Preis zu verhandeln, täten die DAC-Mitglieder gut daran, die Anrechnung auf die tatsächlich für den Globalen Süden erworbenen Impfdosen zu beschränken.

Glaubwürdigkeit wiederherstellen

Die zunehmende Verwässerung der APD untergräbt die Glaubwürdigkeit von Geberländern. Gleichzeitig fehlen dem Globalen Süden die Mittel zur Bekämpfung der multiplen Krisen, welche zahlreiche Menschen in Armut, Not und Hunger drängen. Es scheint sonderbar, dass das OECD DAC die Kriterien zur Anrechenbarkeit von öffentlichen Entwicklungsausgaben selbst definiert. Denn trotz des Mandats des DAC, die Qualität und Integrität der APD sicherzustellen, laufen die bisher erzielten Vereinbarungen meist in die entgegengesetzte Richtung und wirken sich negativ auf die Qualität und Quantität der Gelder aus, die die Länder des Globalen Südens erreichen. Ein erster Schritt zur Verbesserung der Integrität der APD wäre beispielsweise der Aufbau einer unabhängigen statistischen Instanz  zum Beispiel eines offiziellen Gremiums, welches aus Expert:innen aus Geber- und Empfängerländern besteht. Nur ein solches Gremium wird in der Lage sein, die Regeln zu reformieren und die Glaubwürdigkeit der ausgewiesenen Entwicklungsgelder wiederherzustellen.

Wenn die reichen Länder, wie sie behaupten, wirklich an Transparenz, Ehrlichkeit und die Erfüllung internationaler Verpflichtungen glauben, müssen sie ihre kleinlichen Buchhaltungspraktiken einstellen und ihre Versprechen einlösen. Die APD muss wieder im engen Sinn definiert werden und den Fokus auf die Überwindung von Armut und Ungleichheit legen. Die Schweiz sollte sich im OECD DAC für eine solche enge Definition der APD einsetzen und sich in ihrer Berichterstattung auch daran halten. Ein weiterer und wichtiger Schritt wäre das Erreichen des 0.7%-Ziels, und zwar ohne die Anrechnung der Asylkosten, der gespendeten Corona-Impfstoffe, der Privatsektor-Instrumente und der Stipendien für ausländische Studierende in der Schweiz. Werden alle diese Kosten der Quote von 2021 abgezogen, erreichte die Schweiz gerade mal eine APD von 0.44% (siehe Graphik). Da fehlt fast ein Drittel für die Erreichung des 1970 vereinbarten UNO-Ziels von 0.7% des Bruttonationaleinkommens.

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© Alliance Sud


Die Schweiz hat für 2021 0.5% APD ausgewiesen. Wenn die Ausgaben, welche nicht den Kriterien von Konzessionalität und grenzüberschreitender Geldflüsse entsprechen, abgezogen werden, dann kommt die Schweiz auf eine APD von 0.44%. Dies ist weit entfernt vom international vereinbarten Ziel von 0.7%

APD in der Krise

Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat gezeigt, wie rasch öffentliche Entwicklungsgelder unter Druck kommen können. Kurz nach dem Ausbruch des Kriegs haben zahlreiche Länder ihre Budgets für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe eingefroren oder gekürzt, in manchen Fällen wurden die Gelder auch explizit umgelagert, um die Kosten zur Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge zu decken.

In der Schweiz ist trotz verschiedener Angriffe auf die Entwicklungsgelder im Parlament noch nicht absehbar, wie sich das Budget für die internationale Zusammenarbeit entwickeln wird. Mit dem massiven Ausbau der Militärausgaben in den nächsten Jahren, welcher unter Einhaltung der Schuldenbremse nicht machbar ist, stehen bereits für 2024 Kürzungen bei den schwach gebundenen Ausgaben des Bundeshaushalts an. Jetzt bei den Entwicklungsausgaben zu sparen, ist aber exakt das Falsche, denn die Bedürfnisse ärmerer Länder aufgrund der multiplen Krisen waren nie grösser und ihr Handlungsspielraum aufgrund der akuten Schuldenkrise nie kleiner.

 

Einführung des Subventionsäquivalents

2019 wurde das Subventionsäquivalent (grant equivalent) eingeführt, um den «Effort» der Geberländer besser abzubilden. Im Kern geht es darum, dass reine Zuwendungen (ein grösserer Effort der Geber) und Kredite (kleinerer Effort) nicht gleichwertig in der APD abgebildet werden sollen. Deshalb kann seit 2019 nur noch der Subventionsanteil von Krediten als APD ausgewiesen werden. So weit, so gut.

Das Problem an der Geschichte: Subventionsäquivalente sind nur dann glaubwürdig, wenn die Geber den Barwert der Rückzahlungen unter Verwendung aktueller Marktzinssätze errechnen. Stattdessen beschloss das DAC fixe Zinssätze von 6, 7 oder 9 Prozent (bestehend aus einem «Basissatz» von 5 Prozent plus einer «Risikomarge» von 1, 2 oder 4 Prozent, je nach Pro-Kopf-Einkommen des kreditnehmenden Landes). Mit diesen hohen Sätzen wird der Gegenwartswert der Rückzahlungen unterschätzt, was zu überhöhten Subventionsäquivalenten führt. Dies selbst bei Krediten, die zu Marktbedingungen gewährt werden.

Aktuelle Zahlen der OECD zeigen, dass die Veränderung der Methodologie bisher einen kleinen Effekt auf die APD insgesamt hatte (+2.3% in 2018, +3.6% in 2019 und -0.2% in 2020). Jedoch ist die Veränderung bei einzelnen Ländern, die einen grossen Anteil ihrer APD über Kredite an die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) sprechen, signifikant: für 2020 waren es +19% für Japan, +9% für Spanien und -12% für Frankreich. Die Schweiz ist von dieser neuen Methodologie nur am Rande betroffen, denn sie rechnet der APD nur wenige Kredite an.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Artikel

Was Bundesrat Cassis nicht sagen wollte

14.04.2023, Entwicklungsfinanzierung

Aussenminister Ignazio Cassis informierte über die mittelfristige Finanzierungsstrategie zur Ukraine-Unterstützung. Doch er verzichtete auf Ausführungen zur Herkunft der Gelder. Wir erläutern, was Bundesrat Cassis nicht sagen wollte.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Was Bundesrat Cassis nicht sagen wollte

© Stephan Poost / pixelio.de

Im Kontext der Frühlingstagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank in Washington gab Bundesrat Cassis am 13.4. in der Sendung «Echo der Zeit» von Radio SRF ein Interview. Dabei betonte er die langfristige Unterstützung der Ukraine; gleichzeitig versprach er, dass die Gelder für die Armutsbekämpfung im Globalen Süden gewährleistet bleiben. Geht diese Rechnung auf?

Bundesrat Cassis erläuterte, dass in einem ersten Schritt «etwas Geld von der internationalen Zusammenarbeit in einen separaten Fonds in der Höhe von 1.8 Milliarden gesetzt» würden. Doch wie werden diese 1.8 Mia. Franken finanziert, ohne das Budget für Internationale Zusammenarbeit (IZA) zu belasten? Gemäss unseren Informationen setzen sich die 1.8 Milliarden wie folgt zusammen:

  • 300 Mio. Franken sind für 2023–2024 vorgesehen (bestehend aus Zusatzkrediten und laufendem Budget).
  • Schon bisher war bekannt, dass das vorgesehene nominale Wachstum der IZA-Ausgaben 2025-2028 (+2.5%/Jahr) für den Wiederaufbau der Ukraine reserviert wird, das ergibt rund 650 Millionen Franken.
  • Es fehlen also 850 Mio. Franken, die zulasten des Budgets für Internationale Zusammenarbeit 2025-2028 gehen werden.

Dieses Budget wurde aber bereits im Rahmen der Eckwerte der mehrjährigen Finanzbeschlüsse eingefroren (eben weil das nominale Wachstum vollständig für die Ukraine verwendet wird), real wird es allein deshalb im aktuellen Inflationsumfeld sinken. Man könnte zwar jetzt noch argumentieren, dass ja schon vor dem Krieg IZA-Geld aus der «Entwicklungszusammenarbeit Ost» für die Ukraine verwendet wurde, also gar nicht so viel umgeschichtet werden muss. Im Schnitt über 4 Jahre waren das aber bis 2021 nur etwa 33 Mio. Franken pro Jahr, es fehlen also auch so schöngerechnet noch über 700 Millionen.

Kann also, wie Bundesrat Cassis sagt, «die totale Summe für die normalen Programme der Armutsbekämpfung und der nachhaltigen Entwicklung [bestehen bleiben]»? Eben nicht, die Aussage verschleiert die Tatsache, dass die Prioritäten innerhalb der internationalen Zusammenarbeit neu gesetzt werden müssen, um 700 Millionen einzusparen und die Solidarität mit der Ukraine auf Kosten der Solidarität mit anderen Ländern geht. Ländern des Globalen Südens, welche nach wie vor unter den Auswirkungen der Corona-Krise, den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen leiden und zunehmend von der Klimakrise betroffen sind.

Alliance Sud fordert die grosszügige Unterstützung der Ukraine im humanitären Bereich, bei der Aufnahme von Geflüchteten in der Schweiz und beim Wiederaufbau. Doch diese Unterstützung muss zusätzlich finanziert werden und darf nicht auf Kosten der globalen Armutsbekämpfung gehen. Im Gegenteil, die Entwicklungsfinanzierung muss endlich erhöht werden.

Meinung

Selektive Solidarität

03.12.2015, Entwicklungsfinanzierung

Zuerst Terror und aktuell die Klimakonferenz in Paris. Wie ernst ist es der Schweiz mit ihrer Solidarität mit der Welt? GLOBAL+-Editorial von Alliance Sud-Geschäftsleiter Mark Herkenrath.

Selektive Solidarität

Mark Herkenrath, ehemaliger Direktor vom Alliance Sud
© Daniel Rihs/Alliance Sud

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Am Abend des 16. November wurde das Bundeshaus in die Farben der Trikolore getaucht. Ein schönes und wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Pariser Terroranschläge. Aber auch ein Mahnmal der selektiven Wahrnehmung. Wie wäre es, wenn sich Bundesrat und Parlament auch einmal mit Opfern jenseits unserer europäischen Nachbarländer solidarisch zeigten? Das Bundeshaus im Licht der Flagge Malis oder des Libanons? Oder jener Tuvalus, wo der Klimawandel schon jetzt verheerende Folgen zeigt. Wie ernst es der Schweiz mit ihrer Solidarität mit der Welt ist, steht aktuell an der Pariser Klimakonferenz auf dem Prüfstand.

Ein Indikator für die Haltung der Schweiz gegenüber den Benachteiligten dieser Welt ist die Höhe der öffentlichen Entwicklungshilfe. Seit ein paar Wochen ist auf der Website des Aussendepartements EDA nachzulesen, dass sie im Jahr 2014 die vom Parlament beschlossenen 0,5% des Bruttonationaleinkommens (BNE) erreicht hat – es waren sogar 0,51%. Grund zum Jubeln ist das indes nicht. Selbst das EDA zog es vor, das an sich erfreuliche Ergebnis für sich zu behalten und verzichtete vornehm auf eine Medienmitteilung.

Tatsache ist, dass es sich bei einem beträchtlichen Teil der schweizerischen Entwicklungsausgaben um Phantomhilfe handelt. 2014 wurden rund 17% des Aufwandes, den sich die Schweiz als bilaterale öffentliche Entwicklungszusammenarbeit anrechnen lässt, für Hilfe an Asylsuchende im Inland ausgegeben. In anderen Geberländern beträgt der Anteil des Entwicklungsbudgets, der für Asylsuchende im Inland benutzt wird, im Durchschnitt nur 4 bis 5%. Blieben die Asylausgaben, die den Entwicklungsländern so gut wie gar nichts nützen, von der Berechnung ausgeklammert, hätte sich öffentliche Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz 2014 auf gerade einmal 0,44% des Nationaleinkommens belaufen.

Das Schweigen des EDA hat noch einen zweiten Grund: Die Entwicklungsausgaben der Schweiz werden im Rahmen des Budgets 2016 und des Stabilisierungsprogramms 2017-19 bereits wieder massiv reduziert. Sie sollen über die nächsten Jahre hinweg nur noch 0,47% des BNE betragen, inklusive der Hilfe an Asylsuchende. Das widerspricht nicht nur dem Beschluss des Parlaments von 2008, die Schweiz müsse eine Entwicklungshilfequote von 0,5% des BNE erreichen, sondern auch dem langfristigen Interesse der Schweiz an einer stabilen und friedlichen Weltordnung. Bleibt die leise Hoffnung, dass das neugewählte Parlament am 0,5%-Auftrag festhält und sich der bundesrätlichen Bevormundung widersetzt.

Kaum helfen wird dabei allerdings, dass auch Norwegen, Schweden und Finnland in den kommenden Jahren einen wachsenden Teil ihres Entwicklungsbudgets für Inlandhilfe an Asylsuchende einsetzen wollen. Norwegen könnte zukünftig bis zu 21% seines Entwicklungsbudgets für die Betreuung von Asylsuchenden innerhalb der eigenen Landesgrenzen benutzen. Im Unterschied zur Schweiz setzt Norwegen aber nicht nur 0,5%, sondern mehr als 1% seines Nationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit ein. Norwegen, Schweden und Finnland könnten bis zur Hälfte ihrer Hilfe für Asylausgaben einsetzen und würden immer noch einen grösseren Teil ihrer Nationaleinkommen für langfristige Entwicklungszusammenarbeit ausgeben als die Schweiz in ihren besten Zeiten.

Dieser Text wurde in der Winterausgabe 2015/16 von GLOBAL+ publiziert.

Artikel

Klimawelle bedroht Entwicklungszusammenarbeit

22.03.2020, Entwicklungsfinanzierung, Klimagerechtigkeit

Der Bundesrat will bis zu 400 Millionen Franken jährlich aus Entwicklungsgeldern einsetzen, um das Pariser Klimaübereinkommen zu erfüllen. Das klingt gut, ist aber höchst problematisch. Denn es geht zu Lasten der Ärmsten.

Klimawelle bedroht Entwicklungszusammenarbeit
Befestigung des Dorfs Abdullah Pur gegen drohende Überflutung im Nordosten von Bangladesch.
© Laurent Weyl / Argos / Panos

von Jürg Staudenmann, ehemaliger Fachverantwortlicher «Klimapolitik»

Ab 2021 gilt es ernst, dann tritt das im Dezember 2015 in Paris unterzeichnete Klimaübereinkommen in Kraft. Im Zeichen der Klimagerechtigkeit verpflichtet der Vertrag die Industrieländer, jene Länder im globalen Süden jährlich mit 100 Milliarden US-Dollar zu entschädigen, die am meisten unter der sich immer deutlicher abzeichnenden Klimakatastrophe leiden, diese aber nicht verursacht haben. Auch die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung des Pariser Abkommens dazu verpflichtet, ihren «angemessenen» Betrag zur internationalen Klimafinanzierung bereitzustellen. Der Bundesrat sieht die Schweizer Verantwortung bei 450 bis 600 Millionen Franken; wer wie Alliance Sud auch den Schweizer Klimafussabdruck im Ausland mit berücksichtigt, kommt jedoch auf 1 Milliarde Franken jährlich. Das ist die erste Diskrepanz. Eine zweite kommt mit der bundesrätlichen Botschaft zur Strategie der internationalen Zusammenarbeit (IZA) 2021-2024 auf den Tisch: Im Pariser Übereinkommen ist verankert, dass für die internationale Klimafinanzierung «neue und zusätzliche» Mittel mobilisiert werden müssen. Und was tut die Schweiz? Sie erhöht die Zweckbindung für «Klimaprojekte» in den bestehenden Rahmenkrediten der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) von 300 auf 400 Millionen Franken pro Jahr. Neue und zusätzlich Gelder? Fehlanzeige.

Klimaschutz ist nicht Armutsbekämpfung

Was zunächst wie eine buchhalterische Schlaumeierei aussieht, um die – notabene auch dieses Jahr mit einem Milliardenüberschuss gesegnete – Bundeskasse nicht zusätzlich zu belasten, ist weit schlimmer. Der Bundesrat will der Schweizer Klimaverpflichtung nachkommen, indem er bisherige Entwicklungsaufgaben aushöhlt: Klimaprojekte ohne Aufstockung von Mitteln gehen tendenziell auf Kosten der Förderung einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung, ländlicher Entwicklung oder Geschlechtergerechtigkeit, der Stärkung von Zivilgesellschaft, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit oder der Unterstützung angemessener Bildungsmöglichkeiten. Denn Klimafinanzierung hat im Gegensatz zur der Bekämpfung grösster Armut und der Reduktion von Ungleichheit ein anderes Ziel: Sie ist auf die Bewältigung von zukünftigen Klimarisiken ausgerichtet und zielt nicht per se auf eine unmittelbare Verbesserung der gegenwärtigen Lebensumstände.

Die am 19. Februar 2020 veröffentlichte IZA- Strategie 2021-2024, die nach den Kommissionsberatungen in der Sommersession in der ersten Kammer des Parlaments diskutiert werden wird, geht bei der Zweckbindung der einzelnen Budgetposten nicht ins Detail. Mit einer Ausnahme: fast 20% der gesamten EZA-Mittel der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) sollen für Klimaprojekte reserviert sein.  

Dass die Unterstützung von Entwicklungsländern auch bei Klimaschutz und Anpassung an die Klimaveränderung an Deza und Seco delegiert wird, ist durchaus sinnvoll. Wer sonst würde über das langjährige Know-how und die notwendigen Instrumente für wirkungsvolle Massnahmen vor Ort verfügen? Wenn aber der damit verbundene Zusatzaufwand ohne Aufstockung aus den bestehenden EZA-Rahmenkrediten gedeckt werden soll, stellen sich zwei grundlegende Fragen:

  • Können Entwicklungsprojekte gleichzeitig auch vollwertige Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen im Sinne des Pariser Abkommens sein?
  • Wann ist die Verwendung von Entwicklungsmitteln für Klimamassnahmen gerechtfertigt?

Um diese Fragen zu beantworten, haben die Stuttgarter KonsulentInnen von FAKT im Auftrag von Alliance Sud die Schweizer Klimafinanzierung seit 2011 analysiert. Die Autorin Christine Lottje nahm insbesondere die implizite Hypothese des Bundes unter die Lupe, dass Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit deckungsgleich seien; weil – wie in der neuen IZA-Strategie geschrieben steht – Mittel für Klimaprojekte «jeweils im Rahmen des IZA-Mandats der Armutsreduktion und der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung» eingesetzt würden.

Die Ergebnisse der Studie «Der Schweizer Beitrag an die internationale Klimafinanzierung» sind ernüchternd: Die als Klimafinanzierung an die UNO rapportierten Beiträge stiegen seit 2011 überproportional zu den öffentlichen Entwicklungsausgaben (Aide publique au développement APD) an. Der Anteil der Klimafinanzierung, die in Ländern mit besonders ausgeprägter Armut oder auch besonderer Klimaverwundbarkeit zum Einsatz kam, war ein Bruchteil dessen, was in Ländern mittleren Einkommens oder unspezifisch via die sogenannten Global- oder Regionalprogramme eingesetzt wurde.

Aus Sicht des Klimaschutzes ist dies insofern nachvollziehbar, als dass eine Reduktion der CO2-Emissionen am effektivsten in Regionen mit vergleichsweise hohem Pro-Kopf-Ausstoss erzielt werden kann, tendenziell also in urbanen Gebieten von Ländern mittleren Einkommens (MIC). Die Hauptzielgruppe der Entwicklungszusammenarbeit lebt aber – wie vom Gesetz festgelegt – in ärmeren Ländern. Anders gesagt: Die Kernaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit wird bei den meisten Klimaprojekten ignoriert. Gemäss Beschreibung fokussieren nur gerade drei von zehn Projekten explizit auf arme Zielgruppen oder Armutsbekämpfung. Die Studie identifiziert sogar zwei Seco- und ein Deza-Projekt, die als Klimafinanzierung ausgewiesen wurden, obschon keinerlei Klimabezug erkennbar ist; und im Gegenteil das Risiko besteht, dass sogar klima-schädliche Praktiken gefördert werden.

Es braucht zusätzliche Mittel

Die Studie bestätigt, was Alliance Sud seit Jahren als Gefahr für die Schweizer Entwicklungspolitik anmahnt: Dass Deza und das Seco zusehends als Financiers der Schweizer Umwelt- und Klima-Aussenpolitik herhalten müssen und dass dies auf Kosten der Ärmsten in Ländern des globalen Südens geht. Werden nicht zusätzliche Gelder gesprochen, so stehen für die Kernaufgaben der EZA immer weniger Mittel zur Verfügung.

Aus der Deza ist zu vernehmen, dass es zunehmend schwieriger werde, im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit – also über Programme zur Gesundheits- oder Bildungsförderung, der Stärkung der Zivilgesellschaft o. ä. – Massnahmen umzusetzen, die auch eine sinn- und wirkungsvolle Klimawirkung entfalten.

Anpassungsvorhaben, die tatsächlich Synergien mit der eigentlichen EZA aufweisen und berechtigterweise aus deren Mitteln (mit-)finanziert werden sollen – wie etwa die Errichtung von Saatgutbanken, die Schulung von Bäuerinnen und Lehrpersonal in Sachen Klimaanpassung und Resilienz, die Stärkung der Kompetenzen von Lokalbehörden usw. – bleiben beschränkt.

Der Ausbau erneuerbarer Energiequellen in besonders armen Regionen ist zweifellos ein legitimes und dringliches Entwicklungsvorhaben. Weil damit aber Gebiete neu erschlossen, also keine bestehenden Kohle-Kraftwerke ersetzt werden, handelt es sich dabei nicht um Projekte im Sinne des Pariser Klimaübereinkommens, mit denen tatsächlich Treibhausgase reduziert werden. Es ist daher zynisch, solche Projekte als Klimafinanzierung auszuweisen.

Dies alles bestätigt die Dringlichkeit, für Infrastruktur- und Schutzmassnahmen im nötigen grossen Massstab zusätzliche Klimafinanzierung bereitzustellen. Auf Armutsreduktion fokussierte Entwicklungszusammenarbeit und wirkungsvoller Klimaschutz und Anpassung schliessen sich zwar nicht a priori aus, aber echte Synergien sind nur beschränkt möglich.

Dieser Text ist in der Frühlingsausgabe von global (#77/2020) publiziert worden

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Das steht in der IZA-Strategie 2021-2024 zu Klima und Klimafinanzierung


In der Botschaft zur Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021–2024 (IZA-Strategie 2021–2024) schlägt der Bundesrat «die Bekämpfung des Klimawandels» als einen von vier neuen Schwerpunkten für die IZA vor (S. 29). Dafür sieht er eine – notabene die einzige! – Zweckbindung von bis zu 15% der gesamten Rahmenkredite der IZA vor.

Er führt dabei an, dass die Herausforderungen der Klimaveränderung «oft die Ursache von Konflikten und Armut» seien und «sogar bisherige Erfolge gefährden [können]». Daher will er «der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung an dessen Folgen in der IZA künftig mehr Platz [einräumen].» (S. 19) Gemäss Ziel B), Unterziel 3 der IZA-Strategie soll die Schweiz «die Entwicklungsländer bei ihren Bemühungen zur Eindämmung des Klimawandels (Verringerung der Treibhausgasemissionen) und zur Anpassung an dessen Folgen sowie bei der Suche nach nachhaltigen Finanzierungen» unterstützen. Dies soll «zur nachhaltigen Bewirtschaftung städtischer und ländlicher Gebiete bei[tragen]», indem «die mit den Folgen des Klimawandels einhergehenden zunehmenden Risiken reduziert und erneuerbare Energien sowie die Energieeffizienz [ge]fördert» würden. (S. 76)

Als Begründung, die Mittel der öffentlichen Entwicklungshilfe «in diesem Bereich [...] von 300 Millionen pro Jahr (2017–2020) schrittwiese bis Ende 2024 auf rund 400 Millionen Franken pro Jahr [anzuheben]» (S. 30), verweist der Bundesrat auf die Gefährdung bisheriger «Errungenschaften im Bereich Armutsbekämpfung» (S. 14) sowie auf die Gefahr, dass in zehn Jahren 100 Millionen Menschen «zurück in extreme Armut fallen» könnten; gemäss Weltbank drohten bis 2050 «143 Millionen Menschen zu Klimamigranten zu werden» (S. 29).

Zusammengefasst heisst das:

  • Es sollen erstens zunehmend Mittel der Entwicklungszusammenarbeit zur Abwehr von zukünftigen Risiken eingesetzt werden, auch wenn diese neuen Risiken nicht von den Meistbetroffenen selbst verursacht wurden.
  • Zweitens sollen EZA-Mittel dafür aufgewendet werden, die a priori noch keinen direkten Entwicklungsnutzen aufweisen – also zu keinem sichereren Einkommen, grösserer Gesundheit, verbesserter Bildung oder mehr demokratischen Rechten führen.

Das damit nicht genug: Gemäss Bundesrat Cassis soll mit «massiv erhöhten, zweckgebundenen Investitionen» aus den Rahmenkrediten von DEZA und Seco sogar explizit «bereits ein Grossteil der adäquaten Unterstützung des Pariser Klimaübereinkommens gegeben» sein (so Bundesrat Cassis anlässlich der Pressekonferenz zur IZA-Strategie, 19.2.2020). Dies steht im klaren Widerspruch zur Anforderung an internationale Klimafinanzierung – um genau solche handelt es sich hier: Zur Unterstützung der Entwicklungsländer im Kampf gegen die Klimakrise sind gemäss Klimarahmenkonvention neue und zusätzliche Gelder notwendig.

Bemerkenswerterweise steht sogar in der IZA-Botschaft selbst, dass die Anrechnung von Ausgaben «zur Eindämmung des Klimawandels» im Rahmen der OECD-Definition der öffentlichen Entwicklungshilfe (APD, aide publique au développement) nach wie vor zur Debatte stehe (S. 11/12).

Fazit: Während in den anderen drei Schwerpunktbereichen – «Schaffung von menschenwürdigen Arbeitsplätzen», «Verminderung der Ursachen irregulärer Migration» sowie «Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Frieden» – die unmittelbare Verbesserung der Lebensumstände der ärmsten Menschen im Vordergrund steht, zielen Klimaschutzmassnahmen in der Regel auf Prävention und Schutz gegen zukünftige Auswirkungen der Klimaveränderung. Der Bundesrat will sogar explizit bis zu 400 Millionen Franken pro Jahr aus den Rahmenkrediten der öffentlichen Entwicklungshilfe zur Erfüllung der Klimafinanzierungs-Verpflichtung im Pariser Klimaübereinkommen einsetzen, obschon unsicher ist, inwiefern dies zu einer unmittelbaren Verbesserung der derzeitigen Lebenssituation von Menschen in Entwicklungsländern führt. Das widerspricht dem Sinn und Zweck der Entwicklungszusammenarbeit. – Siehe dazu die Studie von FAKT / Christine Lottje, 2020.

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Stabile Hilfe, bei den Ärmsten wird jedoch gekürzt

09.04.2015, Entwicklungsfinanzierung

Die Entwicklungsbudgets der Industriestaaten erreichten mit 135.2 Mrd. US-$ 2014 wieder den Stand von 2013. Allerdings gelangt immer weniger Geld in die ärmsten Länder.

Stabile Hilfe, bei den Ärmsten wird jedoch gekürzt

Gemäss Entwicklungsausschuss (Development Assistance Committee, DAC) der OECD-Länder egalisieren die Entwicklungsbudgets 2014 das Rekordhoch von 2013. Insgesamt gaben die 29 Länder letztes Jahr 135.2 Milliarden US-$ für Entwicklungszusammenarbeit aus. Gemessen am gesamten Bruttonationaleinkommen (BNE) der DAC-Länder entspricht dies 0.29%. Damit wird die UNO-Zielvorgabe, 0.7% des BNE für Entwicklungshilfe auszugeben, weiterhin nicht annähernd erreicht. Geographisch kommt es zu Veränderungen. Dort, wo Entwicklungsgelder am dringendsten benötigt werden, sind die Beiträge gefallen. Bei den ärmsten Ländern (Least Developed Countries, LDC) wurde 8% gekürzt (abzüglich Entschuldungen). Ebenfalls gekürzt wurde bei den nicht rückzahlbaren Beiträgen. Diese sind 2014 um 4% gesunken. Auf der anderen Seite ist der Anteil an Krediten und Darlehen um 41% gestiegen.


Wer aufgestockt, wer gekürzt hat

Insgesamt erhöhten dreizehn Länder ihre Entwicklungshilfe. Signifikant verbessert haben sich Finnland (+12.5%), Deutschland (+12.0%) und Schweden (+11.0%). Stark gekürzt haben Spanien (-20.3%), Japan (-15.3%), Portugal (-14.9%), Kanada (-10.7%) und Frankreich (-9.2%).
Der Entwicklungsausschuss veröffentlicht auch Daten über die Geldflüsse, die tatsächlich in den Entwicklungsländern ankommen (country programmable aid). Aus den Industrieländern waren dies 2014 63.9 Milliarden US$, 4.7 Milliarden US$ oder 6.9% weniger als 2013.
Auch die Schweiz hat 2014 ihr Entwicklungsbudget erhöht, und zwar um 9.2%. Insgesamt gab sie im letzten Jahr 3‘246 Mio. CHF für Entwicklungshilfe aus. Gemessen am BNE ergibt dies 0.49%. Das vom Parlament für 2015 gesetzte Ziel, 0.5% des BNE für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben ist damit in greifbare Nähe gerückt. In der DAC-Rangliste kann die Schweiz so ihren 8. Platz verteidigen. Von der Erhöhung konnte insbesondere die humanitäre Hilfe profitieren, deren Mittel um 19.7% gestiegen sind.
Gemäss Definition des Entwicklungsausschusses kann auch eigentliche Nicht-Hilfe als Entwicklungshilfe angerechnet werden. In der Schweiz machen insbesondere Ausgaben für Asylsuchende einen grossen Anteil aus. Nach dem starken Rückgang 2013 sind diese 2014 wieder um 18.7 Mio. CHF gestiegen (+6.0%). Diese «Phantomhilfe» macht derzeit 14% des Schweizer Entwicklungsbudgets aus. Die reale, entwicklungswirksame Hilfe belief sich auf 2‘783.3 Mio. CHF. Dies entspricht 0.42% des BNE.
Gemäss Parlamentsbeschluss, die schweizerische Entwicklungshilfe auf 0.5% des BNE zu erhöhen, muss die Erhöhung der DEZA und dem Seco zugutekommen. Insgesamt verteilen DEZA und Seco die 2‘392.9 Mio. CHF ihres Budgets zu 76% auf bilaterale und zu 24% auf multilaterale Programme. 234.8 Mio CHFentfallen auf andere Bundesämter, insbesondere im EDA (Abteilung menschliche Sicherheit), VBS und UVEK (Bundesamt für Umwelt).

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Das Geld fliesst noch immer von Süd nach Nord

05.06.2015, Entwicklungsfinanzierung

Die Nord-Süd-Kluft bleibt ein zentrales Problem der Menschheit, sagt der scheidende Alliance-Sud-Geschäftsleiter Peter Niggli im grossen Interview mit der Unia-Zeitung «work».

Das Geld fliesst noch immer von Süd nach Nord

© Daniel Rihs/Alliance Sud

work: Herr Niggli, strömen jetzt die armen Massen aus dem Süden in den reichen Norden?

Peter Niggli: Wo sehen Sie Ströme von Menschen? Im Mittelmeer ertrinken gerade Hunderte von Bootsflüchtlingen. Weil sich Europa gegen eine legale Einwanderung abschottet. Auf sicheren Wegen lassen wir nur noch Millionäre und hochspezialisierte Fachkräfte herein. Wer aber Asyl sucht, muss sein Leben riskieren. Unsere Betroffenheit über die Toten ist heuchlerisch, denn wir nehmen das Sterben der Flüchtlinge in Kauf.


Rechte Politikerinnen und Politiker sagen, diese Migranten seien «nur Wirtschaftsflüchtlinge».
Ein grosser Teil dieser Menschen flüchtet vor Kriegen und Bürgerkriegen oder Diktatur. Mehrere Länder brennen, übrigens auch nach westlichen Interventionen im Irak, in Libyen, in Mali und nach der Einmischung in Syrien und in Jemen. Sehr viele von denen, die Europa am Ende doch noch erreichen, werden nicht abgewiesen, weil ihnen Tod oder Folter drohen. Das zeigt, dass derzeit vor allem sogenannte echte Flüchtlinge kommen.

Gibt es denn eine Alternative zur Abschottung?
Jene Flüchtlinge, die sich nach Europa retten oder hier einen Ausweg aus der Not suchen, kommen selbst dann, wenn wir die Aussengrenzen abriegeln. Darum sollte Europa legale Einwanderung für eine begrenzte Zahl von Menschen aus anderen Kontinenten zulassen. Zum Beispiel 100 000 Personen pro Jahr oder auch mehr. Wir brauchen Zuwanderung. Sie könnte die EU mit ihrer halben Milliarde Menschen problemlos verkraften. Zu ihrem eigenen Nutzen. Kurzfristig gibt es keine andere Lösung als den humanitären Imperativ: Retten. Arbeiten lassen. Integrieren.

Nur geschieht das Gegenteil: Die EU und mit ihr die Schweiz, die zum Schengen-Raum gehört, rüsten auf, um das Mittelmeer ganz dicht zu machen. Im Kern argumentieren sie: Halten wir die Afrikaner nicht davon ab, kommt halb Afrika zu uns.
Das ist Unsinn und alle, die Afrika kennen, wissen das. Zwar suchen manche Afrikanerinnen und Afrikaner in Europa, bei ihren alten Kolonialisten, eine neue Existenz. Migration ist ein Menschenrecht und eine alte Form, Probleme zu lösen. Eine Massenwanderung aber ist das nicht. Denn der alte Kontinent ist für die meisten Menschen in den Entwicklungsländern nicht mehr das Ziel aller Wünsche und schon gar nicht das Paradies, das wir uns einbilden.

Steckt hinter dieser selbstverliebten Vermutung, die halbe Welt wolle in Schmürzikon AG leben, vielleicht unsere eigene Angst vor der Zukunft?
Globale Umfragen zeigen: In Afrika, Lateinamerika und Asien glaubt heute eine Mehrheit, ihren Kindern werde es einmal bessergehen als ihrer Generation. Im reichen Westen aber, in Europa und in den USA, denken fast zwei Drittel der Befragten genau das Gegenteil: Sie befürchten für die nächste Generation minderen Wohlstand und schlechtere Chancen.

Warum hat die Stimmung in den reichen Ländern gedreht?
Spätestens die Finanzkrise 2008 hat an den Tag gebracht, was US-Ökonomen schon in den 1990er Jahren analysierten: Die Einkommen der Mehrheit in der reichen Welt stagnieren oder sind sogar rückläufig. Die Ungleichheiten wachsen. Inzwischen schon seit dreissig Jahren. In England sind die Armenküchen überfüllt. In den USA halten nur Care-Pakete viele Familien am Leben. In Europa werden sozialstaatliche Leistungen gekürzt. Der Grund ist klar: Seit den 1990er Jahren gehen die Produktivitätsgewinne der Wirtschaft fast ausschliesslich an das reichste Prozent. Der Westen wird immer noch reicher, aber die Oberschicht kassiert fast den ganzen Zuwachs. Unsere Gesellschaften zerbrechen an der neoliberalen Revolution.

Was heisst das?
Die neoliberale Revolution ist das seit drei Jahrzehnten laufende politische Programm zur Umverteilung nach oben: Privatisierung öffentlicher Güter. Entfesselung der Finanzmärkte. Rückbau des Sozialstaates und des Service public, Steuersenkungen für Konzerne und Reiche. Angriff auf die Gewerkschaften und Auslagerung der Industrie.

Wie verstehen Sie umgekehrt den neuen Optimismus in den Entwicklungsländern?
Dort ist manches in Bewegung gekommen. China industrialisiert sich erfolgreich. Es zählt mehr Menschen als alle OECD-Länder zusammen. Aber auch in den ärmsten Ländern tut sich viel: Nun gehen Inder, Nepalesinnen oder Bangalen am Arabischen Golf arbeiten. Unter schlechten Bedingungen, aber sie schicken Geld nach Hause. Ihre Kinder besuchen Schulen. Neue Chancen entstehen. Kleine Chancen.
Doch um das richtig einzuordnen, muss man sich sogleich einen Begriff von den Ungleichheiten machen. Das reichste Prozent verfügt über gleich viel Einkommen wie 62 Prozent der Weltbevölkerung, also 4,3 Milliarden Personen. Das sind die Zahlen der Weltbank. Pro Kopf ist das jeweilige Bruttoinlandprodukt (BIP) der Entwicklungsländer nur ein Neuntel so hoch wie das Pro- Kopf-BIP der 34 OECD-Länder. Bei den Entwicklungsländern sind China, Indien und Brasilien mit eingerechnet. China, der neue Riese, hat eine Wirtschaftsleistung von 7000 Dollar pro Kopf, die Schweiz von 85 000 Dollar.

Die Nord-Süd-Kluft bleibt also ein zentrales Problem der Menschheit?
Noch für lange Zeit. Wie soll man sich eine halbwegs sichere und befriedete Welt oder die Lösung des drängenden Klimaproblems vorstellen, solange wirtschaftliche Ressourcen und Chancen so extrem ungleich und ungerecht verteilt sind? Das gilt im übrigen auch für die Lebenschancen der Einzelnen. Acht Millionen Schweizerinnen und Schweizer verfügen über mehr als die 850 Millionen Menschen die in den ärmsten Ländern leben. Der Handelsüberschuss der Schweiz mit sämtlichen Entwicklungsländern hat sich zwischen 1990 und 2010 mehr als verdreifacht. Er ist elfmal grösser als die gesamte Entwicklungshilfe … Das Geld fliesst noch immer vom Süden in den Norden.

Und doch ist diese Überlebensfrage für die Menschheit weitgehend aus den Medien und der Diskussion verschwunden. Frustriert Sie das?
Nein. In politischen Milieus werden diese Fragen heute intensiver und kompetenter besprochen. Überall gibt es starke Gruppen der Zivilgesellschaft, die nicht nur international vernetzt sind und an klugen, innovativen Lösungen arbeiten, sondern auch einigen Einfluss gewinnen konnten: So wüsste ich derzeit kaum eine Regierung, in der nicht Leute sitzen, die verstehen, wie etwa Armut und das Klimaproblem zusammenspielen. Wir leben in einer veränderten Welt.

Wie hat sie sich verändert?
Zur Jahrtausendwende haben wir ein Buch mit dem Titel «Nach der Globalisierung» veröffentlicht. Die westlichen Eliten strotzten damals vor Selbstvertrauen. Sie herrschten allein über die Welt. Sie planten, den globalen Kapitalverkehr von allen Regeln zu befreien. Dass China und Indien ihre Finanzmärkte noch regulierten, sahen sie als Skandal. Auch der Welthandel sollte von allen Fesseln befreit werden. Nationale Marktregulierungen sowie Vorschriften zum Schutz der Arbeitenden oder der Umwelt wollten sie schleifen. Das sollte der Globalisierung den nächsten grossen Schub geben: Die Welt sollte ein einziger Binnenmarkt für unsere Konzerne werden. Unter der Führung und dem militärischen Schutz der USA, deren Politiker von einem zweiten «amerikanischen Jahrhundert» phantasierten. Dafür hatten die Industrieländer eine umfassende Agenda aufgestellt. In der frisch gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) und im Internationalen Währungsfonds (IWF) wollten sie das durchsetzen.

Doch dann passierte das, was man nicht erwartet hatte?
Ja. Viele Entwicklungsländer wehrten sich gegen diese Pläne. Erfolgreich. Die USA hatten übersehen, dass in der WTO jedes Land eine Stimme hat. Globalisierungskritische Bewegungen demonstrierten. Nichtregierungsorganisationen und Think-Tanks rund um die Welt arbeiteten an Gegenentwürfen. Zum ersten Mal trat deutlich hervor, dass es nicht um die erste, zweite und dritte Welt geht, sondern um die eine Welt. Die verschiedenen Pläne der Industrieländer scheiterten.

Also haben die Globalisierungskritiker gewonnen?
Nur in der «Abwehr». Sie und auch die Entwicklungsländer konnten ihre Vorstellungen ebenso wenig durchsetzen. Die Verhältnisse sind blockiert. In der WTO herrschen Pattsituation und Grabenkrieg. Aber die neoliberale Globalisierung ist gestoppt. Spätestens die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise von 2008 hat ihre Grenzen aufgezeigt. Die USA sind nach den Kriegen in Afghanistan und im Irak als Weltmacht stark geschwächt, und Europa hat eigene Probleme: Die Spar- und Austeritätspolitik würgt nicht nur den Aufschwung ab, sie zerstört auch den sozialen Kompromiss des europäischen Modells.

Heute versuchen die Lobbies der Multis, eine weitere Globalisierung anzustossen. Ausserhalb der WTO, über «Freihandelsabkommen» wie das Transpazifische oder das Transatlantische, bekannt als TTIP.
Das sind mächtige Instrumente. Zusammen würden sie wohl 70 bis 75 Prozent der gesamten Weltwirtschaft abdecken. US-Regierung und EU sehen darin den Hebel, um unsere Regeln gegen China und andere aufstrebende Länder durchzusetzen. Aber diese Verträge stehen noch nicht.

Diese neue Globalisierung wäre ganz von Weltkonzernen beherrscht. TTIP und auch das geplante Dienstleistungsabkommen TISA würden den Regierungen jedes Instrument aus der Hand schlagen, auf ihre Ökonomie Einfluss zu nehmen.
Das ist der vorläufige politische Konsens der westlichen Eliten – sie streben globale Regulierungssysteme an, die von nationalen Parlamenten und Interessengruppen abgeschirmt sind. Das heisst nicht, dass die westlichen Konzerne regieren, doch die Politik soll sämtliche ihrer Wünsche erfüllen.

Und neue Akteure werden gross, wie China?
China und in kleinerem Masse auch Indien und Brasilien sind zu Wirtschaftsmächten aufgestiegen. Ihr Bedarf an Rohstoffen hat die Rohstoffmärkte angetrieben und damit Afrika aus der wirtschaftlichen Depression geholt. China hat sich auch Rohstoffquellen, Boden und Infrastruktur in vielen Ländern gesichert und tritt mit Krediten und Entwicklungshilfe als neuer, mächtiger Geber auf. Für Entwicklungsländer öffnet das neue Spielräume. Aber für das Grundproblem der Entwicklung gerechterer Verhältnisse bringt das noch keine neue Qualität.

Diese Qualität soll jetzt von der Uno gesetzt werden?
Im Herbst wollen die Vereinten Nationen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung verabschieden, SDG, «sustainable development goals» genannt. Der Entwurf ist ehrgeizig, kohärent und hat uns überrascht. Wird er so verabschiedet, wie er vorliegt, sind neue, handfeste Prozesse für eine echte Weltinnenpolitik möglich. Dafür werden allerdings nicht die Regierungen sorgen. Es braucht den Druck von sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Und die Schweiz?
Für die Schweiz stellt sich die Frage, ob sie ihre privilegierte Position verteidigen will und damit die Verletzung der Interessen von Milliarden Menschen in Kauf nimmt. Oder ob sie an internationalen Lösungen mitarbeitet.

Interview: Oliver Fahrni, publiziert in Work vom 4. Juni 2015

Meinung

Mehr Klimaschutz, weniger Entwicklungshilfe?

18.06.2015, Entwicklungsfinanzierung

Peter Niggli, Alliance Sud-Geschäftsleiter, widerspricht Bafu-Direktor Bruno Oberle: Das Vorhaben, Entwicklungshilfe in Klimazahlungen umzupolen, widerspreche dem Gesetz.

Mehr Klimaschutz, weniger Entwicklungshilfe?

© Daniel Rihs/Alliance Sud

Der Klimawandel kommt teuer zu stehen. Wenn wir ihn nicht bremsen, nehmen Ernteausfälle, Überflutungen tiefgelegener Küstenregionen, Krankheiten, Massenwanderungen und bewaffnete Konflikte um Ressourcen zu. Ihn zu bremsen, kostet ebenfalls. Dazu müssen Energiegewinnungs-, Produktions- und Transportsysteme global auf erneuerbare Energien umgestellt werden – was unter dem Begriff Klimaschutz verstanden wird. Moderate Schätzungen gehen von jährlich 200 Mrd. Dollar aus, welche dafür ab 2020 in Schwellen- und Entwicklungsländern investiert werden müssten. Hinzu kommen 50 Mrd. jährlicher Investitionen, um sich an den Klimawandel anzupassen. Dazu gehören Küstenschutzsysteme gegen den Meeresspiegelanstieg, Veränderungen der Wasserläufe oder Umsiedlungen innerhalb betroffener Länder, um nur ein paar Punkte zu nennen.
Diese 250 Mrd. fallen in den Entwicklungsländern zusätzlich zu dem an, was der weitere Ausbau der Bildungs- und Gesundheitssysteme oder der Infrastruktur kostet. Die Industrieländer versprachen in Kopenhagen 2009, sich an den gesamten Klimakosten mit 100 Mrd. jährlich, also zu 40 Prozent, zu beteiligen. Und zwar zusätzlich zur Entwicklungshilfe von heute 135 Mrd. Unsere Länder könnten diese 100 Mrd. leicht und verursachergerecht generieren, wenn sie die heimischen Treibhausgasemissionen preislich mehr belasten, als sie es ohnehin tun müssen, wenn sie den eigenen Klimaschutz vorantreiben. Vom Willen, die dazu nötigen politischen und gesetzlichen Vorkehrungen zu treffen, ist in vielen Industrieländern, auch in der Schweiz, aber wenig zu spüren. Das zeigt exemplarisch das Interview mit Bruno Oberle, dem obersten Umweltschützer der Schweiz.
Oberle behauptet apodiktisch, es sei politisch schon entschieden, dass der Klimabeitrag der Schweiz aus dem Entwicklungsbudget finanziert werde. Da dieses auf 0,5 Prozent erhöht worden sei, handle es sich um «neues, zusätzliches» Geld. Das widerspricht den internationalen Vereinbarungen. Schon bisher nahmen die Schweiz und andere westliche Länder ihre homöopathisch dosierten Klimabeiträge aus dem Entwicklungsbudget. Ab 2020 geht es aber um mehrere hundert Mio. Franken jährlich zulasten der Entwicklungsaufgaben von Deza und Seco. Für Oberle ist das kein Problem. Die Prioritäten der Entwicklungshilfe seien ständigem Modewandel unterworfen. Habe man sich früher auf Gender oder Dezentralisierung konzentriert, müsse man sich nun eben auf Klima ausrichten. Das nütze den Armen auch. Klima kann man aber so wenig essen, wie man genug zu essen kriegt, wenn der Klimawandel völlig aus dem Ruder läuft. Ceterum censeo: Oberles Vorhaben widerspricht dem Entwicklungshilfegesetz.

Editorial zu GLOBAL+ Nr 58, Sommer 2015

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Ein (zu) kleiner Schritt

21.07.2015, Entwicklungsfinanzierung

Nach der Konferenz ist vor der Konferenz. Eva Schmassmann über das magere Ergebnis der Konferenz für Entwicklungsfinanzierung vom Juli 2015 in Addis Abeba. Und die Aussichten für die nachhaltigen Entwicklungsziele.

Ein (zu) kleiner Schritt

von Eva Schmassmann, ehemalige Fachverantwortliche «Politik der Entwicklungszusammenarbeit»

«Wir sind die erste Generation, die der Armut ein Ende setzen kann, und die letzte, die die schlimmsten Folgen des Klimawandels abwehren kann.» Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon wird nicht müde, mit diesen Worten auf die Chance und die Dringlichkeit hinzuweisen, mit der wir konfrontiert sind. Die internationale Staatengemeinschaft hat dieses Jahr die Gelegenheit, an drei Konferenzen Ban Ki-moons Appell Folge zu leisten. Letzte Woche fand in Addis Abeba die dritte internationale Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung statt. Im September sollen in New York die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung verabschiedet werden, und im Dezember findet der Klimagipfel in Paris statt.

Die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) sollen die dieses Jahr auslaufenden Millennium-Entwicklungsziele ablösen. Die SDG sind ein ambitioniertes Rahmenwerk, um die Welt bis 2030 in eine nachhaltige Zukunft zu führen. Dazu gehört unter anderem die Ausrottung extremer Armut, der Schutz und Erhalt unserer Ökosysteme, aber auch der Wandel hin zu nachhaltigen Produktions- und Konsumstrukturen. Die Entwicklungsländer konnten sich mit ihrer Forderung durchsetzen, bereits vor der Verabschiedung der SDG durch die Uno-Generalversammlung über die Finanzierung dieser globalen Agenda zu diskutieren. Denn, soweit sind sich alle einig, zur Erreichung der SDG werden enorme Summen Geld benötigt.
Das Gastgeberland der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung, Äthiopien, ist selbst eines der ärmsten Länder der Welt, das vor kapitalen Herausforderungen steht. Rund zwei Drittel der Bevölkerung muss mit täglich weniger als zwei US-Dollar überleben. Analphabetenrate und Kindersterblichkeit sind enorm hoch. Die Konferenz in Addis Abeba hatte sich nicht das Ziel gesetzt, eine konkrete Summe Geld zu sprechen. Denn Geld allein reicht nicht, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Die Konferenz sollte vielmehr aufzeigen, welche Voraussetzungen es für nachhaltige Entwicklung braucht. Eine zentrale Rolle spielen dabei Änderungen im internationalen Finanzsystem, um bestehende Geldflüsse für die Entwicklung verfüg- und nutzbar zu machen. Doch just hier hat es die Konferenz verpasst, notwendige strukturelle Änderungen voranzutreiben.

Noch immer fliessen mehr Gelder vom globalen Süden in den Norden als umgekehrt. Laut einem Uno-Bericht verliert Afrika jährlich rund 50 Milliarden US-Dollar durch unlautere Finanzflüsse. Das ist doppelt so viel, wie der Kontinent jährlich an Entwicklungsgeldern erhält. Die Datenlage ist allerdings schwach und es ist anzunehmen, dass die Finanzabflüsse sogar weit grösser sind.
Eine zentrale Forderung von Alliance Sud ist darum, diese unlauteren Finanzflüsse wirksam zu bekämpfen, zu verhindern, dass unversteuerte oder illegal erworbene Vermögen in ausländische Steueroasen verfrachtet werden. Dafür braucht es die enge Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Zielländern der dubiosen Gelder. Bis heute werden die Regeln für internationale Steuerpolitik von den reichen Industrieländern in der OECD bestimmt. Entwicklungsländer fordern darum seit langem eine Zusammenarbeit in Steuerfragen auf Augenhöhe im Rahmen der Uno. In Addis Abeba hätte die Gelegenheit genutzt werden können, um endlich ein zwischenstaatliches Gremium für Steuerfragen zu schaffen. Dies umso mehr als die Industrieländer verlangen, dass die Entwicklungsländer vermehrt eigene Ressourcen mobilisieren, sprich die nationalen Steuereinnahmen erhöhen. Dabei sind legale Steuervermeidungspraktiken und die Steuerflucht multinationaler Firmen nachweislich die Haupthindernisse bei der einheimischen Ressourcenmobilisierung. Doch die OECD-Länder beharrten auf ihrer Machtposition und haben die Schaffung dieses neuen Gremiums bis zur letzten Minute bekämpft. Auch auf die Gefahr hin, die Konferenz scheitern zu lassen. Zum Schluss haben die Entwicklungsländer klein beigegeben und in ein Abschlussdokument ohne Steuergremium eingewilligt.

Äthiopien stand dabei besonders unter Druck – und hat den Druck afrikanischen und anderen Entwicklungsländern weitergegeben. Als Gastgeberland lag ihm daran, die Konferenz zu einem Abschluss zu bringen. Die nächsten zwei Konferenzen finden in New York und Paris statt. Wie wird es dort um die Kompromissbereitschaft des Nordens bestellt sein? Denn eines ist nach Addis Abeba klar: Ban Ki-moons Wunsch wurde (noch) nicht erfüllt. Es sind noch viele, grössere Schritte notwendig, um der Armut ein Ende zu setzen und den Klimawandel zu bekämpfen.