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Rückbau der Globalisierung – langsam, aber sicher
22.06.2020, Handel und Investitionen
Der Ruf ist unüberhörbar geworden: Die in Billiglohnländer ausgelagerte Produktion soll zurückgebracht werden. So zwingend ein Paradigmenwechsel ist, so sorgfältig ist er anzugehen. Sonst bezahlen einmal mehr die Entwicklungsländer die Rechnung.

Auf der Ilha de Cabo, einer der angolanischen Hauptstadt Luanda vorgelagerten Insel.
© Alfredo D’Amato/Panos
Innerhalb weniger Monate hat ein erstmals in China aufgetauchtes Virus die Welt in die Knie gezwungen. Treffend als Virus der Globalisierung bezeichnet, hat es sich wie ein Lauffeuer in alle Ecken der Welt verbreitet. Einige argumentieren sogar, dass gewisse Länder nicht nur wegen ihres guten Krisenmanagements vergleichsweise glimpflich davongekommen seien, sondern weil sie schlecht in globale Wertschöpfungsketten integriert seien; andere, wie Italien, hätten genau darum einen sehr hohen Preis bezahlt, weil sie stark globalisiert und wirtschaftlich eng mit China verbunden seien.
Unbestritten ist, dass der grosse Lockdown, den rund die Hälfte der Menschheit vollzogen hat, unkalkulierbare Folgen für die Weltwirtschaft haben wird, vergleichbar mit der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle Krise enorme negative Folgen für die Entwicklungs- und Schwellenländer haben wird. Um ein Beispiel zu nennen: Der tunesische Wirtschaftswissenschaftler Sami Saya, der sich auf den Internationalen Währungsfonds (IWF) stützt, sagt voraus, dass Tunesien die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit 1956 erleben werde. In diesem sehr offenen Land ist der Tourismus einer der am stärksten betroffenen Sektoren. Bleibt der Luftraum auch nach der Lockerung des Ausnahmezustands noch länger geschlossen, so ist die Tourismussaison 2020 ernsthaft gefährdet, weiss auch der Präsident des tunesischen Hotelverbandes (FTH), Khaled Fakhfakh. Was das bedeutet, lässt sich an folgenden Zahlen ermessen: In Tunesien macht der Tourismus je nach Einschätzung zwischen 8% und 14% des Nationaleinkommens aus, fast jeder zehnte Arbeitsplatz hängt davon ab und die Ferienindustrie sichert 400 000 Familien den Lebensunterhalt.
Auf weniger volatile Sektoren setzen
In Europa, auf der anderen Seite des Mittelmeers, finden immer mehr Menschen, die Covidkrise sei eine beispiellose Chance für den Klimaschutz, angefangen damit, dass sie keinen Fuss mehr in ein Flugzeug setzen und die Ferien nicht nur dieses Jahr in Zugsreise-Distanz verbringen wollen. So lobenswert diese Absicht gerade auch im Kontext des Paradigmenwechsels der Uno-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung ist, sie birgt auch die Gefahr, dass die Wirtschaft der von TouristInnen abhängigen Länder des Südens weiter in Schieflage gerät. Der Einwand liegt auf der Hand: Diese Länder seien eben schlecht beraten worden, hätten ein nicht nachhaltiges Entwicklungsmodell gewählt und auf einen volatilen Sektor par excellence gesetzt, der unter jedem Anschlag oder dem wachsenden ökologischen Bewusstsein in Europa leide.
Die tunesische Regierung hat dies lange vor der aktuellen Krise erkannt. Die FIPA (Foreign Investment Promotion Agency) lädt ausländische Investoren ein, in Sektoren zu investieren, die sie für vielversprechend hält und die eine hohe Wertschöpfung aufweisen: Mechanik, Elektrizität und Elektronik, Dienstleistungen (wie Call-Center), Kunststoffverarbeitung, Automobilkomponenten und Luftfahrt, aber auch traditionelle, arbeitsintensivere Sektoren wie die Textil- und Bekleidungsindustrie, die Lebensmittelverarbeitung, die Leder- und Schuhindustrie. Der Tourismus figuriert nicht auf dieser Liste, ihn zu ersetzen, wird jedoch Zeit brauchen.
Das Problem ist, dass die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen in der Exportindustrie weder aus ökologischer noch aus wirtschaftlicher Sicht nachhaltig ist, da sie empfindlich auf durch externe Faktoren verursachte Krisen reagiert. Nach 2008 wurden Entwicklungs- und Schwellenländer speziell stark durch die Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogen. Besonders betroffen waren jene Länder, die – oft unter dem Druck der Weltbank und des IWF – ein exportorientiertes Wirtschaftsmodell verfolgten und stark von ausländischen Direktinvestitionen abhängig geworden waren.
Arbeitslose Textilarbeiterinnen
Sicher, mit einem Zurückfahren der Globalisierung und der Verlagerung der Produktion zurück nach Europa und dessen Nachbarländer hätte der Textil- und Bekleidungssektor im Maghreb ein noch grösseres Potenzial als heute. Aber die Branche ist anfällig, weil sie stark von der internationalen Nachfrage abhängt. Während bei uns viele das Einfrieren unserer konsumgetriebenen Wirtschaft sogar begrüsst haben und die plötzliche Entschleunigung schätzten, führte die Schliessung von Warenhäusern und Modeboutiquen bei uns postwendend zur Schliessung von Textilfabriken und zur Entlassung von Millionen von Arbeitnehmerinnen in den Produktionsländern in Südostasien, meist ohne jegliche soziale Absicherung. Jetzt, wo die Produktion wieder hochgefahren wird, sind die Fabriken von miserablen Löhnen, die zwischen 150 und 200 US-Dollar pro Monat liegen – was meist nicht einmal zur Hälfte der Deckung der Grundbedürfnisse reicht –, zu noch tieferen Löhnen übergegangen. Die britische Risikoberatungsfirma Verisk Maplecroft wurde in der NZZ am Sonntag dahingehend zitiert, dass die etwas besseren Bedingungen, die sich die Textilarbeiterinnen in der Region in den letzten Jahren erkämpft haben, wieder zunichtegemacht werden dürften.
In Bangladesch, einem Land, das für seinen Kampf gegen die Armut und die Klimakrise viel Lob erhalten hat, kommen 80% der Devisen aus der Textilindustrie. Auch dieser Regierung kann man vorwerfen, dass sie sich für ein exportorientiertes Entwicklungsmodell und für die Komplizenschaft mit Konzernen und deren Zulieferern entschieden habe, die nicht bereit sind, für Jeans und ein Paar Turnschuhe etwas mehr zu bezahlen, was zu einem Wettlauf nach unten auf dem Rücken der arbeitenden Frauen führt.
Das Coronavirus hat die extreme Abhängigkeit vieler Länder von China gezeigt: 80% der Wirkstoffe der in Europa verkauften Medikamente werden im Reich der Mitte hergestellt, ein Prozentsatz, der für die Schweiz 27% beträgt. Die plötzliche Unterbrechung von Lieferketten und/oder die drohende Verlagerung bestimmter Produktionstätigkeiten sollte die Regierungen der Entwicklungsländer dazu veranlassen, sich einem Wirtschaftsmodell zuzuwenden, das sich auf die Stärkung der lokalen Wirtschaft und des Binnenmarktes konzentriert. Doch das ist leichter gesagt als getan; und vor allem lässt sich eine solche Umstellung nicht von heute auf morgen bewerkstelligen. Nicht zuletzt erfordert ein «interner» Markt auch eine entsprechend robuste Binnennachfrage, und das wiederum heisst, es braucht eine Einkommensumverteilung zugunsten der Masse der benachteiligten Menschen, die sich derzeit oft weder ausländische noch einheimische Produkte leisten können.
Aviatik am Boden, der Ölpreis sinkt
Ein weiterer Wirtschaftszweig, dessen Grounding nicht wenige begrüssten, war die Luftfahrt. Da fast alle Flugzeuge am Boden, aber auch Autos und Lastwagen wochenlang in ihren Garagen stehen geblieben sind, ist die Nachfrage nach Erdöl auf ein Allzeittief gefallen, der Preis für ein Barrel zeitweise sogar negativ geworden. Sicher, für das Klima sind das gute Nachrichten. Das Problem ist jedoch, dass viele Entwicklungsländer stark oder gar vollständig vom Export fossiler Brennstoffe abhängig sind: Südsudan, Nigeria, Angola, Ekuador, Irak und Algerien, um nur einige Beispiele zu nennen, haben ihre Wirtschaft nicht diversifiziert oder haben nichts anderes zu verkaufen. In Algerien entfallen fast alle Exporte und drei Viertel der Staatseinnahmen auf Öl und Gas. Jahrzehntelang versäumte es die kleptokratische Führungsriege in Algier, andere Sektoren als zusätzliche Einkommensquellen zu entwickeln. So gesehen kann das benachbarte Tunesien von Glück reden, dass es fast gänzlich ohne Rohstoffe auskommen muss. Immerhin, unter dem Druck der Strasse ist Algerien aufgewacht und hat beschlossen, seine Energieversorgung zu diversifizieren und die Ölrente zur Industrialisierung des Landes zu nutzen. Die Regierung steht kurz vor der Unterzeichnung eines Abkommens mit Deutschland über die Beteiligung an Desertec, einem gigantischen Solarstromprojekt in den Wüsten Nordafrikas, das 2003 unter der Ägide des Club of Rome lanciert wurde, aber ins Stocken geraten ist. Die neue algerische Regierung, die 2020 an die Macht gekommen ist, hat das Projekt wiederbelebt.
Die Covidkrise hat, noch viel schneller und abrupter als die Klimakrise, die Verwundbarkeit unserer globalisierten Welt aufgezeigt. Eine Anpassung ist notwendig, eine Neuorientierung drängt sich auf. Aber der Übergang zu einer Neuorganisation der Weltwirtschaft muss schrittweise und demokratisch gestaltet werden. Andernfalls droht die Heilung für die Entwicklungsländer schlimmere Konsequenzen zu haben als die Krankheit.
Medienmitteilung
Schluss mit dem EFTA-Powerplay gegen den Süden!
09.07.2020, Handel und Investitionen
250 Organisationen aus 60 Ländern rufen in einem offenen Brief dazu auf, den Ländern des globalen Südens nicht länger strenge Sortenschutzgesetze aufzudrängen. Die Ernährungssouveränität und die agrarbiologische Vielfalt sind gefährdet.

© pixelio.de / Rainer Sturm
250 Organisationen aus 60 Ländern rufen die Schweiz, Norwegen und Liechtenstein in einem offenen Brief dazu auf, den Ländern des globalen Südens nicht länger strenge Sortenschutzgesetze aufzudrängen, die sie selber nicht erfüllen. Diese Forderung der EFTA-Länder nach strengem Sortenschutz – eine Art Patentschutz auf Saatgut - schränkt den freien Umgang mit Saatgut drastisch zu Lasten der Bäuerinnen und Bauern im globalen Süden ein. Das Recht auf Nahrung, die Ernährungssouveränität und die agrarbiologische Vielfalt sind gefährdet.
250 Organisationen aus der ganzen Welt haben sich aus Sorge um die bäuerlichen Saatgutsysteme, die ein Garant für die agrarbiologische Vielfalt und eine unverzichtbare Ressource für die Züchtung neuer Nutzpflanzen sind, an die Regierungen der Schweiz, Liechtenstein und Norwegen gewandt. Sie verlangen, dass die Forderung nach UPOV-91-kompatiblen Sortenschutzgesetzen aus den Verhandlungsmandaten für künftige Freihandelsabkommen gestrichen werden.
Seit über zwanzig Jahren machen die Länder der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz) in ihren Freihandelsabkommen Druck auf die Länder des globalen Südens, Sortenschutzrechte gemäss dem internationalen Übereinkommen UPOV 911 einzuführen. Dies hat eine unverhältnismässige Einschränkung der Rechte der Bäuerinnen und Bauern, Saatgut für die nächste Aussaat zurückzubehalten, zu tauschen und zu verkaufen, zur Folge. Und das obwohl die Schweiz, Norwegen und Liechtenstein,2 diese Standards in ihrem eigenen Land nicht umsetzen.
Dieser «Double Standard» ist umso stossender, als in den Ländern des Südens die bäuerlichen Saatgutsysteme, die durch die UPOV-Standards in ihren Grundfesten erschüttert werden, eine viel zentralere Bedeutung für die Ernährung und Einkommenssicherung haben als in Europa. Den Ländern des globalen Südens diese Standards aufzuzwingen, die ohne ihre Beteiligung ausgehandelt wurden, ist ein neokoloniales Diktat. Die Länder sollen selbst über Gesetze und Politiken in Bezug auf Saatgut, die ihrem landwirtschaftlichen System und den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung entsprechen, entscheiden können.
Aktuell verhandelt die EFTA ein Abkommen mit Malaysia. Im Februar 2020 standen auch intellektuelle Eigentumsrechte inklusive Sortenschutz à la UPOV 91 auf der Agenda. Es ist gerade im Fall Malaysia unverständlich, warum die EFTA-Länder auf UPOV 91 beharren. Das Land verfügt bereits über ein Sortenschutzgesetz, das in einem beschränkten Rahmen auch die Rechte der Bäuerinnen und Bauern auf Saatgut respektiert. Die «Koalition Recht auf Saatgut» hat Mitte Juni gegenüber dem Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft in einer Replik ihre Besorgnis darüber eindringlich dargelegt und dessen Argument ‘Sicherung des Wirtschaftsstandorts Schweiz’ zurückgewiesen.
Der Verzicht auf UPOV Standards in Freihandelsabkommen wäre ein bedeutender Beitrag zur Erreichung der Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung, insbesondere dem Ziel Nr.2 (Kein Hunger) und dem Ziel Nr. 15, welches dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen will.
Für weitere Informationen:
- Judith Reusser, Verantwortliche Entwicklungspolitik Saatgut SWISSAID; ; Tel. +41 78 700 49 61
- François Meienberg, Koordinator APBREBES;; Tel. +41 79 344 02 54
- Thomas Braunschweig, Handelspolitik Public Eye, ; Tel. +41 44 277 79 11
1 UPOV = Internationales Übereinkommens zum Schutz von Pflanzenzüchtungen. Die Akte von 1991 wurde von nur 19 Industrieländern des Nordens und Südafrika für ihre eigenen Bedürfnisse verhandelt.
2 Island hat ein nationales Sortenschutzrecht nach UPOV 91 Standards

Koalition Recht auf Saatgut
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Mercosur: lückenhafte Wirkungsanalysen
09.12.2020, Handel und Investitionen
Nach Abschluss der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten hat das SECO eine Wirkungsanalyse zu ausgewählten Umweltfragen in Auftrag gegeben. Die Bereiche «Soziales und Menschenrechte» wurden ausgeklammert.

Einsatz von Pestiziden für den grossflächigen Anbau von Gensoja in Uruguay. Das Futtermittel wird nach China und in die EU exportiert.
© Joerg Boethling
Die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), der die Schweiz angehört, und dem Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) wurden am 23. August 2019 abgeschlossen. Über ein Jahr später ist das Abkommen allerdings immer noch nicht unterzeichnet und publiziert worden; die EFTA begnügt sich mit dem Verweis auf eine 7-seitige Zusammenfassung. Zu Beginn der Verhandlungen hatte Alliance Sud vom Bundesrat eine ex-ante-Wirkungsanalyse zu den Menschenrechten verlangt, was dieser unter dem Vorwand der mangelhaften Datenlage nicht umsetzte. Und dies, obwohl er ein Postulat der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats zur Ausarbeitung einer Methodik angenommen hatte.
Das SECO seinerseits gab eine Wirkungsanalyse in Auftrag, die am 30. Juni 2020 veröffentlicht wurde, also lange nach Abschluss der Verhandlungen. Die vom World Trade Institute durchgeführte Analyse kommt zum Ergebnis, dass das Abkommen für die Schweiz klare Vorteile bringe: Es sorge für wachsende Exporte in die Mercosur-Länder in der Grössenordnung von 55 %, während deren Exporte in die Schweiz um lediglich 5 % zunehmen würden. Mit Verweis auf den Umweltschutz würde der Anstieg der Treibhausgasemissionen aufgrund des Abkommens in der Schweiz 0,1 % und in den Mercosur-Ländern 0,02 % betragen. Bezüglich der Abholzung in den Mercosur-Ländern wurde eine mögliche Zunahme zwischen 0,02 % und 0,1 % ermittelt.
Soziale Fragen und Bodenbewirtschaftung nicht behandelt
Gemäss Elisabeth Bürgi, Rechtswissenschaftlerin am Interdisziplinären Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt der Universität Bern, deckt die Studie nur Teilbereiche ab: «Untersucht werden drei Umweltfragen: die Treibhausgasemissionen, der Biodiversitätsverlust im Zusammenhang mit der Abholzung und die Eutrophierung. Die Schlussfolgerung lautet, dass die Auswirkungen für die Abholzung minim seien, da der Gold-, Soja- und Rindfleischexport sich im Vergleich zum Status quo quasi nicht ändere. In diesem Bereich würden lediglich die Konzessionen für Mercosur-Länder konsolidiert, die sie aufgrund des Allgemeinen Präferenzsystems bereits hätten. Ansteigen würden unter anderem die Exporte von Weizen, Mais, Wein und Geflügel. Doch die Studie untersucht wichtige Bereiche nicht: Sie befasst sich weder mit Pestiziden, Bodenbewirtschaftung noch mit sozialen Fragen – wie Landrechtsfragen - und Menschenrechten. Auch untersucht sie nicht, wie der Status quo im Umweltbereich verbessert werden könnte (Soja, Gold, Fleisch).»
Die zweite, von Agroscope im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft durchgeführte Studie, kommt ebenfalls zum Schluss, dass der Rindfleischimport im Unterschied zu jenem von Weizen, Mais, Sojaöl, Schweinefleisch, Wein und Hühnerfleisch nicht ansteigen würde. Hier stellt sich die Frage, ob der Status quo beizubehalten oder zu verbessern ist. Gemäss SECO importiert die Schweiz aus Brasilien ausschliesslich Soja, das nicht gentechnisch verändert wurde und das der Abholzung keinen Vorschub leistet – was von einer vom Bundesamt für Umwelt in Auftrag gegebenen Studie bestätigt wurde.
GVO-freies und abholzungsneutrales Soja nicht rentabel
«Tatsächlich gibt es in Brasilien eine Region, aus der Soja in die Schweiz exportiert wird, das garantiert GVO-frei ist und der Abholzung keinen Vorschub leistet», bestätigt Elisabeth Bürgi. «Allerdings zeigt die BAFU-Studie auch auf, dass nicht alle Umweltprobleme gelöst sind – dass zum Beispiel der Pestizideinsatz hoch ist – dass sich aber eine nachhaltigere Sojaproduktion nicht lohnt, da die Preisunterschiede zu konventionellem Soja zu gering seien. Zur Gewährleistung des erforderlichen Preisunterschieds könnte z.B. wirklich nachhaltiges Soja z.B. zu besseren Konditionen importiert werden, was schwierig wäre, da Soja ja bereits heute zollfrei importiert wird. Wie aber das jüngst ausgehandelte Freihandelsabkommen mit Indonesien gezeigt hat, welches Zollsenkungen für Palmöl an die Einhaltung von sozialen und ökologischen Kriterien knüpft, gäbe es solche Möglichkeiten, wofür auch die WTO einen gewissen Handlungsspielraum belässt. Jedoch wurde dieser Ansatz für das Abkommen mit dem Mercosur nicht gewählt – weder für Soja noch für irgendwelche andere Produkte.»
Das Postulat der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission verlangt vom Bundesrat, eine Methodik für die Erstellung von Nachhaltigkeitsstudien zu erarbeiten. Man sei aber noch nicht am Ziel, so die Wissenschaftlerin: «Das Vorgehen ist zögerlich. Es liegen gegenwärtig verschiedene Studien von diversen Auftraggebern auf dem Tisch, die unterschiedliche Perspektiven aufzeigen und Methoden anwenden und das Abkommen entweder legitimieren oder in Frage stellen. Diese Studien helfen zwar, den Inhalt des Abkommens und seine möglichen Konsequenzen besser zu verstehen, aber sie kommen zu spät, denn das Dossier ist bereits geschlossen. Das Ziel von Wirkungsanalysen wäre vielmehr, rechtzeitig Informationen zu generieren und den beteiligten Akteuren dadurch zu ermöglichen, sich in den Prozess einzubringen. Die Analysen sollen helfen, Fragen wie die folgenden zu beantworten: Welcher Prozess wird mit dem Abkommen angestossen? Wie könnte das Abkommen formuliert werden, damit nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern auch Umwelt- und Sozialziele berücksichtigt werden? Ziel sollte ein Abkommen sein, das nicht einfach den Status quo konsolidiert, sondern ihn verbessert – beispielsweise über die Gewährung von Zollpräferenzen auf Produkte, die gewisse Standards erfüllen, oder auf verarbeitete Produkte – gekoppelt an finanzielle Unterstützung zur Stärkung des Transformationsprozesses im Partnerland.»
Protostudie zu den Menschenrechten von Alliance Sud
Im Klartext: Ein solches Abkommen würde die bestehende Situation weiter zementieren, in der die Mercosur-Länder Rohstoffe mit geringem Mehrwert exportieren – mit mehr oder weniger erheblichen Auswirkungen auf die Abholzung – und Industrieprodukte und Dienstleistungen importieren. Ganz zu schweigen von einer Stärkung der Rechte des geistigen Eigentums, die normalerweise in solchen Abkommen vorgesehen ist und die den Zugang zu Saatgut und Medikamenten erschwert. Hinzu kommen weitere, menschenrechtsrelevante Probleme, wie es eine von Alliance Sud in Auftrag gegebene Pilotstudie veranschaulicht.
Mit dieser Studie wollte Alliance Sud aufzeigen, dass sowohl eine Methodik als auch die erforderlichen Daten für eine Menschenrechtsanalyse vorhanden sind. Nun ist es am SECO, selber eine solche zu erarbeiten oder unsere Studie zu verwenden. Und die Thematik der Menschenrechte und der sozialen Entwicklung genauso einzubeziehen wie Umweltfragen – denn darum geht es bei der nachhaltigen Entwicklung. Bevor die Diskussion im Parlament und in der Öffentlichkeit beginnt, müssen die Auswirkungen dieses Abkommens auf die Bevölkerungen der Mercosur-Länder bekannt sein. Schliesslich befinden sich Argentinien und Brasilien unter den am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern; ein Abkommen sollte die bereits dramatische wirtschaftliche und soziale Krise nicht noch weiter zuspitzen. Das wäre die Gelegenheit, das Abkommen mit innovativen Bestimmungen zu ergänzen und zu verbessern. Oder es abzulehnen.
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Medienmitteilung
Covid-19: Patentschutz muss gelockert werden
28.01.2021, Handel und Investitionen
Die derzeit geltenden WTO-Regeln zum Schutz des geistigen Eigentums behindern die Verbreitung von Covid-19-Impfstoffen und damit weltweit den Zugang von Millionen von Menschen zu den Impfungen.

In einem offenen Brief fordern Alliance Sud und rund 20 zivilgesellschaftlichen Organisationen den Bundesrat auf, die von über 100 Ländern vorgeschlagene Suspendierung des Urheberrechtsschutzes zu unterstützen. Damit könnten Covid-19-Impfstoffe, Tests und Medikamente dezentral, schneller und in grösserer Menge produziert werden.
Mehr als 100 Länder unterstützen bereits den von Indien und Südafrika bei der WTO eingebrachten Antrag auf vorübergehende Ausnahmen für bestimmte internationale Regeln zum Schutz des geistigen Eigentums. Eine Gruppe von Ländern - darunter auch die Schweiz - hat jedoch bisher eine Ausnahmeregelung vom TRIPS-Abkommen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) abgelehnt. Dieses Abkommen garantiert Pharmaunternehmen umfangreiche Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums.
Im Hinblick auf die entscheidende Sitzung bei den WTO-Verhandlungen am 4. Februar fordern wir mit Amnesty International und Public Eye den Bundesrat auf, sich nicht länger gegen zeitlich begrenzte Ausnahmen von den geltenden internationalen Regeln zum Urheberrechtsschutz zu stellen. Auch anderen Unternehmen nebst den bekannten Pharmafirmen muss ermöglicht werden, weltweit Impfstoffe und Medikamente gegen Covid-19 zu produzieren und zu vertreiben. Die Ausnahmeregelungen würden es jedem WTO-Mitgliedsstaat erlauben, den Schutz des geistigen Eigentums in Zusammenhang mit diagnostischen Tests, Behandlungen oder Impfstoffen gegen Covid-19 so lange zu suspendieren, wie dies die Pandemiebekämpfung erfordert.
«Die vorgeschlagenen Ausnahmeregelungen würden zu einem entscheidenden Zeitgewinn führen, und den nötigen Handlungsspielraum schaffen, um die Produktion von Mitteln zur Bekämpfung von Covid-19 weltweit auszuweiten und zu vervielfachen sowie auf lokale und regionale Bedürfnisse zu reagieren. Dies ist derzeit aufgrund der Restriktionen aus dem TRIPS-Abkommen nicht hinreichend möglich», betont Patrick Durisch, Verantwortlicher für Gesundheitspolitik bei Public Eye. «Ein lokales Unternehmen mit dem nötigen Know-how wäre berechtigt, Impfstoffe, Tests oder Medikamente zu produzieren, ohne aufwändig und lange über eine Lizenz verhandeln zu müssen.»
Die Schweiz lehnt die vorgeschlagene temporäre Ausnahme mit der Begründung ab, dass der geltende Patentschutz kein Hindernis für die weltweite Verbreitung von Covid-19-Impfstoffen und -Behandlungen darstelle. Es gebe für Länder mit niedrigem Einkommen bereits Mechanismen, wie z.B. Zwangslizenzen zur Herstellung patentgeschützter Medikamente. «Diese Mechanismen sind eindeutig unzureichend, um einen schnellen und gerechten Zugang zu den Mitteln zur Bekämpfung von Covid-19 zu gewährleisten. Sie sind im Umfang begrenzt und angesichts des globalen Gesundheitsnotstands zu zeitaufwändig», erklärt Patrick Durisch.
«Die Unterstützung für temporäre Ausnahmen vom TRIPS-Abkommen ist ein wichtiger Schritt, mit dem Staaten wie die Schweiz ihren Verpflichtungen zum Schutz der Gesundheit und internationaler Menschenrechte nachkommen können», sagt Pablo Cruchon, Kampagnenverantwortlicher bei Amnesty Schweiz. «Die Regierungen haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Länder an den Errungenschaften der wissenschaftlichen Forschung teilhaben können und Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten erhalten, die die Bekämpfung von Covid-19 ermöglichen».
Hintergrundinformationen zum weltweiten Impfnationalismus
Einige reiche Länder, darunter die Schweiz, haben sich mit Verträgen den Kauf von Milliarden von Impfstoffdosen für ihre Bevölkerung sichergestellt. Im Gegenzug müssen ärmere Länder noch mehrere Monate oder sogar Jahre auf eine Versorgung mit Impfstoffen warten. Fast 70 Länder werden nicht in der Lage sein, bis Ende Jahr mehr als ein Zehntel ihrer Bevölkerung zu impfen. Dieser «Impfnationalismus» der reichen Länder, der durch eine unzureichende globale Produktion aufgrund von Monopolen noch verstärkt wird, untergräbt die Bemühungen, weltweit eine ausreichende Verfügbarkeit und gerechte Verteilung von Impfstoffen sicherzustellen. Sie ist das Ergebnis eines Systems, das die ausschliessliche Herstellung von Medikamenten durch grosse Pharmakonzerne begünstigt und nicht eine weltweite, dezentrale Produktion.
Eine Uno-Expert*innengruppe hat kürzlich eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sie die vorgeschlagene Aussetzung bestimmter Regeln des TRIPS-Abkommens begrüsst. Sie ist der Ansicht, dass die bestehenden Regeln wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Preise und die Verfügbarkeit von medizinischen Produkten haben werden. Auch viele internationale Organisationen sowie die WHO unterstützen in der gegenwärtigen Pandemiesituation eine teilweise Suspendierung des Patentschutzes für Medikamente.
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Meinung
WTO: Afrikas Revanche
15.02.2021, Handel und Investitionen
Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala ist die neue Chefin der Welthandelsorganisation (WTO) mit Sitz in Genf: Eine Premiere für Afrika und für eine Frau. Die Ökonomin muss sich nun für eine Entwicklung einsetzen, die niemanden zurücklässt.

Ngozi Okonjo-Iweala
© Isolda Agazzi
Die Wahl der 66-jährigen Ngozi ist nicht zu unterschätzen in einer Zeit, in der der Multilateralismus von allen Seiten untergraben wird und die WTO zum Stillstand gekommen ist. Aber was bedeutet schon "Stillstand"? Seit der Gründung der WTO im Jahr 1995 hat sich die Welt verändert und die Machtverhältnisse haben sich verschoben. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Industrieländer den Entwicklungsländern ihren Willen diktieren konnten. Die Entwicklungsländer lassen sich nicht mehr zu einer Liberalisierung zwingen, die vor allem den Interessen des Kapitals in den Ländern des Nordens dient.
Der Beweis: Seit dem Abkommen über Handelserleichterungen im Jahr 2015 wurde kein multilaterales, alle Mitglieder verpflichtendes Abkommen mehr geschlossen. In Buenos Aires einigte man sich 2017 darauf, plurilaterale Verhandlungen - in kleinen Gruppen – zu einigen wenigen Themen aufzunehmen: elektronischer Handel, Investitionserleichterungen, Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und innerstaatliche Regelungen im Dienstleistungsbereich. Das einzige multilaterale Abkommen, das derzeit verhandelt wird, ist jenes über Fischereisubventionen, das eigentlich bis Ende 2020 hätte abgeschlossen werden sollen. Das war nicht der Fall und die TeilnehmerInnen hoffen, es noch vor der diesjährigen Ministerkonferenz in Kasachstan unter Dach und Fach zu bringen, falls sie denn überhaupt stattfindet.
Die meisten afrikanischen Länder nehmen nicht an den e-trade-Verhandlungen teil, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Nigeria, das die Erklärung in Buenos Aires gleich zu Beginn mitunterzeichnete. Sie befürchten eine "digitale Kolonisierung" und glauben, dass sie zunächst ihren Zugang zum Internet verbessern müssen.
Neue Herausforderungen mit der Corona-Pandemie
Die Coronavirus-Krise hat neue Herausforderungen mit sich gebracht. Nach Schätzungen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) werden die 47 ärmsten Länder der Welt (fast alle davon in Afrika) mit einem Rückgang ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) um durchschnittlich 0,4% die schlechteste Wirtschaftsleistung der letzten 30 Jahre verzeichnen. Noch schlimmer: Die UNCTAD schätzt, dass in denselben Ländern zusätzliche 32 Millionen Menschen in die extreme Armut gedrängt wurden, wodurch jahrzehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte gemacht wurden. Es wird erwartet, dass weltweit mehr als 100 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze fallen werden.
In diesem Zusammenhang ist es wichtiger denn je, dass die WTO ein starkes Bekenntnis zu den armen Ländern abgibt und dass ihre Mitglieder sich bereit erklären, Handelsabkommen, die ihnen nicht viel gebracht haben, neu auszutarieren. Die Tatsache, dass eine afrikanische Frau zur Generaldirektorin gewählt wurde und dass sie ihr Engagement für Entwicklung bekräftigt hat, ist vielversprechend. Ein erleichterter Zugang für arme Länder zu Impfstoffen, Tests und anderen Schutzausrüstungen gegen Covid ist lebenswichtig, und es ist inakzeptabel, dass reiche Länder, einschliesslich der Schweiz, sich dem von Südafrika und Indien geforderten und von rund 50 Ländern unterstützten Verzicht auf geistige Eigentumsrechte in Zeiten der Pandemie widersetzen.
Die WTO muss den am wenigsten entwickelten Ländern (Least Developed Countries, LDCs) eine Befreiung von allen Verpflichtungen im Rahmen des TRIPS-Abkommens (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum) gewähren, solange sie LDCs sind und 12 Jahre darüber hinaus, wie sie es gerade beantragt haben – ein Antrag, der von der internationalen Zivilgesellschaft, darunter Alliance Sud, unterstützt wird.
Ngozi Okonjo-Iweala, überzeugte Liberale
Aber machen wir uns nichts vor: Ngozi Okonjo-Iweala war zweimal Nigerias Finanzministerin und arbeitete 25 Jahre lang bei der Weltbank, bis sie die Nummer zwei der Institution wurde. Sie ist also eine überzeugte Liberale, die die Privatisierungen in ihrem Land mit den uns bekannten dramatischen sozialen Folgen angeführt hat. Aber sie zeichnete sich auch im Kampf gegen die Korruption aus und erreichte eine Reduzierung der Staatsverschuldung um 65%.
2021 könnte das Jahr von Afrika werden. Am 1. Januar trat die Panafrikanische Freihandelszone (AfCFTA) in Kraft, eine der grössten Freihandelszonen der Welt mit 1,2 Milliarden Menschen und einem BIP von 2.500 Milliarden US-Dollar. Ein Fortschritt angesichts der Tatsache, dass der Handel zwischen den afrikanischen Ländern immer noch sehr begrenzt ist. Die regionale Integration könnte aber auch zu einem zweischneidigen Schwert für die Schwächsten werden: Kleinbauern, kleine Händler, indigene Völker. Freier Handel bringt immer Gewinner und Verlierer mit sich, sei es zwischen Ländern des Nordens und des Südens oder zwischen Ländern des Südens selbst – und die Verlierer müssen geschützt werden.
Heute wurde eine Afrikanerin an die Spitze der WTO gewählt. Hoffen wir, dass dies ein gutes Omen ist zu einer Zeit, in der Afrika eine beeindruckende Dynamik und einen eisernen Willen zeigt, die Coronavirus-Krise zu überwinden und seine Entwicklung fortzusetzen.
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Tansania plant Abbau der grössten Nickel-Vorkommen
19.03.2021, Handel und Investitionen
Die tansanische Regierung hat mit einem britischen Konzern ein Abkommen über den Nickel-Abbau unterzeichnet, das die Aufteilung der Gewinne zu gleichen Teilen regelt. Staatliche Eingriffe sind auch im benachbarten Sambia zu beobachten.

Zwei Fischer paddeln an dem unter der Flagge der Marshallinseln fahrenden Tanker «Miracle» vorbei, nachdem dieser am 13. Februar 2016 in der Hafenmündung von Daressalam auf Grund gelaufen war.
© Daniel Hayduk / AFP
Im Schein der untergehenden Sonne tuckert die Fähre von Sansibar in den Hafen von Daressalam, der Wirtschaftsmetropole Tansanias, die sich seit ihrer Namensgebung durch den Sultan von Sansibar im Jahr 1866 «Haus des Friedens» nennt. Hinter dem Glockenturm der Kathedrale sind die Hochhäuser der Geschäftsviertel Kisutu und Geresani zu erkennen. Am gegenüberliegenden Ufer brechen die Fischer zu einer langen, anstrengenden Nacht auf dem indischen Ozean auf.
Der Hafen der Stadt soll zum grössten Zentral- und Ostafrikas ausgebaut werden und sogar jenen von Durban in Südafrika in den Schatten stellen. Die geografische Lage Tansanias ist einzigartig: Das Land bietet sechs Binnenländern – Uganda, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda, Burundi, Sambia und Malawi – den direktesten Zugang zum Meer. Die Ausbauarbeiten schreiten rasch voran und schon bald werden hier grosse Frachtschiffe anlegen können. Laut der Daily News, einer von zwei englischsprachigen Tageszeitungen, ist der Ausbau von sieben Liegeplätzen durch die China Harbour Engineering Company bereits zu 90% abgeschlossen. Ausserdem ist China dabei, mit Beteiligung eines omanischen Investmentfonds in Bagamoyo, der ehemaligen Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas, einen grossen Hafen zu errichten.
Umschlagplatz für Rohstoffe
Aus dem Hafen werden die in Tansania abgebauten Mineralien, deren Volumen markant ansteigen dürfte, exportiert. Am 19. Januar unterzeichnete die Regierung ein Abkommen mit dem britischen Konzern Kabanga Nickel, dessen Zweck der Abbau der weltweit grössten Vorkommen des Minerals ist, das insbesondere in der Automobilindustrie und in Batterien Verwendung findet. Einige Beobachter vor Ort geben sich enthusiastisch und muten Tansania gar zu, über den Schlüssel für eine kohlenstoffarme Weltwirtschaft zu verfügen.
Das Joint-Venture mit dem Namen Tembo Nickel Corporation hat sich zum Abbau von Nickel und dem Bau einer Raffinerie für das Einschmelzen vor Ort verpflichtet. Dieser Ansatz deckt sich mit der politischen Ausrichtung Tansanias, Mineralien zu veredeln, statt sie im Rohzustand zu exportieren. Kabanga Nickel ist mit 84% Anteil Mehrheitsaktionär der neuen Gesellschaft, während die restlichen 16% auf die Regierung entfallen – was der üblichen Beteiligung Tansanias an Bergbauvorhaben entspricht. Das Land erhofft sich daraus Jahreserträge von 664 Millionen USD. Der Gewinn entfällt zu gleichen Teilen auf die Regierung und das britische Unternehmen.
Pikantes Detail: Die Schürfrechte gehörten zuvor dem Schweizer Konzern Glencore und der kanadischen Barrick Gold; 2018 kündigte Präsident John Magufuli nach einer Anpassung des Steuerregimes und der Bergbau-Gesetzgebung, wonach dem Staat ein grösserer Teil des Einkommens zufällt, jedoch die Förderlizenzen der beiden Unternehmen sowie von zehn weiteren Investoren im Land.
Langfristig sollen vor Ort Batterien produziert werden
Tansania beabsichtigt ausserdem, Investoren für die lokale Produktion von Batterien zu gewinnen. Der gesamte Ertrag des Bergbauvorhabens soll in den tansanischen Banken verbleiben; Massnahmen zur Beschränkung des Mittelabflusses sind vorgesehen. Der Bergbau macht 3,5% des Bruttonationaleinkommens Tansanias, dem drittgrössten Goldproduzenten Afrikas, aus. Diesen Anteil will die Regierung bis 2025 auf 10% erhöhen.
Den Kern der Entwicklungsstrategie des inzwischen vertorbenenen Präsidenten John Magufuli, die bis 2025 ein jährliches Wachstum von 8% und die Schaffung von 8 Millionen Arbeitsplätzen im formellen und informellen Sektor anstrebt, bildet die Förderung von ausländischen wie auch inländischen Investitionen. Das Land möchte seine Industrialisierung fortsetzen. In der Ausgabe von «The Citizen» vom 4. Januar bekräftigte Kitila Mkumbo, Staatsminister für Investitionen, dass «die tansanische Regierung bestrebt sei, das Geschäfts- und Investitionsklima zu verbessern, um in- und ausländische Investitionen zu mobilisieren, zu halten und zu fördern». Grundlage dafür ist der Leitplan für Regulierungsreformen zur Verbesserung des Geschäftsumfelds in Tansania. Durch letzteren soll Überregulierung abgebaut, die Regierungskontrolle jedoch nicht geschwächt werden. Gleichzeitig sollen durch die Schaffung einer zentralen Anlaufstelle Investitionen rascher und kostengünstiger abgewickelt werden können. Tansania ist ausserdem bestrebt, seine Platzierung im Doing Business Report der Weltbank zu verbessern (derzeit Platz 141 von 190); letzteren hatte Alliance Sud kürzlich kritisiert, weil ein Land umso besser dasteht, je stärker es zu Lasten von Rechten der ArbeitnehmerInnen und von Umweltschutz dereguliert.
DorfbewohnerInnen in Sambia entschädigt
Im Hafen von Daressalam werden auch Rohstoffe aus den Nachbarländern umgeschlagen, angefangen bei Sambia, einem bedeutenden Kupferexportland. Von dort erreicht uns eine interessante Nachricht: Am 19. Januar erklärte sich der britische Bergbaugigant Vedanta bereit, 2’500 DorfbewohnerInnen zu entschädigen, nachdem der oberste Gerichtshof Grossbritanniens in einem wegweisenden Urteil entschieden hatte, dass diese aufgrund der von Vedantas indischer Tochtergesellschaft Konkola verursachten Umweltverschmutzung vor britische Gerichte ziehen können. Eine Möglichkeit, die in der Schweiz bei Annahme der Konzernverantwortungsinitiative ebenfalls geschaffen worden wäre.
Ist das nicht eine gute Nachricht? – «Aussergerichtliche Einigungen sind immer zwiespältig», sagt Rita Kesselring, Sozialanthropologin an der Universität Basel und Spezialistin für Bergbaufragen in Afrika: «Einerseits bringen sie eine willkommene Erleichterung für die KlägerInnen, in diesem Fall arme Familien, deren Lebensgrundlage durch die von der Konkola-Mine verursachten Schäden teilweise zerstört worden ist. Andererseits verhindern diese Vergleiche die Schaffung eines wichtigen gerichtlichen Präzedenzfalls in Bezug auf von Unternehmen verursachtes Unrecht.»
Mischung aus Verstaatlichung und Teilprivatisierung
Kürzlich hat die sambische Regierung die Mine «vorübergehend» geschlossen, mit der Begründung, Konkola habe sie nicht ordnungsgemäss betrieben (was auch die Sammelklage vor den britischen Gerichten belegt). Danach teilte sie das Unternehmen auf und verkaufte 49% der Schmelzhütte an einen Investor. «Was wir hier sehen, ist eine Art 'Verstaatlichung', begleitet von einer 'Teilprivatisierung'. Ähnliches geschah Mitte Januar mit der Mopani-Mine; in diesem Fall erwarb die Regierung die Mine jedoch mit einem Darlehen von Glencore. Die sambische Regierung strebt an, sich stärker an der Bergbauindustrie im Land zu beteiligen; die Beispiele Konkola und Mopani lassen erahnen, welche Form dies annehmen könnte. Es gibt einige interessante Parallelen zu Tansania», ergänzt Rita Kesselring.
Für die Wissenschaftlerin ist dies eine vielversprechende Entwicklung, deren Realisierbarkeit jedoch von einer Reihe von Faktoren abhängt, über die wir derzeit wenig wissen: Wer ist für die Beseitigung der Verschmutzung verantwortlich, die diese Minen in den letzten zwanzig Jahren verursacht haben? Sowohl Konkola als auch Mopani weisen eine sehr schlechte Bilanz auf, die im Fall von Mopani sogar von einem sambischen Gericht bestätigt worden ist.
Die Frage nach der sozialen Verantwortung der Unternehmen bleibt deshalb unbeantwortet.
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Es braucht ein neues Aussenwirtschaftsgesetz
21.06.2021, Handel und Investitionen
Während die Menschenrechtsverletzungen zunehmen, wie die Beispiele von China und Myanmar zeigen, verfügt die Schweiz über keinerlei Rechtsgrundlagen, um rasch gezielte wirtschaftliche Massnahmen zu ergreifen.

Xinjiang, die autonome Region der UigurInnen in China, wird immer mehr zu einem «Freilicht-Gefängnis»: Die Polizei ist überall, Beten und Bärte sind in der Öffentlichkeit weitgehend verboten.
© Johannes Eisele / AFP
In den letzten drei Jahren häufen sich die Berichte über die Existenz von Internierungslagern für Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang und die dort praktizierte Zwangsarbeit. Die Beweise lassen sich nicht mehr leugnen, weshalb westliche Länder nun reagieren: Im März verhängte die Europäische Union (EU) Sanktionen gegen chinesische Beamte und ein staatliches Unternehmen. Norwegen, das wie die Schweiz Mitglied der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) ist, hat sich den Sanktionen angeschlossen.
Grossbritannien verabschiedete bereits am 12. Januar neue Regeln, die den Import von Produkten verbieten, bei denen der Verdacht besteht, dass sie das Ergebnis von Zwangsarbeit in Xinjiang sind. Kanada zog am selben Tag nach und kündigte Importbeschränkungen für Produkte aus Xinjiang an. In immer längeren Wertschöpfungsketten, in denen die Herstellung eines Produkts nicht mehr von A bis Z an einem Ort erfolgt, sondern die Komponenten in allen Erdteilen gefertigt und montiert werden, kann der Nachweis, dass ein bestimmtes Teil aus Zwangsarbeit stammt, kaum oder gar nicht erbracht werden. Daher schloss sich die EU dem Ansatz an, sich auf begründete Verdachtsmomente abzustützen.
Lückenlose Rückverfolgbarkeit unmöglich
Die USA gehen sogar noch weiter: Mit dem «Uyghur Human Rights Policy Act» und dem «Uyghur Forced Labour Prevention Act» hat der US-Kongress den Import von in Xinjiang hergestellten Produkten faktisch ganz verboten. Angesichts der Beweise für massive Menschenrechtsverletzungen müssen nun die US-amerikanischen Unternehmen und andere Akteure nachweisen, dass die in die USA importierten Produkte nicht aus Zwangsarbeit stammen – und nicht umgekehrt.
Die Schweiz ihrerseits verfolgt einen äusserst konservativen Ansatz und tut genau das Gegenteil: In seiner Antwort auf die Motion von Ständerat Carlo Sommaruga, den Import von Waren, die durch Zwangsarbeit in Xinjiang hergestellt wurden, zu verbieten, verwies der Bundesrat auf die Schwierigkeit einer vollständigen Rückverfolgbarkeit: «Die Überprüfung der Produktionsbedingungen im Ausland und somit der Einhaltung des Verbots von Zwangsarbeit kann durch die Bundesverwaltung nicht gewährleistet werden. Sie verfügt nicht über die Mittel und Möglichkeiten, jedes eingeführte Produkt sowie seine einzelnen Komponenten lückenlos zurückzuverfolgen.»
Schweiz verweist auf fehlende Gesetzesgrundlage
Die Beispiele anderer Länder zeigen: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. In der Schweiz ist dieser Wille nicht vorhanden. Sie ist politisch nicht bereit, ihre wirtschaftlichen Interessen an der Achtung der Menschenrechte auszurichten, nicht einmal bei so eklatanten Verstössen wie jenen gegen die Uiguren, die von immer mehr Rechtswissenschaftlern und Parlamenten aus aller Welt als Völkermord eingestuft werden.
Die einzige konkrete Massnahme, die der Bundesrat ergriffen hat, besteht in der Organisation eines Runden Tischs mit Vertretern der in Xinjiang ansässigen Textilindustrie, «um sie über die Situation zu informieren». Ein analoges Vorgehen ist für die Maschinenindustrie geplant. Für Alliance Sud, Public Eye und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – die sich während der Verhandlung des Freihandelsabkommens der Schweiz mit China in der so genannten China-Plattform zusammengeschlossen und diese nach Bekanntwerden der Internierungslager wiederbelebt haben – reicht das nicht. Dieser Meinung ist auch die UNO; Ende März erinnerte sie die Schweiz und 12 weitere Länder an ihre Verpflichtung, «sicherzustellen, dass Unternehmen, die in ihrem Territorium oder ihrer Gerichtsbarkeit ansässig sind, bei all ihren Tätigkeiten die Menschenrechte respektieren». Eine Abmahnung, auf die unser Land wahrscheinlich gerne verzichtet hätte.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) begründet die Zurückhaltung der Schweiz mit dem Fehlen einer Gesetzesgrundlage. Der Bundesrat beschränkt sich darauf zu wiederholen, dass er von den einheimischen Unternehmen die Einhaltung einer Sorgfaltspflicht erwartet, verweigert sich aber weitergehenden Massnahmen.
Rahmenwerk soll auch das Zollrecht umfassen
Im Fall von Myanmar, wo der Militärputsch vom 1. Februar bereits mehr als 760 Tote gefordert hat, die Schweiz aber nur geringe wirtschaftliche Interessen hat, sieht es etwas besser aus. Dem Beispiel der EU und der USA folgend, hat die Schweiz Sanktionen gegen 11 hochrangige Militärs und gegen die beiden von ihnen kontrollierten Konglomerate verhängt: die Myanmar Economic Corporation (MEC), die hauptsächlich in den Bereichen Bergbau, Fertigung und Telekommunikation tätig ist, und die Myanmar Economic Holdings Limited (MEHL), die u. a. in den Bereichen Bankwesen, Bauwesen, Bergbau, Landwirtschaft, Tabak und Lebensmittelverarbeitung aktiv ist.
Was sollte angesichts dieser Untätigkeit respektive der variablen Geometrie der Ansätze getan werden? Die China-Plattform hat beim emeritierten Professor Thomas Cottier, einem Spezialisten für internationales Handelsrecht, ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Sein Vorschlag: Die Schweiz soll ein neues Aussenwirtschaftsgesetz verabschieden, das Wirtschaft und Menschenrechte miteinander verknüpft. Derzeit gilt das Bundesgesetz über aussenwirtschaftliche Massnahmen von 1982. Es besteht aber hauptsächlich aus technischen Verfahrensbestimmungen, beschränkt sich auf den Schutz der Schweizer Wirtschaft und macht keine inhaltlichen Vorgaben für die Politik.
«Ein neues Aussenwirtschaftsgesetz würde als Rahmenwerk fungieren, das auf bestehende Gesetze verweist, welche entsprechend angepasst und weiterentwickelt werden müssten. Dies gilt insbesondere für das Embargogesetz, das derzeit nur Massnahmen im Falle eines UN-Beschlusses oder Sanktionen der Haupthandelspartner, d. h. der EU oder der USA, erlaubt. Die Schweiz verfügt noch über keine Gesetzesgrundlage für eigenständige Wirtschaftssanktionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen. Inwieweit dies mit anderen Gesetzen vereinbar wäre, wäre noch im Detail zu prüfen», so Cottier.
Doch was wäre laut dem früheren Direktor des World Trade Institute der Mehrwert des neuen Gesetzes im Vergleich zu den bestehenden Gesetzen? «In der Schweiz gibt es bereits gesetzliche Grundlagen für Durchsetzungsmassnahmen bei Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsstraftaten: zum Beispiel das Embargogesetz, das Güterkontrollgesetz, das Kriegsmaterialgesetz, das Rechtshilfegesetz, das Gesetz über unrechtmässig erworbene Vermögenswerte (Potentatengeldergesetz) und das Strafgesetzbuch. In das neue Gesetz müsste aber das gesamte Aussenwirtschaftsrecht aufgenommen werden, also auch das Zollrecht und insbesondere das Bundesgesetz über die Gewährung von Zollpräferenzen zugunsten der Entwicklungsländer, das derzeit nicht an Bedingungen geknüpft ist. Die Bundesverwaltung müsste eine Auslegeordnung erstellen, die das bereits Vorhandene und die Lücken beziehungsweise den Ergänzungsbedarf sichtbar machen würde.»
Damit würden die Kohärenz und Transparenz der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik sichergestellt und eine angemessene Reaktion auf eklatante Menschenrechtsverletzungen ermöglicht, unabhängig davon, welche wirtschaftlichen Interessen auf dem Spiel stehen.
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Medienmitteilung
Kein Freipass für Freihandel mit China
27.09.2021, Handel und Investitionen
Mit 102 zu 84 Stimmen hat der Nationalrat heute eine Motion seiner aussenpolitischen Kommission (APK) abgelehnt, die den Menschenrechtsschutz im Freihandelsabkommen (FHA) mit China stärken wollte.

© Mades Nissen / Panos
Die Motion der APK verlangte vom Bundesrat, bei der beabsichtigten Aktualisierung des FHA mit China ein verbindliches Kapitel zur Einhaltung der Arbeits- und Menschenrechte vorzusehen. Damit reagiert die APK auf die sich diesbezüglich verschlechternde Situation im Reich der Mitte und besonders auf die erdrückende Evidenz von systematischer Zwangsarbeit, zu der namentlich die uigurische Gemeinschaft genötigt wird.
In seiner Antwort auf die Motion bezeichnet der Bundesrat die Verankerung solcher Bestimmungen im FHA als «nicht realistisch». Diese Einschätzung bestätigt ein Rechtsgutachten, das unsere NGO-Koalition letztes Jahr in Auftrag gegeben hat. Beides zeigt, dass punktuelle und isolierte Ansätze zur Stärkung der Menschenrechte zunehmend an politische Grenzen stossen. Notwendig ist deshalb ein grundlegender Wechsel in der Aussenwirtschaftspolitik der Schweiz auf der Basis eines soliden Gesetzes.
Dafür spricht auch der zunehmende parlamentarische Druck, die traditionelle Gewichtung zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschenrechten in der Schweizer Aussenpolitik zugunsten der letzteren zu verschieben. Die jüngste Motion verdeutlicht zudem den Wunsch im Parlament nach verstärkter Mitsprache in diesem Bereich. Denn «Aussenpolitik ist Innenpolitik», wie Aussenminister Cassis zu sagen pflegt.
Alliance Sud, die Gesellschaft für bedrohte Völker und Public Eye fordern Bundesrat und Parlament deshalb zur Ausarbeitung eines revidierten und umfassenden Aussenwirtschaftsgesetzes auf, um damit die notwendige Debatte zu demokratisieren und die aussenwirtschaftspolitische Transparenz und Kohärenz zu verbessern.
Kontakt:
Thomas Braunschweig, Public Eye, +4144 277 79 11, thomas.braunschweig@publiceye.ch
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Medienmitteilung
Corona: WTO muss endlich den Patentschutz aufheben
25.11.2021, Handel und Investitionen
Nächste Woche findet in Genf die WTO-Ministerkonferenz statt: Höchste Zeit, dass die Schweiz ihre destruktive Blockadehaltung, die seit über einem Jahr andauert, aufgibt und die Pharmahersteller ihr Wissen uneingeschränkt weitergeben.

© Tim Reckmann / pixelio.de
Die nächste Woche in Genf stattfindende WTO-Ministerkonferenz wird sich mit der vorübergehenden Aufhebung vom Urheberrechtsschutz in Zusammenhang mit Impfstoffen, Tests und Behandlungen gegen Covid-19 befassen. Höchste Zeit, dass die Schweiz ihre destruktive Blockadehaltung, die seit über einem Jahr andauert, aufgibt und die Pharmahersteller ihr Wissen uneingeschränkt weitergeben.
Nächste Woche spielt sich der weltweite Kampf gegen Covid-19 in Genf ab: Während die vierte Welle Europa fest im Griff hat, zeigt eine Studie der People's Vaccine Alliance, dass Pfizer, Moderna und BioNtech zusammen 65’000 US-Dollar pro Minute mit ihren mRNA-Impfstoffen verdienen, die notabene mit grosszügigen öffentlichen Geldern entwickelt wurden. Diese Profite sind umso skandalöser, als in reichen Ländern bereits eine dritte Impfstoffdosis verabreicht wird, während in Ländern mit niedrigem Einkommen gerade mal 2 Prozent der Bevölkerung die ersten beiden Dosen erhalten haben.
Im Fokus der am 30. November beginnenden WTO-Ministerkonferenz steht die von Indien und Südafrika im Oktober 2020 vorgeschlagene und von rund 100 Ländern unterstützte zeitlich begrenzte Aussetzung der Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums für Impfstoffe, Tests und Medikamente zur Bekämpfung von Covid-19 (der sog. «TRIPS-Waiver»). Während sich selbst die USA zumindest für eine Aufhebung der Patente auf Impfstoffe ausgesprochen haben, wehrt sich die Schweiz als eines der letzten Länder weiter vehement dagegen.
Auch die Haltung der USA ist aber ungenügend, denn während sich die politische Aufmerksamkeit derzeit auf Impfstoffe konzentriert, zeichnet sich das Szenario des unfairen Zugangs auch für die Behandlung von Covid-19 ab. Weil teuer, patentiert und in unzureichenden Mengen produziert, werden diese von den wohlhabenden Ländern beschlagnahmt. Die aktuellen Beispiele des Entzündungshemmers Actemra von Roche und des antiviralen Medikaments Molnupiravir von Merck, die wegen restriktiver Handelslizenzen in Schwellenländern derzeit kaum verfügbar sind, zeigen einmal mehr die Notwendigkeit des TRIPS-Waivers. Auch der Zugang zu diagnostischen Tests bleibt ungleich verteilt, was die weltweite Bekämpfung der Pandemie weiter verzögert.
Es ist ebenso bezeichnend wie skandalös, dass die Schweiz als Sitzstaat von Pharmakonzernen und deren wichtigstem Dachverband, der International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations (IFPMA), die TRIPS-Ausnahmeregelung blockiert und so die Interessen ihrer Industrie über das Menschenrecht auf Gesundheit stellt. Der Widerstand unseres Landes könnte die Ministerkonferenz zum Scheitern und Milliarden von Menschen um die medizinischen Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 bringen. Deshalb muss die Schweiz die Ausnahmeregelung vom TRIPS-Abkommen endlich akzeptieren und Big Pharma ihre Technologien für die Herstellung von Impfstoffen, Tests und Medikamenten gegen Covid-19 freigeben.
Kontakte:
Isolda Agazzi, Fachverantwortliche «Handel und Investitionen» Alliance Sud, isolda.agazzi@alliancesud.ch; M +41 79 434 45 60
Patrick Durisch, Experte für Gesundheitspolitik, Public Eye, patrick.durisch@publiceye.ch, M +41 21 620 03 06
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WTO: Die Schweiz kann aufatmen − für den Moment
29.11.2021, Handel und Investitionen
Obwohl die WTO-Ministerkonferenz auf unbestimmte Zeit vertagt wurde, ist die Schweiz mit ihrem Widerstand gegen die Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-Impfstoffe zunehmend isoliert. Der WTO-Generalrat könnte und sollte rasch entscheiden.

Sitz der WTO in Genf
© Isolda Agazzi
Der Beschluss fiel am Freitag kurz vor Mitternacht: Die Welthandelsorganisation (WTO) sagte die für den 30. November bis 3. Dezember in Genf geplante Ministerkonferenz kurzfristig ab und verschob sie auf unbestimmte Zeit. Grund dafür sind die Flugeinschränkungen aus dem südlichen Afrika, die von der Schweiz und der Europäischen Union nach dem Auftreten der neuen Omicron-Variante des Coronavirus verhängt wurden. Es wäre undenkbar gewesen, ein derart wichtiges Treffen ohne die Teilnahme verschiedener MinisterInnen vor Ort abzuhalten; und von der ersten afrikanischen Generaldirektorin der Organisation, Ngozi Okonjo-Iweala, hätte man nichts anderes erwartet.
Zwar kann die Schweiz für den Moment aufatmen: Von allen Seiten wurde Druck auf sie ausgeübt, damit sie der von Indien und Südafrika geforderten vorübergehenden Aufhebung von Patenten und anderen Elementen des Schutzes geistigen Eigentums auf Impfstoffe, Medikamente und Antikörpertests endlich zustimmt (TRIPS-Ausnahmeregelung). Dieser Vorschlag wird von rund 100 Ländern und teilweise sogar von den USA unterstützt, die zumindest der Aufhebung des Schutzes des geistigen Eigentums bei Impfstoffen zugestimmt haben.
Die Schweiz ist neben der Europäischen Union und Grossbritannien eines der wenigen Länder, die sich weiterhin dagegen wehren. Doch das Europäische Parlament hat am 25. November eine Resolution zugunsten der Ausnahmeregelung verabschiedet, die die zukünftigen Entscheidungen der Europäischen Kommission beeinflussen könnte.
Der WTO-Generalrat soll entscheiden
Was wird jetzt passieren? Technisch gesehen ist für eine TRIPS-Ausnahmeregelung eine Ministerkonferenz gar nicht erforderlich: Sie kann vom Generalrat der WTO genehmigt werden, wie es in der Vergangenheit schon oft gemacht wurde. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Ministerkonferenz dem Thema mehr Sichtbarkeit verliehen hätte. In Genf und anderen Städten sind Demonstrationen geplant, NGOs wie Alliance Sud haben mobilisiert und die Medien auf der ganzen Welt interessieren sich für das Thema.
Die Konferenz wäre natürlich kein Spaziergang gewesen; niemand konnte den Ausgang vorhersehen, aber die Unnachgiebigkeit der Schweiz und einiger anderer Länder drohte sie zum Scheitern zu bringen, da in der WTO Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Die Arbeit an der Ausnahmeregelung sollte daher im TRIPS-Ausschuss fortgesetzt werden, wo die Schweiz zunehmend isoliert ist: Innerhalb der Europäischen Union führte bisher Deutschland die Ablehnungsfront an, aber die neue Mitte-Links-Regierung könnte diese Position ändern.
Paradoxerweise hat die neue Omicron-Variante wieder einmal gezeigt, dass niemand vor dem Virus sicher sein kann, solange nicht die ganze Welt die Corona-Krise überwunden hat. Daher ist es dringender denn je, die Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Tests und Medikamente in den Entwicklungsländern zu erhöhen. Dies geschieht auch durch die Aufhebung von Patenten und den Transfer von Technologie und Know-how durch die Pharmaunternehmen. Es bleibt zu hoffen, dass dies noch vor der nächsten Ministerkonferenz, deren neuer Termin noch nicht feststeht, geschieht. Andernfalls könnte es zu spät sein, um das Virus, das die Welt seit zwei Jahren im Griff hat, endlich einzudämmen.
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