Artikel teilen

global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.
Aufrüstung statt Entwicklung
30.09.2025, Entwicklungsfinanzierung
Statt langfristiger Planung und Investitionen in Nachhaltigkeit wird aufgerüstet – und zwar massiv. Was bedeutet das für die Armutsbekämpfung, die Klimafinanzierung und die nachhaltige Entwicklung ganz allgemein? Eine Auslegeordnung.
Mit Waffen Frieden schaffen? An der Rüstungsmesse Eurosatory enthüllt Rheinmetall-Sprecher Philipp Freiherr von Brandenstein einen neuen Panzer. © Keystone/laif/Meinrad Schade
Der Krieg in der Ukraine hat das Sicherheitsempfinden in Europa und auch in der Schweiz massiv beeinträchtigt – eine Invasion Russlands in Europa scheint möglich. Während die NATO bis vor kurzem auf die grosse Schutzmacht Amerika zählen konnte, bröckelt diese Sicherheit seit dem Amtsantritt von Donald Trump im Weissen Haus immer mehr. Im Jahr 2014, nach Russlands Einmarsch in die Krim, beschlossen die NATO-Staaten, ihre Militärausgaben auf 2% des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu erhöhen. 2024 hatten 23 der 32 NATO-Mitgliedsstaaten dieses Ziel erreicht (die gesamten NATO-Militärausgaben beliefen sich auf 1,47 Billionen Dollar, wovon fast zwei Drittel auf die USA entfielen). Nun kündigte die NATO im Juni dieses Jahres an, ihre Militärausgaben bis 2035 auf 5% des BIP zu erhöhen, was mehr als einer Verdoppelung entspricht. Doch woher soll dieses Geld kommen, und kann die globale Aufrüstung wirklich Frieden garantieren?
Sollte das 5%-Ziel tatsächlich bis 2035 erreicht werden, stellt sich die Frage, wie diese massiven Mehrausgaben finanziert werden sollen. Die meisten NATO-Mitglieder haben aktuell eine relativ hohe Staatsverschuldung: Während die Vereinigten Staaten eine Schuldenquote von etwa 120% ihres BIP aufweisen, liegt die durchschnittliche Schuldenquote in der EU bei 81,5% des BIP. Mehrere Länder (unter anderem die USA, Frankreich und Italien) sahen sich in den letzten Jahren diesbezüglich bereits mit einer Herabstufung ihrer Kreditwürdigkeit durch einzelne Ratingagenturen konfrontiert.
Während die Militärausgaben aufgestockt werden, zeichnen sich in mehreren Ländern Kürzungen in anderen Bereichen, unter anderem bei der sozialen Sicherheit, beim Klimaschutz und der internationalen Zusammenarbeit, ab. Im Zeitraum 2022-2023 haben 15 Mitglieder des OECD Entwicklungsausschusses (OECD-DAC) bei den Entwicklungsgeldern gekürzt, grösstenteils bei gleichzeitiger Aufstockung des Militärbudgets. Von 2024 bis Mitte 2025 haben zusätzlich acht DAC-Mitgliedsländer beschlossen, ihre Entwicklungsausgaben zu reduzieren, teilweise mit der Begründung, so die steigenden Militärausgaben finanzieren zu wollen. Erste Schätzungen der OECD gehen davon aus, dass die öffentlichen Entwicklungsausgaben 2025 um bis zu 17% einbrechen könnten und dass sich dieser Trend auch in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Das international vereinbarte Ziel, 0.7% des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, rückt somit in immer weitere Ferne (2024 sank der OECD-Durchschnitt auf 0,33%, ohne die Anrechnung von Asylkosten im Inland auf schlappe 0,29% des BNE).
Gleichzeitig zerstört die Klimakrise weltweit Lebensgrundlagen, und auch Europa und die USA werden immer öfter von Extremwetterereignissen heimgesucht. Für die Bekämpfung und die Anpassung an den Klimawandel werden Milliarden benötigt. Zudem sind weltweit etwa 123,2 Millionen Menschen auf der Flucht, 673 Millionen Menschen hungern und etwa 305 Millionen Menschen sind dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen – die Bedürfnisse wachsen, während die zur Verfügung stehenden Gelder schrumpfen. Auch im Westen können sich immer mehr Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren und haben ihr Vertrauen in die Politik verloren, was zu einem Aufstieg extremistischer, populistischer und illiberaler Politiker:innen führt.
Während der politische Wille für die Aufrüstung klar gegeben ist, sinken die Skrupel, die Aufstockung der Armee zumindest zum Teil auf Kosten der sozialen Sicherheit, der Armutsbekämpfung oder des Klimaschutzes zu stemmen.
Auch in der Schweiz geht der Trend in eine ähnliche Richtung. Ende 2024 beschloss das Parlament, die Militärausgaben von 2025 bis 2028 um 4 Milliarden Franken zu erhöhen, um so bis 2032 die Ausgaben auf 1% des BIP zu steigern (von aktuell 0,7%). Gleichzeitig wurden Kürzungen bei der internationalen Zusammenarbeit im Umfang von 110 Millionen Franken für das Jahr 2025 und 321 Millionen Franken für den Zeitraum 2026-28 beschlossen. Und die Spardebatte ist noch nicht beendet: Weitere Sparmassnahmen in verschiedenen sozialen Bereichen und beim Klimaschutz werden diesen Herbst im Rahmen des sogenannten Entlastungspakets 2027 diskutiert.
Während sich in der Schweiz auch die Frage der Sinnhaftigkeit einer rapiden Aufrüstung diskutieren lässt (zumal sie von NATO-Staaten umgeben ist und im aktuellen Kontext ein Cyberangriff um einiges wahrscheinlicher ist als ein Luftangriff), hat sie im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn kein Schuldenproblem. Ihre aktuelle Schuldenquote von 17,2% ist im internationalen Vergleich geradezu lächerlich tief, Sparmassnahmen in dem Sinne absolut unnötig. Sogar Deutschland mit einer deutlich höheren Schuldenquote von 62,5% hat kürzlich beschlossen, seine weit weniger rigorose Schuldenbremse zu lockern, um die steigenden Militärausgaben ausserordentlich zu verbuchen und gleichzeitig ein 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz zu schaffen. Die Schweiz hätte also einen grossen Spielraum, um sowohl in die Aufrüstung wie auch in eine starke internationale Zusammenarbeit, soziale Sicherheit und Klimaschutz zu investieren. Was fehlt, ist der politische Wille.
Die Welt rüstet also auf – und zwar massiv. Das schwedische Forschungsinstitut SIPRI sieht darin eine klare Trendwende – weg von einem seit dem Ende des Kalten Krieges dominierenden Sicherheitsverständnis, das auf Rüstungskontrolle, vertrauensbildenden Massnahmen und Transparenz beruhte, hin zu einem Sicherheitsverständnis, das auf militärischer Stärke und Abschreckung basiert. Gemäss SIPRI mag die massive Aufrüstung zwar abschreckend auf potenzielle Aggressoren wirken, birgt jedoch das Risiko, ein Wettrüsten zu beschleunigen sowie Bemühungen um Dialog, vertrauensbildende Massnahmen und mögliche neue Rüstungskontrollabkommen1 zu untergraben. Verschiedene Stimmen warnen zudem vor hohen Risiken für Beschaffungsineffizienzen, überhöhten Preisen, Missbrauch sowie dem Umgehen von Kontrollmechanismen. Wie sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt hat, hat die Schweiz damit ja bereits grosse Erfahrung.
Die Aufrüstung Europas und der Schweiz mag angesichts der aktuellen Bedrohungslage sinnvoll erscheinen, doch was passiert mittel- bis langfristig mit all den Waffen, die nun neu produziert werden (ganz abgesehen davon, dass die Waffenindustrie stark abhängig ist von der fossilen Industrie, welche nun wieder erstarkt)? Wie wird unsere Welt in zehn Jahren aussehen, wenn Klimaschutz, soziale Sicherheit und internationale Zusammenarbeit rapide abgebaut werden, um die Militarisierung voranzutreiben?
Noch scheint es nicht zu spät, in ein umfassendes, ganzheitliches Sicherheitsverständnis zu investieren, indem die militärische Sicherheit nicht gegen die soziale Sicherheit, die internationale Zusammenarbeit oder die internationale Klimafinanzierung ausgespielt, sondern als gleichwertiger Eckpfeiler einer umfassenden, langfristigen Sicherheitspolitik angesehen wird.
Verschiedene Sicherheits-Expert:innen hinterfragen die Logik einer raschen Aufrüstung und argumentieren, dass es vielmehr eine bessere inter-europäische Koordination und Zusammenarbeit braucht. Dies bekräftigte auch Spaniens Ministerpräsident Sanchez, welcher das 5%-Ziel der NATO explizit abgelehnt hat, mit der Begründung, dass dies unvernünftig und kontraproduktiv sei. Er machte klar, dass Spanien nicht bereit sei, bei der Wohlfahrt, der internationalen Zusammenarbeit oder der Energietransition zu sparen, um überhastet Fertigausrüstung aus dem Ausland zu beziehen und so die Probleme der Abhängigkeit von den USA und der Interoperabilität der europäischen Ausrüstungsbasis noch zu verschärfen.
Gleichzeitig sollte innenpolitisch alles daran gesetzt werden, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik wiederherzustellen. Investitionen in die Altersvorsorge, die soziale Absicherung, die Krankenversorgung gehören hier ebenso dazu wie Investitionen in die Energiewende und den Umweltschutz. Aussenpolitisch sollte das Engagement für Multilateralismus, Diplomatie, Klimafinanzierung und internationale Zusammenarbeit ausgebaut werden, denn nur durch Zusammenarbeit, Dialog und die Einhaltung internationaler Verpflichtungen zum Gemeinwohl kann Sicherheit langfristig garantiert werden. Spanien zeigt, dass es möglich ist Sicherheitspolitik breiter zu denken und nicht gegeneinander auszuspielen. Die Schweiz als reiches und kaum verschuldetes Land könnte es sich leisten, hier mitzuziehen und eine Vorreiterrolle einzunehmen.
1 START – das letzte verbleibende Rüstungskontrollabkommen zur Begrenzung strategischer Nuklearstreitkräfte zwischen Russland und den USA – läuft 2026 aus; aktuell scheinen weder Russland noch die USA an einer Verlängerung des Abkommens interessiert zu sein. Zudem haben 2024 nahezu alle neun Atomwaffenstaaten ihre intensiven Programme zur nuklearen Modernisierung fortgesetzt.
Artikel teilen
global
Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.