Hinter den Schlagzeilen: Israel - Palästina

Die Welten hinter der Mauer

16.12.2025, Internationale Zusammenarbeit

Nach zwei Jahren Krieg in Gaza besteht seit einigen Wochen Hoffnung auf Frieden. Doch was bedeutet Frieden in einer Welt, die polarisierter ist denn je? Von Karin Wenger

Die Welten hinter der Mauer

 Die Grenzmauer zwischen Israel und dem palästinensischen Abu Dis im Oktober 2014. Dahinter erhebt sich Jerusalems Altstadt mit dem Felsendom.  © REUTERS/Finbarr O'Reilly

Die Mauer um das Westjordanland war fast fertig gebaut, als ich 2003 zum ersten Mal nach Israel und in die besetzen palästinensischen Gebiete reiste. Wie eine graue, meterhohe Schlange wand sich das Betongebilde bereits tief ins Westjordanland hinein, trennte palästinensische Bauern und Bäuerinnen von ihrem Land und Familien von ihren Angehörigen. Ein Jahr später studierte ich ein Semester lang an der Universität Birseit in der Nähe von Ramallah. Die Mauer hatte die dünne Lebenslinie, die zwischen den besetzten Gebieten und Israel bislang noch bestanden hatte, vollends durchtrennt. Nun sprachen meine palästinensischen Freunde nur noch von Soldat:innen, Siedler:innen und Besetzer:innen und meine israelischen Freunde von Terroristen, wenn sie von den Menschen auf der anderen Seite der Mauer erzählten. Es gab nur noch die «anderen», die Feinde. Die Menschen, die sich hinter diesen Rollen befanden, waren verloren gegangen und damit jedes Mitgefühl.

Dank meinem Schweizer Pass, liessen mich die Soldat:innen durch die Checkpoints und ich ging zwischen Israel und den besetzten Gebieten hin und her. Doch als Wandlerin und Übersetzerin zwischen diesen Welten wurde ich von beiden Seiten beargwöhnt. Viele Israelis sahen in mir die «Palästina-Liebhaberin», die «Terroristen-Versteherin», viele Palästinenser:innen verdächtigten mich, israelische Spionin zu sein.

Das war auch so, als ich nach meinem Studium als freie Journalistin in Gaza lebte. Schon damals war der Gazastreifen ein Freiluftgefängnis, hermetisch abgeriegelt, voller junger, hoffnungsloser Männer und Frauen, die sagten: «Morgen gehe ich an den Grenzzaun und sprenge mich in die Luft, dann bleibe ich zumindest als Märtyrer in Erinnerung.» Wenn die israelischen Granaten einschlugen, fuhr ich mit Taxi oder Eselkarren zu den zerstörten Häusern, schaute durch die offen gebombten Wände auf die Puppen, die staubig am Boden lagen, aber überlebt hatten – anders als viele der Bewohnenden. Wer überlebte, erzählte mir seine Geschichte, die ich aufschrieb. Dann rief ich den Pressesprecher der israelischen Armee an, der meist sagte: «Wir waren das nicht.» Das erste Opfer im Krieg ist bekanntlich die Wahrheit. Deshalb wollte ich vor Ort sein, um Zeugnis abzulegen.

Surfen, um den Krieg zu vergessen

Als ich von 2009 bis 2016 als SRF-Radiokorrespondentin in Asien lebte und arbeitete, verschwanden meine Berührungspunkte mit dem Nahostkonflikt. Erst dieses Jahr wurde ich unerwartet zurückgeworfen in den Krieg; dabei war ich nicht einmal im Nahen Osten, sondern ankerte mit unserem Segelboot in Panama. Dort, an einem kleinen Strand an der Pazifikküste, stiess ich auf israelische Soldat:innen, die nach ihrem Einsatz in Gaza in Panama surften und den Krieg zu vergessen versuchten. Doch der Krieg war mitgereist und liess sich nicht abwaschen. Äusserlich sahen diese braungebrannten jungen Männer und Frauen kräftig und gesund aus. Erst wenn sie zu erzählen begannen, zeigte sich, welch tiefe Spuren der Krieg auch in ihren Seelen hinterlassen hatte. Alle wurden von Albträumen verfolgt, in denen sie entweder töteten oder getötet wurden.

Zehntausende von Soldat:innen leiden laut den israelischen Streitkräften seit Kriegsbeginn an Angstzuständen, Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung. Auch sie sehen sich als Opfer in diesem Krieg, der keine Gewinner hat. Wenn ich mit ihnen über die apokalyptische Zerstörung im Gazastreifen sprach, die Zehntausenden von Toten, dann sprachen sie von ihrem eigenen Leid, unfähig, Mitgefühl für «die anderen» auszudrücken. Und doch sagte Guy, ein 24-jähriger Israeli, der in einer Spezialeinheit in Gaza gedient hatte, etwas Bemerkenswertes: «Wenn ich in Gaza aufgewachsen wäre, wäre ich auch ein Hamas-Terrorist geworden; der beste Hamas-Terrorist, den du finden könntest. Sie und ich sind einfach an anderen Orten aufgewachsen. Ich wünschte, wir könnten in Frieden leben.» Guy hatte verstanden, dass nicht «die anderen», die Menschen hinter der Mauer das Problem sind, sondern das System der Trennung, die Lebenswelt, in der wir uns bewegen und die uns prägt. Dabei frage ich mich, wieso genau in diesem Konflikt alle erwarten, dass man sich für die eine oder andere Seite entscheidet. Ist nicht genau das das Problem, dass wir aufgehört haben, das Verbindende zu suchen und nur noch auf das Trennende fokussieren und so jede Annäherung verunmöglichen? Als Journalistin sehe ich dies als meine Aufgabe: genau hinschauen, hinter die Mauern blicken, um dann durch meine Reportagen als Vermittlerin zwischen getrennten Welten zu agieren.

Das wollte ich auch, als ich im Oktober eine Einladung annahm, um an einer Palästina-Veranstaltung in Zürich zu sprechen. Ich sollte über mein Buch «Checkpoint Huwara – Israelische Elitesoldaten und palästinensische Widerstandskämpfer brechen das Schweigen», das ich nach meiner Zeit im Nahen Osten geschrieben hatte, sprechen. Darin hatte ich den Menschen, die sich hinter den Soldat:innen und Kämpfer:innen verbergen, eine Stimme gegeben. Ich wollte aber auch über meine Begegnungen mit den Soldat:innen am Strand in Panama sprechen, um eine kleine Brücke zu «den anderen» zu bauen. Doch diese Brücke liess sich nicht bauen. «Wir wollen keine Bilder von Kriegsverbrechen sehen!», «Diesen Leuten darf man keine Stimme geben!», «Die Palästinenser sind die Opfer, nicht die Israelis!», «Ihr Journalisten sprecht sowieso nur über eine Seite!» riefen einige wütend durch den Saal, als ich die Bilder der Soldat:innen am Strand zeigte und ihre Geschichten zu erzählen begann. Einige verliessen den Saal und jene, die die Geschichten beider Seiten hören wollten, blieben sitzen und schwiegen.

An diesem Abend in Zürich merkte ich, dass die Mauer, vor der ich vor über zwanzig Jahren in den besetzten Gebieten gestanden hatte, längst auch in den Köpfen der Menschen gefestigt ist. Der Nahost-Konflikt hat schon immer polarisiert, heute jedoch gilt man bereits als Verräter:in, Nestbeschmutzer:in, Feind:in, wenn man versucht, «die anderen» zu sehen und zu hören. Als ich die Veranstaltung in Zürich verliess, fragte ich mich deshalb, ob wir als Journalist:innen diese Vermittlungsrolle überhaupt noch leisten können, wenn nur noch wenige hinhören und hinsehen wollen. Ich frage mich, was es für den Dialog in Israel und Palästina bedeutet, wenn wir nicht einmal mehr in der reichen, sicheren Schweiz beide Seiten anhören können und wollen. Was bedeutet das für den Frieden? Was braucht es, trotz Gewalt menschlich zu bleiben und Mauern zu durchdringen statt zu verstärken?

 

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Karin Wenger war von 2009 bis 2022 Süd- und Südostasien-Korrespondentin von Radio SRF mit Sitz in Neu Delhi und Bangkok. Im Frühling 2022 hat sie drei Bücher über ihre Zeit in Asien veröffentlicht. Seit August 2022 segelt sie mit ihrem Partner durch die Karibik und schreibt über vergessene Themen und Weltgegenden.

Mehr Informationen finden Sie unter www.karinwenger.ch oder www.sailingmabul.com

© Karin Wenger

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