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Die Büchse der Pandora ist geöffnet

21.03.2024, Entwicklungsfinanzierung

Der Entwicklungsausschuss der OECD hat eine in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtete Entscheidung gefällt und spielt dabei mit dem Feuer: Er hat die Anrechnung von Privatsektorinstrumenten an die Entwicklungsfinanzierung gelockert, was weitreichende Folgen für die ärmsten Länder im Globalen Süden haben kann.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Die Büchse der Pandora ist geöffnet

© Christina Baeriswyl

Seit es die Entwicklungsfinanzierung gibt, drehen sich die Diskussionen darum, wie sie gemessen werden soll. Während Geberländer daran interessiert sind, möglichst grosszügig dazustehen, geht es den Ländern des Globalen Südens insbesondere darum, dass ein möglichst grosser Anteil der Gelder da ankommt, wo sie am dringendsten benötigt werden. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die aktuelle Debatte um die Anrechnung öffentlicher Beiträge für Kredite und Investitionen in Unternehmen im Globalen Süden.

Im Februar 2016 einigten sich die Mitglieder des Entwicklungsausschusses (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Rahmen der «Modernisierung» der Definition der öffentlichen Entwicklungshilfe (aide publique au développement, APD) zum ersten Mal auf Anrechnungskriterien für «Privatsektorinstrumente» (Private Sector Instruments / PSI). Diese Instrumente umfassen öffentlich finanzierte Kredite an Unternehmen, Investitionen in Form von Kapitalbeteiligungen, Mezzanine-Finanzierungen1 und Garantien.

Die Mitglieder des DAC konnten sich jedoch nicht darauf einigen, wie die Privatsektorinstrumente in die APD einbezogen werden sollen, ohne die geltenden Grundsätze zu unterlaufen. Daraufhin wurden 2018 vorläufige Berichterstattungsrichtlinien verabschiedet, anhand derer PSI angerechnet werden können. Da die PSI nur 2-3% der gesamten APD ausmachen, wurde diese provisorische Lösung als akzeptabel erachtet, bis sich das DAC auf eine dauerhaftere Lösung einigen würde. Im Oktober 2023 kam diese Einigung zustande. Damit wurden weitreichende Folgen für die Entwicklungsfinanzierung eingeleitet.

Das Problem der Zusätzlichkeit

Seit der Einführung der APD in den 60er Jahren war einer ihrer zentralen Grundsätze die Konzessionalität (Vergünstigung). Entsprechend bestehen Entwicklungsgelder aus reinen Zuwendungen (grants) oder Krediten zu Vorzugsbedingungen. Mit dem Entscheid vom Oktober 2023 hat der Entwicklungsausschuss der OECD den Grundsatz der Konzessionalität über Bord geworfen und damit die APD neu definiert. Gemäss den neuen Regeln muss bei der Anrechnung der PSI ausgewiesen werden, inwiefern diese Gelder einen finanziellen oder inhaltlichen Mehrwert sowie einen entwicklungspolitischen Mehrwert leisten (siehe «Die drei Definitionen der Zusätzlichkeit»). Entsprechend wird von den DAC-Ländern erwartet, dass sie bei der Anrechnung der Privatsektorinstrumente Rechenschaft darüber ablegen, welche Form der Zusätzlichkeit zutrifft.

Der DAC selbst bedauert, dass die bislang übermittelten Daten uneinheitlich und die vorgelegten Berichte über die Zusätzlichkeit «unvollständig und nicht überzeugend» waren. Eine seriöse Berichterstattung über die Zusätzlichkeit ist jedoch entscheidend, um sicherzustellen, dass die DAC-Länder die begrenzten öffentlichen Entwicklungsgelder dort einsetzen, wo der Bedarf am grössten ist und die Wirkung am stärksten sein kann.

 

Die drei Definitionen der Zusätzlichkeit

Damit Privatsektorinstrumente der APD angerechnet werden können, müssen sie entweder einen finanziellen oder inhaltlichen sowie einen entwicklungspolitischen Mehrwert aufweisen:

  1. Ein Privatsektorinstrument erfüllt eine «finanzielle Zusätzlichkeit», wenn es Partnern aus dem Privatsektor (z. B. ein lokales Unternehmen) nicht möglich ist, auf den (lokalen oder internationalen) Kapitalmärkten zu den erforderlichen Bedingungen und/oder im erforderlichen Umfang eine Finanzierung für ihr Vorhaben zu erhalten; oder wenn die Aktivität Mittel aus dem Privatsektor mobilisiert, die sonst nicht investiert worden wären.
  2. Ein «inhaltlicher Mehrwert» liegt vor, wenn der öffentliche Sektor zusätzlich zu seiner Investition einen nicht-finanziellen Mehrwert für die Partner aus dem Privatsektor bereitstellt, den die Kapitalmärkte nicht bieten würden und der zu besseren Entwicklungsergebnissen führen soll. Dieser Mehrwert wird häufig durch die Konditionalität von Investitionen (z. B. Auferlegen von ESG/Environmental, Social, Governance-Kriterien), aktive Beteiligung (z. B. Einsitz im Verwaltungsrat), Aktivitäten zum Aufbau von Kapazitäten, Beratungsleistungen sowie andere Formen der technischen Hilfe angestrebt.
  3. Schliesslich liegt ein «entwicklungspolitischer Mehrwert» vor, wenn das Projekt darauf abzielt, eine Entwicklungswirkung zu erzielen, die ohne die Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor nicht eingetreten wäre.

 

Ohne klar nachvollziehbare und transparente Informationen zur Zusätzlichkeit besteht das Risiko, dass die APD durch kreative Buchführungspraktiken künstlich in die Höhe getrieben und damit die Definition von «Entwicklungshilfe» immer mehr verwässert wird. Immerhin werden ab 2026 die Informationen über die Zusätzlichkeit der PSI vom DAC speziell überprüft, «um die Integrität der APD zu fördern». Es ist zu hoffen, dass diese Überprüfungen mehr Licht ins Dunkel bringen.

SIFEM und Co.

Gemäss einer Studie des NGO-Netzwerks Eurodad wurde zwischen 2018 und 2021 ein Gesamtvolumen von 20.6 Milliarden US-Dollar als PSI deklariert, was einem Anteil von 3% an der gesamten APD entspricht. Vier der wichtigsten europäischen Geber (Grossbritannien, EU, Deutschland und Frankreich) stellen allein 80% der gesamten PSI zur Verfügung. Die Schweiz folgt weiter hinten auf dem 11. Platz mit 0.7% der gesamten PSI.

85% des Gesamtvolumens der PSI werden über Entwicklungsfinanzierungsinstitutionen (Development Finance Institutions / DFI) weitergeleitet, darunter ist in der Schweiz die Swiss Investment Fund for Emerging Markets (SIFEM). Die Entwicklungsfinanzierungsinstitutionen der vier grössten europäischen Geber – British International Investment (BII) in Grossbritannien, die Europäische Investitionsbank (EIB/EU), die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) sowie Proparco in Frankreich – machen 91% der als PSI gemeldeten Beiträge dieser DAC-Mitglieder aus. Einige dieser DFI haben ihr Portfolio innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt, und es ist zu erwarten, dass dieses Finanzvolumen in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird.

 

Verteilung der PSI auf die Länder nach Einkommensgruppen

 

Diese Entwicklungsfinanzierungsgesellschaften haben ein Renditemandat und investieren daher vorzugsweise in Ländern und Regionen, die ein geringeres Risikoprofil aufweisen und sicherere Gewinnchancen bieten. Wie die Abbildung oben zeigt, wurde zwischen 2018 und 2021 der überwiegende Teil der PSI in Ländern mit mittlerem Einkommen im oberen Bereich (UMICs) investiert (59 Prozent), gefolgt von Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen (LMICs) (37 Prozent). Lediglich 4 Prozent der PSI gingen an die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs). Dies zeigt, dass die Entwicklungsgelder, die über PSI abgewickelt werden, kaum diejenigen Länder erreichen, die sie am dringendsten benötigen würden.

Die Schweiz rechnet der APD jährlich rund CHF 35 Mio. als PSI an. Diese umfassen die Kapitalzahlungen an die SIFEM im Rahmen von ungefähr CHF 30 Mio., zu denen noch andere Instrumente (weniger als CHF 5 Mio.) hinzukommen. Die SIFEM ist auf die langfristige Finanzierung von KMUs und anderen «schnell wachsenden» Unternehmen spezialisiert, mit dem Ziel, das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern.

 

Mobilisierte Gelder des Privatsektors

Die Privatsektorinstrumente müssen von den «mobilisierten Geldern des Privatsektors» unterschieden werden. Letztere umfassen alle privaten Mittel, die durch öffentliche Entwicklungsfinanzierungsmassnahmen angestossen werden; sie sind nicht Bestandteil der APD. Die mobilisierten Mittel können aber der breiter gefassten Kennzahl der Entwicklungsfinanzierung – dem total official support for sustainable development (TOSSD) – angerechnet werden.

 

Im kürzlich erschienenen Bericht über die Transparenz der dreissig grössten Entwicklungsfinanzierungsinstitutionen – welche notabene ein Gesamtvermögen von 2000 Milliarden US-Dollar verwalten – wurde die SIFEM ganz unten platziert. Ende 2022 verfügte diese über ein Investitionsportfolio von USD 451 Millionen, das fast vollständig in Ländern mittleren Einkommens (MICs) investiert wurde. Genauer gesagt wurden 62% in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen (LMIC) und 34% in Ländern mit hohem mittlerem Einkommen (UMIC) investiert. Auf Länder mit niedrigem Einkommen (LDC, z. B. Äthiopien und Malawi) entfielen nur 3% des Investitionsportfolios. Gleichzeitig wurden nur 42% des Portfolios in den Schwerpunktländern der internationalen Zusammenarbeit (IZA) der Schweiz investiert.

Privatsektorinstrumente für wen?

Wir befinden uns in einer kritischen Zeit. Kriege, die Nachwehen der Corona-Pandemie und die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels drängen Millionen von Menschen in die Armut. Gleichzeitig nehmen die Mittelzuwendungen ab oder bleiben bestenfalls gleich hoch. Es drängt sich also die Frage auf, ob der Ausbau der Privatsektorinstrumente, die mehrheitlich Ländern mittleren Einkommens dienen, der richtige Weg für die internationale Zusammenarbeit der Schweiz ist. Für eine abschliessende Beurteilung der Wirksamkeit dieser Instrumente ist die aktuelle Datengrundlage nicht ausreichend. Aufgrund der geographischen Verteilung ist aber zu bezweifeln, dass sie einen Beitrag zum verfassungsmässigen Auftrag der IZA leisten – nämlich die Überwindung von Armut und Not für die ärmsten Länder, Regionen und Bevölkerungsgruppen. Deshalb sollten sie auch in Zukunft keinen zentralen Platz in der IZA einnehmen. Weitaus relevanter ist es aber sicherzustellen, dass die wichtigste Messgrösse der Entwicklungsfinanzierung – die APD – im Zuge des Modernisierungsprozesses nicht weiter verwässert und die Büchse der Pandora wieder geschlossen wird.

 

 

1 Mezzanine-Finanzierung wird von der OECD definiert als «Instrumente, die sich auf Finanzierungsarten beziehen, die zwischen vorrangigem Fremdkapital und Eigenkapital eines Unternehmens angesiedelt sind und sowohl Merkmale von Darlehen als auch von Eigenkapital aufweisen».

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