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«Wie kann ein Eigentum etwas besitzen?»

22.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Zwischen 2016 und 2019 hat das praxisorientierte Forschungsprojekt WOLTS in zwei Maasai-Dörfern im Norden Tansanias die sich im Wandel befindenden Geschlechterrollen untersucht. Ein Erfahrungsbericht.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

«Wie kann ein Eigentum etwas besitzen?»
Kleines Kind, grosse Arbeitsbelastung: eine Maasai-Frau in Oleparkashi, Tansania.
© Tobias Peier

Mundarara, ein kleines Dorf mit weniger als 5000 EinwohnerInnen, liegt eingebettet in grüne Hügel, erreichbar nur über eine lange, holprige Schotterstrasse, vorbei an Giraffen, Antilopen und Straussen, vorbei an Maasai-Männern in wallenden roten Gewändern, in der einen Hand den Stock zum Treiben der Kühe, in der anderen das Handy, vorbei an schmuckbehangenen Frauen mit Feuerholz auf dem Kopf und vorbei an einer mittelgrossen Rubinmine, in deren Abraum viele Frauen nach kleinen Edelsteinen suchen. Bei meinem ersten Besuch im Dorf wird unser Team empfangen von einem der Dorfvorsteher, einem grossen, stattlichen Mann mittleren Alters. In seinem Büro, einem kleinen Lehmhaus mit ein paar wackligen Stühlen, einem Tisch und einigen vergilbten Blättern an der Wand, begrüsst er uns mit einem Handschlag und verschmitztem Zwinkern in den Augen. Nachdem wir unser Anliegen erklärt haben, stellen wir ein paar erste Fragen zum Minenbau und den Landrechten im Dorf. Auf meine Frage, ob Frauen auch Land besitzen dürfen, antwortet er empört auf Kimaasai: «Wie kann ein Eigentum etwas besitzen?».

Diesen Satz hören wir immer wieder. Er fasst die Situation vieler Maasai-Frauen prägnant zusammen: Frauen gelten als Eigentum der Männer − zunächst des Vaters und dann, mit der Hochzeit, des Ehemannes. Jeglicher Besitz (Vieh, Häuser oder Land) ist ausgeschlossen. Die Maasai sind eines der patriarchalsten Völker Afrikas. Polygamie ist die Regel. Sowohl die Genitalverstümmelung wie auch Kinderheiraten sind trotz gesetzlichen Verboten nach wie vor weit verbreitet. Die Geschichten vieler Frauen, mit denen wir sprechen, ähneln sich: Kaum eine hat die Primarschule abgeschlossen, ihre Arbeitstage sind lang und ausgefüllt mit schwerer Arbeit (Wasser und Feuerholz holen, Kühe melken etc.). Das Geld, das die Frauen sich durch den Verkauf von Schmuck, Feuerholz oder neuerdings auch durch den Verkauf von Abfallprodukten aus den Minen dazuverdienen, reicht oft kaum zum Überleben, zumal viele Männer ihren Pflichten als Ernährer der Familie nur ungenügend nachkommen.

Harte Arbeit startet mit Heirat

Eine Gruppendiskussion mit Zweitfrauen ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich erwartete eine Gruppe älterer Frauen; stattdessen wurden wir begrüsst von drei Mädchen, zwischen 14 und 16 Jahre alt, zwei davon hochschwanger. Die Mädchen erklärten uns, dass sie froh darüber seien, Zweitfrauen zu sein, denn:

«Diejenigen Frauen, welche keine weiteren Ehefrauen im Haus haben, tun uns leid. Sie haben noch mehr Arbeit zu erledigen. Die schwere Belastung startet mit der Heirat. Wenn man zu Hause bei seiner Mutter ist, kann man ihr sagen, dass man müde ist und sich ausruhen möchte. Aber wenn man verheiratet ist, hat der Ehemann alle Macht und man traut sich nicht, ihm zu sagen, dass man müde ist, sonst wird man geschlagen.» (zitiert in Daley et al (2018), Gender, Land and Mining in Pastoralist Tanzania, S.43, eigene Übersetzung).

Gewalt gehört zum Alltag der meisten Maasai-Frauen. Der Minenbau hat die Gewalt in vielerlei Hinsicht verschärft, da nun auch zahlreiche Aussenstehende in die Dörfer kommen, um nach Edelsteinen zu suchen. In beiden Dörfern hören wir immer wieder von Vergewaltigungen und sogar von Morden, welche ungestraft bleiben. Viele Frauen fühlen sich von ihren Ehemännern und auch von den Männern in der Dorfregierung im Stich gelassen, und nicht selten werden die Frauen selbst für eine Vergewaltigung verantwortlich gemacht.

So schlimm viele Geschichten auch sind, hören wir doch auch immer wieder Positives, Geschichten von Veränderung. Diese rücken vor allem im weiteren Verlauf unserer Arbeit in den Vordergrund. Basierend auf intensiver Forschungsarbeit und dem Feedback der Gemeinden auf unsere Forschung, bieten wir über einen Zeitraum von zwei Jahren eine Reihe von strukturierten Trainingseinheiten an: Diese bestehen neben konkreten rechtlichen Informationen zu Landrechten, Minenbau und Gleichberechtigung der Geschlechter auch aus interaktiven Diskussionen und Rollenspielen.

Bei den Trainingseinheiten sitzen die Frauen anfangs in einer Ecke, die Männer in der anderen. Die Frauen reden kaum, und wenn sie sich dennoch trauen, etwas zu sagen, werden sie immer wieder von den Männern im Raum zurechtgewiesen. Oft werde ich von den Männern gefragt, wie es denn bei mir sei. Ob ich alle Entscheidungen in meinem Haus treffe? Diese Diskussionen sind spannend, denn auch in der Schweiz ist längst nicht alles perfekt: Ich erzähle ihnen, dass bei uns Frauen erst seit 50 Jahren abstimmen dürfen, dass sie vorher eine Erlaubnis ihres Mannes brauchten, um zu arbeiten, und dass es auch heute noch schwierig ist, Arbeit und Familie zu vereinbaren. Auch bei uns gehören Sexismus und Gewalt für viele Frauen zum Alltag.

In den Diskussionen zeigt sich, dass die Geschlechterrollen auch bei den Maasai im Wandel sind. Viele ältere Ehepaare haben geheiratet, indem die Männer ungeborene Mädchen «gebucht» hatten. Viele jüngere Maasai erzählen von einer Zunahme sogenannter «Liebesheiraten». Diese Ehen bleiben oft monogam und zeichnen sich durch eine viel stärkere Zusammenarbeit der Ehepaare aus. Auch die Arbeitsteilung wandelt sich aufgrund von Minenbau, Klimawandel und anderer Faktoren; Frauen übernehmen zunehmend «traditionell» männliche Aufgaben, wie etwa das Weiden von Kühen, allerdings ohne dabei die «traditionell » weiblichen Aufgaben aufzugeben.

Geschlechterrollen im Wandel

Das Ziel des WOLTS-Trainingsprogramms ist es nicht, die Kultur der Maasai zu verändern, oder ihnen unsere westliche Kultur aufzudrängen, sondern darum zu zeigen, dass sich Geschlechterrollen und -verhältnisse verändern und es an uns allen liegt, diesen Wandel zu gestalten und mitzutragen. Wie ein männlicher Teilnehmer treffend bemerkte: «Wir können immer noch Maasai sein und unsere Traditionen weiterführen, aber manche Traditionen sind schädlich, die müssen wir ändern.»

Viele Frauen fühlten sich ermächtigt, allein durch das Wissen, dass sie Rechte haben und dass Geschlechterrollen nicht naturgegeben sind, sondern sich ändern können. Am Ende der Workshop-Serie sassen Männer und Frauen durchmischt im Raum und viele Frauen trauten sich nun auch vor den Männern, ihre Meinung kundzutun. Und sogar der Dorfvorsteher, welcher anfangs noch fragte: «Wie kann ein Eigentum etwas besitzen? », fragte gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Dorfregierung, ob er bei den nächsten Trainings dabei sein dürfe.

Mehr Informationen zum WOLTS-Projekt, welches parallel auch in der Mongolei durchgeführt wurde, finden sich hier.

Den kompletten Forschungsbericht aus Tanzania finden Sie hier.

 

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«Es liegt noch ein langer Weg vor uns»

24.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Abschiedsinterview mit Mark Herkenrath über die aktuellen Herausforderungen der Schweizer Entwicklungspolitik.

Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

«Es liegt noch ein langer Weg vor uns»
Mark Herkenrath an einer Veranstaltung der zivilgesellschaftlichen Plattform Agenda 2030
© Martin Bichsel

Im Jahr 2015 wurde die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet, was damals international als grosser Meilenstein gefeiert wurde. Bis jetzt hat aber der Bundesrat kaum etwas umgesetzt und die Nachhaltigkeitsziele sind in der Bevölkerung wenig bekannt. Woran liegt das?

Der Bundesrat setzt sich viel zu wenig für die Agenda 2030 ein. Er will keine zusätzlichen Gelder für die Umsetzung der Agenda sprechen und möchte die globale nachhaltige Entwicklung einfach in die bisherige Politik integrieren. Er unternimmt auch zu wenig, um die Agenda 2030 öffentlich bekannt zu machen. Das sollen die Nichtregierungsorganisationen tun, obwohl sie jetzt auf Geheiss von Aussenminister Ignazio Cassis keine Bundesmittel mehr für Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz einsetzen dürfen.

Bundesrat Cassis hat sich aber in der neuen aussenpolitischen Strategie die Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben…

Bundesrat Cassis distanzierte sich 2018, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, sogar von der Agenda 2030! In einem Interview mit der «Basler Zeitung» ärgerte er sich darüber, dass er in seinem Vorleben als Parlamentsmitglied nie zur Agenda 2030 konsultiert worden war. Zusammen mit dem UNO-Migrationspakt kanzelte er die Agenda als ein Machwerk der Diplomatie ab, das im Widerspruch zu innenpolitischen Entscheiden stehe. Inzwischen scheint er aber besser begriffen zu haben, dass eine gerechte und nachhaltige Welt auch im Interesse der Schweiz ist.

Die Schweizer Zivilgesellschaft hat mit der Konzernverantwortungsinitiative an der Urne einen Achtungserfolg erzielt. Nach der Abstimmung möchten bürgerliche PolitikerInnen den Handlungsspielraum der NGOs einschränken (siehe global #81). Sind die NGOs zu mächtig geworden?

(Schmunzelt.) Das tönt so, als seien die NGOs am Abstimmungssonntag mit ganzen Heerscharen zu den Urnen marschiert und hätten dort ihre Zettel eingeworfen. Tatsächlich entscheidet in der Schweizer Demokratie am Schluss immer noch die Stimmbevölkerung. Und die bildet sich durchaus ihre eigene Meinung. Bei der Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative haben sich 50,7% der Abstimmenden für eine weltoffene und solidarische Schweiz ausgesprochen. Die Bevölkerung hat ein berechtigtes Vertrauen in die sehr gut dokumentierten Fallrecherchen der NGOs; hingegen wackelt das Vertrauen in die Wirtschaftsverbände und ihre Konzerne. Man glaubt der Behauptung nicht mehr, dass die Interessen der Wirtschaft immer auch gut für die Schweiz seien. Das bereitet bürgerlichen Kreisen in der Politik natürlich Kopfschmerzen.

In der internationalen Zusammenarbeit setzt die Schweiz immer mehr auf Partnerschaften mit dem Privatsektor. Alliance Sud hat immer wieder auf die Risiken hingewiesen, gibt es aber nicht auch Chancen?

Klar gibt es auch Chancen, zum Beispiel neue Arbeitsplätze, Investitionen und umweltschonende Technologien. Das darf aber nicht dazu verleiten, die Risiken auszublenden. Ausländische Konzerne drängen in den Entwicklungsländern oft einheimische Firmen aus dem Markt und verlagern ihre Gewinne unversteuert in Tiefsteueroasen wie die Schweiz. Hinzu kommen Menschenrechtsverletzungen und Umweltprobleme. In der internationalen Zusammenarbeit müsste es darum für Partnerschaften mit dem Privatsektor mindestens so strikte Auswahlkriterien und Auflagen geben wie bei Partnerschaften mit den NGOs. Davon sind die DEZA und das SECO noch weit entfernt.

WissenschaftlerInnen erheben im Zuge der Klimabewegung und der Pandemie vermehrt die Stimme, um die Politik zu beeinflussen: eine positive Entwicklung?

Ja, das ist eine gute Entwicklung. In einer funktionierenden Demokratie sollen die Bevölkerung und ihre politischen Vertreterinnen fundierte Entscheidungen treffen. Dazu braucht es Expertise. Gemeint sind neben der Expertise der Wissenschaft auch das Fachwissen der NGOs und die ethische Expertise der Kirchen. Als ich noch hauptberuflich in der Wissenschaft tätig war, waren Äusserungen zu aktuellen politischen Fragen dort recht verpönt; sogar Gastartikel in der «NZZ» oder in «Le Temps» ernteten manchmal Stirnrunzeln. Das hat sich zum Glück verbessert.

Alliance Sud feiert dieses Jahr das 50. Jubiläum: In welche Richtung steuert die Entwicklungspolitik und wird es diese auch in 50 Jahren noch brauchen?

Entwicklungspolitik wird es immer geben: Eigentlich ist sie ja globale Innenpolitik. Die Agenda 2030 betont, dass bei jeder politischen Entscheidung mitberücksichtigt werden muss, wie sie sich auf die ganze Weltbevölkerung und die Zukunft des Planeten auswirkt. Es liegt aber noch ein langer Weg vor uns, bis das Gebot der globalen nachhaltigen Entwicklung in die Praxis umgesetzt ist. In den mächtigen Ländern des Nordens gibt es wieder eine starke Tendenz, kurzfristige nationale Eigeninteressen höher zu gewichten als das Wohlergehen der Natur und der Menschheit. Auch die internationale Zusammenarbeit wird wieder zunehmend in den Dienst wirtschafts- und migrationspolitischer Interessen gestellt. Es braucht darum auch in Zukunft eine Alliance Sud, die Politik für eine gerechte Welt macht.

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Kaukasus: der Ausweg aus dem Chaos

06.12.2021, Internationale Zusammenarbeit

Die neue Strategie der Schweizer Zusammenarbeit im Südkaukasus – Georgien, Armenien und Aserbaidschan – hat ihren Schwerpunkt in der Entwicklung entvölkerter Regionen und der Integration ethnischer Minderheiten und MigrantInnen.

Isolda Agazzi
Isolda Agazzi

Expertin für Handels- und Investitionspolitik sowie Medienverantwortliche Westschweiz

Kaukasus: der Ausweg aus dem Chaos

© Isolda Agazzi

Um sechs Uhr morgens, es ist noch dunkel, verlässt Aleksander mit einer Zigarette im Mundwinkel raschen Schrittes das Haus, um seine Kühe zu melken. «Eigentlich ist das Frauenarbeit, aber heute mache ich es», meint Alexander, der an der Universität Tbilissi Mathematik studierte und danach in sein südgeorgisches Heimatdorf zurückkehrte, um seine alte Mutter zu pflegen. Zusammen mit seiner Frau, die gerade das Frühstück zubereitet, hat er ein paar Gästezimmer hergerichtet, um sein bescheidenes Auskommen als Landwirt aufzubessern. Wird maschinell gemolken? «Nein, gemolken wird von Hand», antwortet er in bruchstückhaftem Englisch, das er von seiner Tochter lernt, die im Dorf die Primarschule besucht. In seinem Garten wächst eine Fülle von Obst, Gemüse und Blumen, die in Georgien überall anzutreffen sind. Sie tauchen das Dorf, auf 1’300 Metern gelegen, im Sommer in ein fröhliches Farbenmeer. Doch der Winter ist hart: Das Haus wird mit einem Holzofen beheizt, weil die Gasversorgung, sonst im ganzen Land an den deutlich sichtbaren Leitungen zu erkennen, nicht bis in diese abgelegene Ecke nahe der Grenze zur Türkei und Armenien reicht.

Ertragsarme Landwirtschaft

«Die Schweiz ist in Georgien sehr präsent und unterstützt hier die Land- und Viehwirtschaft», erklärt Danielle Meuwly, Leiterin der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit im Südkaukasus, als sie uns in ihrem Büro in Tbilissi empfängt. «Der Stadt-Land-Graben ist enorm: 40 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft, die jedoch sehr wenig abwirft und nur 8 Prozent zum BIP beiträgt.» Im Land herrscht eine grosse Ungleichheit: Im Jahr 2021 liegt der Gini-Koeffizient  bei 36,4, womit es nach dem US-Ranking World Population Review an 89. Stelle liegt.

Zur Wissensförderung in der Landwirtschaft hat die Schweiz in Zusammenarbeit mit dem Institut Plantahof ein Berufsbildungsprojekt gestartet. Ein Programm zur Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im ländlichen Raum, das gemeinsam mit der NGO Swisscontact lanciert wurde, soll helfen, die Einkommenssituation der LandwirtInnen zu verbessern. Swisscontact engagiert sich auch für die Erhaltung der Wälder im Sinne des neuen Forstgesetzes, das die Abholzung streng reglementiert. Allerdings fehlt noch die Akzeptanz der Bevölkerung und vor allem muss Menschen wie Aleksander eine Alternative zum Kochen und Heizen mit Holz aufgezeigt werden.

Die Schweiz als Vertreterin russischer Interessen in Georgien und umgekehrt

Dieses Aufgabenfeld ist Teil der neuen Strategie 2022 - 2025 der Schweizer Zusammenarbeit im Südkaukasus, die Anfang Dezember veröffentlicht wird. «Es handelt sich um eine regionale Strategie, die auch Armenien und Aserbaidschan einschliesst und die gemeinsam von der DEZA, dem SECO und der Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA umgesetzt wird», so Danielle Meuwly weiter. «Unser Büro haben wir aus praktischen Gründen – und weil das Land das grösste Budget erhält – in Georgien. Das Engagement des Bundes in dieser Region ist wichtig; insbesondere erfüllt er hier einen Schutzauftrag.»  Nach dem Krieg im August 2008 und der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland brach Georgien die diplomatischen Beziehungen zu Moskau ab. Seit 2009 vertritt die Schweiz die Interessen Russlands in Georgien und die Interessen Georgiens in Russland. In Abchasien, einer von extremer Armut geprägten Region, die internationale humanitäre Hilfe beansprucht, wurden im Rahmen der Schweizer Zusammenarbeit Projekte zur Renovierung von sanitären Anlagen in Schulen und zur Befähigung von Frauen zur Käseproduktion unter hygienischen Bedingungen lanciert.

Integration der ethnischen und religiösen Minderheiten

«Über die diplomatischen Belange hinaus versuchen wir, eine Brücke zu bauen und die Zusammenarbeit zwischen den Menschen und den zivilgesellschaftlichen Akteuren auf beiden Seiten zu fördern», erklärt Medea Turashvili, die für Fragen der menschlichen Sicherheit zuständig ist. «Und wir sorgen dafür, dass die Rechte von religiösen Minderheiten und ethnischen Gruppen geschützt werden.» Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, das pausenlos von Mongolen, Türken, Arabern, Persern und Russen belagert wurde. Die Religion, verkörpert durch die mächtige georgisch-orthodoxe Kirche, diente der Bevölkerung stets als Zufluchtsort und ist auch heute noch ein wesentlicher Bestandteil der nationalen Identität.

Obwohl orthodoxe Christen in der Mehrheit sind, gibt es auch georgische Muslime, Aseris, Tschetschenen, Armenier und andere Minderheiten, die kaum integriert sind. «Oft sprechen Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten die georgische Sprache nicht, weil das Bildungssystem es ihnen nicht erlaubt, sie richtig zu erlernen», sagt Danielle Meuwly. «Sie haben viel stärkere Bindungen zu ihren Herkunftsgemeinschaften als zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Unser Ziel ist es, diese Entfremdung zu verringern, damit die verschiedenen Gemeinschaften in Frieden leben können. Im Süden des Landes, wo eine grosse aserbaidschanische Gemeinschaft lebt, wurden Dienstleistungszentren eröffnet, die der Bevölkerung Informationen in aserbaidschanischer Sprache bereitstellen. Vor den Wahlen von 2018 und 2020 setzten wir uns zusammen mit den politischen Parteien für die Ausarbeitung eines Verhaltenskodex ein.»  

Integrationshilfe für MigrantInnen

In der kachetischen Ebene im Osten des Landes gibt es viele Obstgärten und Weinberge. Die Region ist berühmt für ihren Wein. Georgien gilt als Ursprungsland des Weinanbaus und noch heute stellen die Familien in ihren Kellern den eigenen Wein her. In den Dörfern prägen jedoch unzählige verlassene Häuser das Bild und die fein gearbeiteten Holzbalkone zerfallen. Die meisten EinwohnerInnen, insbesondere die junge Generation, zieht es ins Ausland. In einem Land, in dem der Durchschnittslohn 300-400 Euro monatlich beträgt, suchen sie ihr Glück in Westeuropa; die Männer oft im Baugewerbe, die Frauen als Haushaltshilfen. Georgien zählt bei einer Bevölkerung von fast vier Millionen 1,7 Millionen Wanderarbeitende.

Ihre Geldüberweisungen sind für die Familien zu Hause eine unverzichtbare Einkommensquelle. In der Schweiz steht Georgien als Herkunftsland von Asylsuchenden an fünfter Stelle, da seine Staatsangehörigen 2018 von der Visumspflicht für den Schengenraum befreit wurden. Sie haben jedoch keine Chance auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und werden systematisch abgewiesen. Die Schweizer Zusammenarbeit unterhält in Kachetien und anderen Provinzen Projekte zur Wiedereingliederung ehemaliger MigrantInnen und zur Wiederbelebung von Gemeinden.

Alliance Sud begrüsst, dass die Schweiz die sozioökonomische Wiedereingliederung von RückkehrerInnen unterstützt, fordert sie jedoch auf, ihre Hilfe nicht von der Rückübernahme abgelehnter Asylsuchender abhängig zu machen, wie sie es derzeit tut. Angesichts des Arbeitskräftemangels in vielen Berufsgruppen wäre der Bundesrat gut beraten, eine nachhaltige Migrationspolitik zu betreiben, die es MigrantInnen ermöglicht, in der Schweiz eine Beschäftigung jenseits der Schwarzarbeit zu finden.

Unabhängige, aber eng überwachte Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft ist eine wichtige Akteurin in Georgien. Sie wird hauptsächlich von westlichen Gebern, darunter auch die Schweiz, finanziert, und ihre Beziehungen zur Regierung sind von Höhen und Tiefen geprägt.

«Im Grossen und Ganzen können wir unsere Tätigkeit ungehindert ausüben, aber in den letzten Jahren neigte die Regierungspartei dazu, kritische zivilgesellschaftliche Organisationen zu diskreditieren, indem sie haltlose Anschuldigungen wie mangelnde Kompetenz oder Zusammenarbeit mit Oppositionsparteien erhob. Diese feindselige Haltung erschwert es uns, unsere Empfehlungen gegenüber den verschiedenen Regierungsstellen aufrechtzuerhalten», sagt Vakhtang Menabde, Direktor des Programms zur Unterstützung der demokratischen Institutionen bei der Georgian Young Lawyers Association (Gyla).

Seit 2012 wird Georgien von der Partei Georgischer Traum regiert, die die Nachfolge der Vereinigten Nationalen Bewegung antrat. Letztere habe die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Zivilgesellschaft stark eingeschränkt, so der Aktivist. Nach den Wahlen von 2012 kamen einige Liberalisierungsprozesse in Gang. «Obwohl mehrere Reformwellen eingeleitet wurden, brachten die meisten davon nur Verbesserungen für punktuelle Schwachstellen im System; die eigentlichen institutionellen Probleme wurden nicht gelöst. Deshalb ist die Unabhängigkeit der Justiz in Georgien heute leider stark eingeschränkt», erklärt er weiter.

Was die Rolle der Zivilgesellschaft betrifft, so setzt sich die NGO Gyla seit Jahren für Reformen der Justiz, der Kommunalverwaltung und des Wahlrechts ein. Vakhtang Menabde begrüsst zwar, dass viele seiner Empfehlungen in das Gesetz eingeflossen sind, aber die wichtigsten Vorschläge, die zu echten Veränderungen des Machtgefüges führen würden, blieben unberücksichtigt. «Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zivilgesellschaften in Georgien im Wesentlichen in einem freien, aber stark polarisierten und angespannten Umfeld agieren», so Vakhtang Menabde.

Darüber hinaus haben mehrere Skandale in jüngster Zeit offengelegt, dass AktivistInnen der Zivilgesellschaft, JournalistInnen und politische Vereinigungen von den Staatssicherheitsdiensten eng überwacht werden. In einem offenen Brief, der im August veröffentlicht wurde, prangerten ein Dutzend NGOs die unverhältnismässigen Befugnisse der Nachrichtendienste und deren Eingriff in die Privatsphäre an.

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«Armut ist politisch gewollt»

05.10.2020, Internationale Zusammenarbeit

Der abtretende UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut verabschiedet sich mit einem alarmierenden Bericht. Das Narrativ, das Elend gehe zurück, basiere auf zweifelhaften Zahlen. Und es überschätzt die Rolle der Entwicklungszusammenarbeit.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

«Armut ist politisch gewollt»
Philip Alston, der frühere Uno-Sonderberichterstatter über extreme Armut und Menschenrechte bei einem Besuch des Dorfs Kampung Numbak in der Provinz Sabah, Malaysia.
© Bassam Khawaja

Der Australier Philip Alston (70), Professor für Völkerrecht und Menschenrechte an der New York University School of Law, eröffnet mit seinem Abschlussbericht als UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut eine dringend notwendige Debatte. Immer wieder hören wir von Regierungen, den Medien und auch aus Entwicklungsorganisationen, die globale Armut sei in den letzten Jahrzehnten massiv zurückgegangen, nicht zuletzt dank der grosszügigen Hilfe der reicheren Länder.

Die Erzählung von der massiven Armutsreduktion stützt sich in der Regel auf die Messgrösse der Weltbank, welche die Grenze für die extreme Armut bei 1.90 US-Dollar pro Tag festlegt. Diese willkürliche Zahl ergibt sich aus dem Durchschnitt der national festgelegten Armutsgrenzen von 15 der ärmsten Länder der Welt. Auf dieser Basis soll die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen von 1,895 Milliarden im Jahr 1990 auf 736 Millionen im Jahr 2015 gefallen sein und sich damit von 36 auf 10 Prozent der Weltbevölkerung verringert haben. Oft verschwiegen wird, dass es sich dabei keinesfalls um einen globalen Trend handelt – in Sub-Sahara Afrika und dem Mittleren Osten ist in dieser Zeitspanne die Zahl der in Armut lebenden Menschen gar um 140 Millionen angestiegen. Eher bekannt ist die Tatsache, dass die Armutsreduktion vor allem in China stattfand, dort ist die Anzahl extrem armer Menschen in der betreffenden Zeitspanne laut Weltbank-Messung von 750 Millionen auf 10 Millionen gesunken.

Es lohnt sich, die Statistiken, auf denen diese Schätzungen basieren, genauer anzuschauen. Die erwähnte Armuts-Messlatte ist nicht angepasst an die unterschiedlichen Grundbedürfnisse in einzelnen Ländern oder Regionen, sondern wird als absoluter und konstanter Wert gehandelt – angepasst einzig an die Kaufkraft-Parität.[1] So beträgt die kaufkraftbereinigte Armutsgrenze beispielsweise in Portugal 1.41 Euro, was selbstverständlich kaum fürs nackte Überleben reicht. Aber auch in den meisten Entwicklungsländern sind die nationalen Armutsgrenzen weit höher angelegt als die 1.90 US-Dollar der Weltbank – dementsprechend verzeichnen nationale Statistiken weit höhere Armutsraten als jene, die sich auf die Weltbankberechnung abstützen. Zwei Beispiele: Thailand kennt laut Weltbank null extreme Armut, die nationalen Statistiken weisen 9% aus, in Südafrika ist der Unterschied 18.9% versus 55%.

Nimmt man eine realistischere, allerdings ebenso willkürliche Armutsgrenze von 5.50 US-Dollar pro Tag, so sehen die globalen Statistiken weniger rosig aus: Die Zahl der Armutsbetroffenen ist dann zwischen 1990 und 2015 von 3.5 auf 3.4 Milliarden gefallen (oder von 67% auf 46% der in dieser Zeit stark gewachsenen Weltbevölkerung). Auch diese Rechnung blendet allerdings aus, dass viele von Armut betroffene Menschen wie Obdachlose, Wanderarbeiter, Flüchtlinge oder Hausangestellte gar nicht erst in Armutsstatistiken erfasst werden, da diese grundsätzlich auf Haushaltsbefragungen basieren. Auch geschlechtsspezifische Armutsunterschiede spiegeln die Statistiken nicht wider.

Der Klimawandel, die Coronakrise und die damit verbundene massive wirtschaftliche Rezession in vielen Ländern verschärfen die gravierende Armut noch zusätzlich. Die Weltbank rechnet damit, dass aufgrund des Klimawandels zusätzlich 100 Millionen Menschen in die extreme Armut (gemessen an 1.90 US-Dollar pro Tag) abrutschen werden und dass durch die Coronakrise weitere bis zu 60 Millionen Menschen in die extreme Armut zurückfallen werden. Mit realistischeren Messgrössen sähen diese Zahlen noch um einiges bedrückender aus.

Hat die Entwicklungszusammenarbeit versagt?

Nun könnte man den Schluss ziehen, dass die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) versagt habe, wenn die extreme Armut immer noch enorm hoch ist. Diese Argumentation räumt der EZA allerdings eine Macht und einen Einfluss ein, die sie schlichtweg nicht hat. Alston zeigt in seinem Bericht auf, dass im Jahr 2019 die OECD-Länder 152.8 Milliarden US-Dollar in Form von Zuschüssen oder günstigen Krediten an Entwicklungsländer vergeben haben. Gleichzeitig leisteten die ärmsten sowie die Länder mittleren Einkommens jährlich 969 Milliarden US-Dollar Schuldenrückzahlungen, wovon 22 Prozent oder 213 Milliarden nur aus Zinsen bestanden, also keinen Entwicklungsnutzen entfalten konnten. Vielleicht noch dramatischer sind die Milliarden, die den Entwicklungsländern jährlich aufgrund von Gewinnverschiebungen multinationaler Firmen[2] und unrechtmässiger Finanzflüsse entgehen, oder den Verlusten, die sie aufgrund ungleicher Handelsbeziehungen erleiden.

Die EZA hat nachweislich vielen Menschen geholfen, aus der bittersten Armut zu entfliehen, und die Lebensbedingungen der Bedürftigsten massiv verbessert – gerade in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und Reduktion der Müttersterblichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. Aber all das nützt wenig, wenn gleichzeitig immer mehr Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, um der kommerziellen Landwirtschaft, der Rohstoffgewinnung oder dem Bau massiver Infrastrukturprojekte, die meist einseitig der Exportförderung dienen, zu weichen. Immer noch werden Länder durch die Kredite der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) bzw. die daran geknüpften Konditionalitäten gezwungen, Sozialausgaben zu kürzen, ihren Handel zu deregulieren und Steuerprivilegien für ausländische Investoren zu gewähren. Auch heute – im postkolonialen Zeitalter – bleiben die meisten Entwicklungsländer Rohstofflieferanten für den Rest der Welt, gefangen in einem Netz aus Schulden, ungleichen Handelsbeziehungen, Steuerflucht und Korruption. Die EZA mit ihren vergleichsweise bescheidenen Mitteln bleibt unter diesen Umständen nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein.

UN-Sonderberichterstatter Alston schreibt denn auch prägnant: «Poverty is a political choice». Die Armut ist eine politische Entscheidung – Menschen verharren in Armut, solange andere davon profitieren. Den in den reichen Ländern angesiedelten Firmen bleibt es erlaubt, auf Kosten der Ärmsten massive Profite zu erwirtschaften, und wir KonsumentInnen sollen die anderswo kostengünstig produzierten Waren (Nahrungsmittel, Kleider, elektrische Geräte u.v.m.) kaufen.

Ungleichheit ins Zentrum rücken

Alston plädiert darum folgerichtig dafür, nicht allein die Armut, sondern die Ungleichheit ins Zentrum der Debatte zu stellen. Mit dieser Forderung ist Alston bei weitem nicht allein. Auch der deutsche Exekutivdirektor bei der Weltbank, Jürgen Zlatter, verlangt in einem kürzlich veröffentlichten Papier, die Weltbank solle sich stärker auf die Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern fokussieren. So zitiert er etwa den Ökonomen Thomas Piketty, um aufzuzeigen, dass in der gleichen Zeitspanne, in der laut Weltbank die Armut massiv gesunken ist, die Ungleichheit massiv angestiegen ist. So sind zwischen 1980 und 2014 die Einkommen (nach Steuern) der unteren 50% der Weltbevölkerung um 21% angestiegen, während die Einkommen der oberen 10% um 113% gewachsen sind. Die Einkommen der obersten 0.1% der Weltbevölkerung haben in der gleichen Zeitspanne gar um 617% zugenommen! So besitzt heute das reichste 1% der Weltbevölkerung doppelt so viel wie die ärmsten 6.9 Milliarden Menschen.

Zlatter zeigt auf, wie die Politik der 1980er und 1990er Jahre in vielen Ländern die Gewerkschaften schwächte, Sozialleistungen gekürzt und die Progressivität von Einkommenssteuern verringert wurden. Die zunehmende Liberalisierung des Handels und das Entstehen von globalen Wertschöpfungsketten hätten die Marktmacht einzelner Unternehmen massiv gestärkt und zu einem globalen race to the bottom bei den Löhnen geführt. Zugleich habe die Liberalisierung des Finanzsektors massiv dazu beigetragen, die Ungleichheit zu erhöhen, schreibt Zlatter. Zwar unterlässt der Autor eine direkte Kritik an der Weltbank, doch sind es genau diese Liberalisierungs- und Deregulierungsmassnahmen, welche die Weltbank und der IWF den Entwicklungsländern nach wie vor aufzwingen.

Einig sind sich Weltbank-Ökonom Zlatter und UN-Sonderberichterstatter Alston darin, dass Ungleichheit und soziale Umverteilung ins Zentrum der Debatte rücken müssen – nicht nur innerhalb der Weltbank, sondern auch in der breiteren Armutsdebatte. Als zentralen Ansatzpunkt nennen sie dabei einen starken Fokus auf Steuergerechtigkeit. Die Alternative dazu ist düster: Der voranschreitende Klimawandel und die wirtschaftlichen Verheerungen der Coronakrise werden nicht nur massiv mehr Menschen in die Armut stürzen, sondern es ist auch mit wachsenden sozialen Unruhen, Konflikten und Protestbewegungen zu rechnen.

[1] Die Kaufkraft-Parität wird berechnet, indem ausgehend davon, was man mit 1.90 US-Dollar in den USA kaufen kann, ermittelt wird, wieviel Geld in den anderen Ländern benötigt wird, um die gleichen Dinge zu besorgen.

[2] Laut einem Forschungsprojekt rund um den Ökonomen Gabriel Zucmann, haben multinationale Firmen 2017 741 Milliarden Dollar in Steueroasen verschoben, 98 Milliarden davon flossen in die Schweiz. Leider gibt es für die meisten Gewinnverschiebungen aus Entwicklungsländern nur unzureichende Daten – vorhandene Daten sind allerdings besorgniserregend. So entgehen Nigeria jährlich etwa 18% an Körperschaftssteuereinnahmen, Südafrika 8% und Brasilien 12%.

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Eine globale Krise braucht globale Solidarität

14.04.2020, Internationale Zusammenarbeit

Die Coronakrise macht uns schlagartig bewusst, wie verletzlich unsere globalisierte Welt ist. Für einmal sitzen wir alle weltweit sprichwörtlich im selben Boot. Zwar betrifft die Krise alle, doch sie trifft nicht alle gleich.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Eine globale Krise braucht globale Solidarität

Ein Bub aus dem ruandischen Städtchen Sholi hat sich eine Maske gebastelt, um sich gegen das Coronavirus zu schützen.
© Wikimedia Commons / study in Rwanda

Während die westlichen Länder, allen voran die wohlhabende Schweiz, alles daran setzen, ihre Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten und auszubauen, massive Hilfspakete schnüren, um den Schaden für ihre Wirtschaft bzw. den Arbeitsmarkt in Grenzen zu halten, werden auch hier Machtgefälle sichtbar. Die Austeritätspolitik der letzten Jahre hat in vielen europäischen Ländern dazu geführt, dass deren Gesundheitssysteme nicht mehr in der Lage sind, sich um alle Bedürftigen zu kümmern. Wer Geld hat, kann sich die Pflege in einem Privatspital leisten, wer arm ist, stirbt möglicherweise im überfüllten Wartezimmer einer überlasteten Klinik. In der Schweiz sind wir glücklicherweise weit entfernt von solch apokalyptischen Zuständen, aber auch bei uns stellt sich die Frage: Wer profitiert kurz-, mittel- und langfristig gesehen von den Milliarden, die der Bundesrat per Notrecht zur Verfügung stellt?

Befürchtete Auswirkungen auf die ärmsten Länder

Noch einmal anders sieht die Sache in Entwicklungsländern aus und verschiedene Stimmen warnen vor einer eigentlichen public health-Katastrophe, sobald sich das Coronavirus auch in den ärmsten Ländern auszubreiten beginnt. Bis jetzt hat sich das Virus dort noch weniger rasant verbreitet als in Europa und den USA, dennoch haben viele Regierungen drastische Massnahmen ergriffen, um die weitere Ausbreitung einzudämmen. Kenia, Südafrika, Nigeria und Indien sind nur einige der Länder, die in den letzten Wochen einen umfassenden oder partiellen Lockdown angeordnet bzw. ihre BürgerInnen dazu aufgefordert haben, ganz oder zeitweise zu Hause zu bleiben. Während die Wohlhabenden Hamsterkäufe tätigen und sich dann in ihre gated communities zurückziehen, ist dies für die ärmere Bevölkerung, die ohnehin in sehr viel beengteren Verhältnissen lebt, schlicht unmöglich. 61% der Weltbevölkerung arbeiten im informellen Sektor – in Subsahara-Afrika sind es gar 85.8%. Diese Kleinbäuerinnen, Strassenhändler, Hausangestellten leben oft von der Hand in den Mund, und einige Tage ohne Einkommen können dazu führen, dass das Essen auf dem Tisch fehlt oder kein Geld mehr da ist, um lebensnotwendige Medikamente zu kaufen. Auch wenn der Staat – wie in Europa – Hilfspakete für die Wirtschaft schnüren würde, beträfen diese nur jene Minderheit der Bevölkerung, die über eine formelle Anstellung verfügt. Die grosse Mehrheit der informell Beschäftigten hat keinerlei soziale Absicherung. Auch wenn die familiäre und nachbarschaftliche Solidarität gross ist, sie droht schnell zu erschöpfen, wenn ansteckende Krankheiten um sich greifen oder die Vorräte zur Neige gehen.

Untaugliche Rezepte zur Eindämmung

Auch die angeordneten Hygienemassnahmen und das social distancing sind in ärmeren Kontexten, wo oft mehrere Generationen auf kleinstem Raum zusammen wohnen und viele Menschen keinen Zugang zu einer eigenen Toilette oder zu fliessendem Wasser haben, kaum umsetzbar. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatten 2019 etwa 2.2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser, 4.2 Milliarden hatten keinen Zugang zu geeigneten Toiletten und 3 Milliarden hatten keine adäquaten Möglichkeiten zum Händewaschen. Die fortschreitende Klimaveränderung verschärft die Hygienesituation gerade für die Ärmsten noch zusätzlich – durch zunehmende Wasserknappheit oder Sturmfluten und Hurrikane, die bereits in der Vergangenheit oft mit Epidemien Hand in Hand gingen. Wer einmal in einem afrikanischen Slum, einem Flüchtlingslager, auf einem Markt – wo die meisten ärmeren Menschen ihre Nahrungsmittel einkaufen, da die Preise in den Supermärkten für sie unerschwinglich sind – war oder in einem öffentlichen Kleinbus mitfuhr, weiss, wie beengt die Verhältnisse sind und wie unmöglich social distancing in diesen Kontexten ist. Werden nun Märkte geschlossen und Menschen – teils unter Einsatz massiver Polizeigewalt – gezwungen, zu Hause zu bleiben, kann dies für grosse Teile der Bevölkerung katastrophale Folgen haben. Kein Wunder also, wenn einige Beobachter davon ausgehen, dass die Eindämmung von Corona mindestens so schlimme Konsequenzen bergen könnte wie die Ansteckung mit dem Virus.

Sollte sich das Coronavirus in den ärmsten Ländern weiter ausbreiten, werden die Gesundheitssysteme nicht in der Lage sein, diese Krise zu bewältigen. Laut Schätzungen der ILO haben etwa 40% der Weltbevölkerung weder eine Krankenversicherung noch Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen, und laut WHO geraten jährlich 100 Millionen Menschen aufgrund von Krankheitskosten neu in Armut. Das heisst, viele Menschen werden es sich nicht leisten können, eine Covid19-Infektion im Spital behandeln zu lassen, andere werden als Konsequenz der Behandlung verarmen. Die meisten aber werden gar keinen Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung haben, da vor allem in ländlichen Gebieten oft keine angemessenen Gesundheitseinrichtungen vorhanden sind, ganz zu schweigen von der Situation in Slums und Flüchtlingslagern. Die zu wenigen öffentlichen Spitäler werden in vielen Ländern sehr schnell an ihre Grenzen stossen, vor allem auch was die intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten angeht – Uganda beispielsweise verfügt gerade einmal über 55 Intensivbetten bei einer Bevölkerung von 42 Millionen Menschen. Wie in Europa und anderswo werden die Reichen auch in Afrika, Asien und Lateinamerika Wege finden, sich in gut ausgerüsteten Privatspitälern, vielleicht auch im Nachbarland, behandeln zu lassen; doch der Grossteil der Bevölkerung wird sich diesen Luxus nicht leisten können.

Aber nicht nur das Machtgefälle zwischen Arm und Reich wird in der Krise sichtbar, sondern auch jenes zwischen Frauen und Männern. Im Süden wie im Norden sind es vor allem Frauen, die einen Grossteil der bezahlten und unbezahlten Pflegearbeit leisten, an vorderster Front gegen das Virus kämpfen, enormen Belastungen und einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind. In vielen südlichen Ländern sind zudem Frauen auch überproportional von den ökonomischen Folgen der Pandemie und der politischen Gegenmassnahmen betroffen, da gerade der weit verbreitete landwirtschaftliche Kleinhandel meist in Frauenhand ist und Frauen in vielen Ländern für die Ernährung der Familie zuständig sind.

Fachleute schlagen Alarm

Auch falls sich die Hoffnung erfüllt und sich das Coronavirus in den ärmsten Ländern nicht im selben Mass ausbreiten sollte wie in Industrie- und Schwellenländern, werden die weltwirtschaftlichen Folgen der Pandemie gerade für die Ärmsten verheerende Folgen haben. Der IWF, die Weltbank und zahlreiche namhafte WirtschaftsexpertInnen warnen, dass die Pandemie eine weltwirtschaftliche Rezession mit sich bringt, welche die globale Wirtschaftskrise im Nachgang der Finanzkrise von 2008 in den Schatten stellen wird. Laut der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) war allein der Kapitalabfluss aus Entwicklungsländern zwischen Februar und März dieses Jahres doppelt so hoch wie nach dem Lehmann Brothers-Kollaps 2008. Auch der globale Handel ist innert kürzester Zeit mehr oder weniger eingebrochen – allein in Kambodscha sind durch die Schliessung von 91 Kleiderfabriken auf einen Schlag 65’000 ArbeiterInnen arbeitslos geworden. Die Weltbank geht davon aus, dass aufgrund der Finanzkrise von 2008 fünfzig Millionen Menschen mehr in der absoluten Armut verharren mussten, als dies unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Coronakrise könnten noch weit über die damaligen Verheerungen hinausgehen.

In den ärmeren Entwicklungsländern sind jetzt dringend Investitionen in die Gesundheitsversorgung, in die Bildung und die soziale Absicherung der Ärmsten nötig, um die Resilienz gegenüber künftigen Krisen zu stärken. Die teilweise massiv verschuldeten Länder, die sich nun gleichzeitig mit den Folgen einer wirtschaftlichen Rezession, einem teils massiven Rückgang der Rohstoffpreise, einer Abwertung ihrer Währungen sowie einer verheerenden Kapitalflucht auseinandersetzen müssen, sind hierzu schlichtweg nicht in der Lage. Die UNCTAD schätzt, dass den Entwicklungsländern aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise in den nächsten Jahren 2 bis 3 Billionen US-Dollar fehlen werden. Eine Gruppe von zwanzig namhaften ÖkonomInnen und GesundheitsexpertInnen, unter ihnen der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und verschiedene WeltbankökonomInnen, verlangen in einem offen Brief an die G20 denn auch die Bereitstellung mehrerer Billionen US-Dollar, um die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise in Entwicklungsländern aufzufangen. Sie warnen davor, dass ansonsten die Folgen dieser Krise in Form zukünftiger globaler Gesundheitskrisen und Massenmigration auch den Westen empfindlich treffen werden. Es wird aber essentiell sein, wo, wie und unter welchen Bedingungen Nothilfe geleistet und eingesetzt wird, um unerwünschte Nebeneffekte durch unbedachte Rettungsaktionen (bailout) zu vermeiden. Die Weltbank und der IWF haben schon gehandelt und grosse Überbrückungskredite für Entwicklungsländer angekündigt. Der IWF wird 50 Milliarden US-Dollar über seine schnell auszahlbaren Notfallfinanzierungsfazilitäten (rapid-disbursing emergency financing facility) zur Verfügung zu stellen, 10 Milliarden davon in Form von zinsfreien Krediten an die ärmsten Länder. Die Weltbank ihrerseits hat ein 14 Milliarden grosses Covid19-Hilfspaket angekündigt. Gleichzeitig haben sich der IWF und die Weltbank auch für ein Schuldenmoratorium für die ärmsten Länder ausgesprochen. Was eine kurzfristige Erleichterung bezwecken kann, birgt mittel- bis langfristig allerdings Risiken. So werden die Entwicklungsländer langfristig ihre Schulden dennoch begleichen müssen und verschulden sich nun im Kontext der Krise zusätzlich. Auch waren es just die Kredite des IWF und der Weltbank und die daran geknüpften Bedingungen wie etwa die Kürzung von Sozialausgaben und die Privatisierung von Staatsbetrieben, die dazu geführt haben, dass die Gesundheitssysteme in vielen Ländern unterfinanziert und unvorbereitet sind und soziale Absicherungssysteme für die Bevölkerungsmehrheit fehlen.

Die raison d’être der Weltbank und des IWF sind die Förderung einer globalisierten Weltwirtschaft und das Ankurbeln des Welthandels mit dem Ziel, das globale Wirtschaftswachstum anzuregen. So kündigte der Weltbank-Präsident Malpass umgehend an, dass die Überbrückungskredite an strukturelle Reformen geknüpft sein werden, um unnötige Regulierungen abzuschaffen und Märkte anzukurbeln. Auch der IWF liess verlauten, dass es momentan zwar durchaus wichtig sei, in eine starke Gesundheitsversorgung und soziale Absicherung zu investieren, dass die Empfängerländer aber längerfristig ihr Haushaltsbudget wieder konsolidieren und so zur Austeritätspolitik mit ihren Kürzungen bei den Sozialausgaben zurückkehren müssen. Umso wichtiger ist es jetzt sicherzustellen, dass die gesprochenen Gelder die Ärmsten tatsächlich erreichen und nicht langfristig den Nährboden für weitere wirtschaftliche, finanzielle, ökologische Krisen bereiten.

Die Krise als Chance?

Cette épidémie montre les limites du système qu'a créé notre génération. Un système qui n'a pensé qu'à l'économique et à la course au profit rapide, au détriment du social et de l'attention aux autres. Un système qui a complètement perdu de vue certaines valeurs comme la solidarité et n'a eu de cesse de penser « global » pour chercher au bout du monde la main-d'oeuvre la moins chère possible en dédaignant l'investissement social.  (Denis Mukwege, Arzt und Friedensnobelpreisträger 2018 [1])

Die Coronakrise hat unser aller Leben innert kürzester Zeit grundlegend verändert. Sie hat gezeigt, dass unser Lebensstil nicht unantastbar ist. Politisch dringende Entscheide, welche in normalen Zeiten undenkbar wären, wurden als Notstandsmassnahmen schnell und unbürokratisch getroffen. Die Frage steht im Raum, ob wir nach der Krise die Welt wieder so aufbauen können und wollen, wie sie vor der Krise war und uns so gleichzeitig anfällig machen für weitere Krisen; oder ob wir diese Krise als Chance verstehen. Als Chance, die globale Solidarität zu stärken und uns so für künftige Krisen – inklusive der noch viel bedrohlicheren, bereits existierenden globalen Klimakrise – zu wappnen.

Wir können und sollten jetzt entscheiden, ob wir die national und international gesprochenen Gelder für die Erhaltung unsozialer Lieferketten oder die Stärkung der maroden Fossilindustrie einsetzen oder ob wir sie im Sinne von building back better an soziale und ökologische Nachhaltigkeitskriterien knüpfen. Auch an uns in der Schweiz liegt es zu entscheiden, ob wir die enorme Schere der globalen Ungleichheit – momentan besitzen die 2253 Milliardäre der Welt mehr Vermögen als 60% der gesamten Weltbevölkerung – weiter öffnen oder ob wir die Gelegenheit wahrnehmen, sie langsam zu schliessen. Konsequente Klimaverträglichkeit beim Einsatz der Mittel, aber auch eine Finanztransaktionssteuer, eine Besteuerung der digitalen Wirtschaft, sozial verträgliche Lenkungsabgaben oder gar eine einmalige Coronasteuer sind nur einige der Möglichkeiten, die aktuell diskutiert werden, um Gelder für die Ärmsten und Verletzlichsten zu generieren, ohne dabei den Mittelstand weiter zu belasten. Es liegt an uns zu entscheiden, ob unsere Solidarität an der Landesgrenze endet oder ob wir zur Einsicht kommen, dass wir auch langfristig alle im gleichen Boot sitzen und als globale Gemeinschaft nur so stark sein werden wie die Schwächsten unter uns.

Das fordert Alliance Sud

  1. Die von der Weltbank und dem IWF versprochenen Gelder zur Bewältigung der Coronakrise in den ärmsten Ländern reichen bei weitem nicht aus, um die langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise abzufedern. Alle Länder sind aufgefordert, ihre Entwicklungsausgaben (aide publique au développement, APD) auf den international festgesetzten Zielwert von 0.7% des Bruttonationaleinkommens (BNE) zu erhöhen. Auch die Schweiz soll dieser Forderung endlich nachkommen und die Rahmenkredite für die internationale Zusammenarbeit so erhöhen, dass eine APD-Quote von 0.7%, mindestens aber wieder eine – wie vom Parlament schon seit langem verlangte – APD-Quote von 0.5% erreicht wird. Im Sinne der Agenda 2030 muss die internationale Zusammenarbeit (IZA) des Bundes einen starken Fokus auf die ärmsten Bevölkerungsschichten aufweisen («Leave no one behind») und in öffentlich zugängliche Bildungs- und Gesundheitssysteme, in die Stärkung der Zivilgesellschaft und speziell der Frauen, in die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sowie in menschenwürdige Arbeitsmöglichkeiten und soziale Absicherung investieren.
  2. Nach dem Prinzip build back better soll die Schweiz sich dafür einsetzen, dass alle national und international gesprochenen Hilfsgelder zur Bewältigung der Coronakrise umwelt- und sozialverträglich eingesetzt werden und so gleichzeitig dazu beitragen, die soziale Ungleichheit zu reduzieren und dem voranschreitenden Klimawandel entgegenzuwirken.
  3. Entwicklungsländer brauchen im Kampf gegen die voraussichtlich äusserst gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise dringend und möglichst unkompliziert zusätzliche eigene Steuereinnahmen. Die Schweiz muss deshalb unverzüglich steuerpolitische Schritte einleiten, welche die Transparenz der Schweizer Finanz- und Konzernzentren erhöhen. Ein beschleunigter und umfassender Austausch von Steuerdaten von hier ansässigen multinationalen Konzernen und von Offshore-Vermögen, die in der Schweiz verwaltet werden, muss es Steuerbehörden in Entwicklungsländern ermöglichen, Steuerflucht in die Schweiz zu eruieren und zu unterbinden. Drei Massnahmen bieten sich in diesem Zusammenhang unmittelbar an: erstens die Veröffentlichung von länderbezogenen Berichten multinationaler Konzerne (das sogenannte public country-by-country-reporting), zweitens Pilotversuche im Rahmen des automatischen Informationsaustausches über Bankkundendaten (AIA-Pilotprojekte) mit Entwicklungsländern und drittens die Einführung von öffentlichen Registern über die wirtschaftlich Berechtigten von Firmen.
  4. Gemeinsam mit über 200 anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus der ganzen Welt fordert Alliance Sud die Streichung aller im Jahr 2020 fälligen Auslandsschuldenzahlungen von Entwicklungs- und Schwellenländern an bilaterale (Staaten), multilaterale (IWF/Weltbank) und private Gläubiger. Für diese Ziele soll sich die Schweiz beim IWF, in der Weltbank und im Pariser Club einsetzen. Ausserdem soll sie im IWF und der Weltbank auf die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel im Rahmen der Notfallinstrumente der Bretton-Woods-Institutionen hinarbeiten, mit denen Entwicklungs- und Schwellenländer kurzfristig die sozialen und ökonomischen Folgen der Corona-Krise bekämpfen können, ohne dabei neue Schulden aufnehmen zu müssen. Längerfristig muss sich die Schweiz in den Entscheidungsgremien der Weltbank und des IWF für eine Abkehr von politischen Kreditkonditionalitäten einsetzen, die zu einer Schwächung der öffentlichen Gesundheits- und Bildungssysteme führen, wie etwa die vom IWF verordnete Austeritätspolitik oder die von der Weltbank vorangetriebene Privatisierung von Bildungs- und Gesundheitssystemen...

[1] En Afrique „agir au plus vite pour éviter l’hécatombe“,  Gespräch mit Denis Mukwege, Le Monde, 1. April 2020.

Artikel, Global

Globale Solidarität in der Krise

07.12.2021, Internationale Zusammenarbeit

Trotz Impfstoffen und wirtschaftlicher Erholung in der Schweiz: Global gesehen ist die Coronakrise längst noch nicht überwunden und die Ungleichheit nimmt zu. Eine Zwischenbilanz und ein Plädoyer für mehr globale Verantwortung.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Globale Solidarität in der Krise

Ein katholischer Priester mit Soldaten bei der Desinfektion der Christusstatue in Rio de Janeiro (Brasilien).
© Ricardo Moraes / REUTERS

Im Dezember 2019 berichteten chinesische Medien von der Ausbreitung eines unbekannten Virus in Wuhan, Ende Januar 2020 deklarierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen globalen Gesundheitsnotstand. Seither breitete sich das Virus rasant auf der ganzen Welt aus, brachte die internationale Wirtschaft und das soziale Leben vieler Menschen quasi über Nacht zum Stillstand. Seither ist vieles nicht mehr, wie es einmal war. Über fünf Millionen Menschen sind weltweit am Virus gestorben (die Dunkelziffer ist noch viel höher), unzählige weitere leiden nach wie vor an den gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Auch wenn mit der Entwicklung und Zulassung mehrerer Covid-Impfstoffe ein Hoffnungsschimmer am Horizont auftauchte, ist die Pandemie vielerorts noch lange nicht beendet und viele der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen werden erst jetzt richtig sichtbar.

Im April 2020 publizierte Alliance Sud einen Artikel mit dem Titel «Eine globale Krise braucht globale Solidarität». Darin zeigte sie auf, dass die Krise zwar alle trifft, aber nicht alle gleich. Alliance Sud plädierte für mehr Unterstützung zugunsten der ärmsten Länder bei der Bewältigung der Krise, für einen globalen Schuldenschnitt und für einen Wiederaufbau nach dem Prinzip «Build back better». Aber was hat sich seither getan und wo stehen wir nach fast zwei Jahren Coronakrise?

Haben wir die Pandemie wirklich im Griff?

Auch die westlichen Gesundheitssysteme kamen im Verlauf der letzten beiden Jahre immer wieder an den Anschlag. Krisengeschütteltes Gesundheitspersonal, überfüllte Intensivstationen und viele tragische Einzelschicksale dominierten die Schlagzeilen. Die folgenschwersten Katastrophen aber spielten sich anderswo ab – in Indien, Brasilien oder in Peru, wo im Frühjahr 2021 zahlreiche Familien stundenlang auf der Suche nach Sauerstoff durch die Städte fuhren, während ihre Angehörigen langsam im Spital oder auf dem Weg dorthin erstickten; oder in den Flüchtlingslagern in Bangladesh, Kolumbien oder der Türkei, wo sich nicht nur das Virus rasant verbreitete, sondern auch die Nahrungsmittelknappheit und der Hunger massiv zunahmen.

Millionen von Menschen haben in Zeiten der Covid-Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren. So schätzt die internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass im Jahr 2022 205 Millionen Menschen arbeitslos sein werden, im Vergleich zu 187 Millionen im Jahr 2019. Vor allem bei Jugendlichen und Frauen ist die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr dramatisch angestiegen. Auch die Anzahl der «working poor» – Arbeitnehmende, die mit weniger als 3.20 Dollar pro Tag auskommen müssen – hat seit 2019 um 108 Millionen Personen zugenommen. Am katastrophalsten aber ist die Lage für die mehr als zwei Milliarden Menschen, die im informellen Sektor tätig sind und über keinerlei soziale Absicherung verfügen. Für sie bedeuteten Lockdowns und andere Einschränkungen in vielen Fällen der Verlust ihrer Existenzgrundlage.

So stellt auch die Weltbank fest, dass aufgrund der Coronakrise die extreme Armut zum ersten Mal seit 22 Jahren wieder zugenommen hat.  Sie schätzt, dass bisher etwa 121 Millionen Menschen neu in die extreme Armut getrieben wurden. Wie Alliance Sud in einem Hintergrundartikel berichtete, ist die 1 Dollar/Tag Armutsgrenze der Weltbank allerdings extrem tief angesetzt und weist verschiedene methodische Probleme auf. Eine realistischere Definition von extremer Armut würde wohl noch ein weitaus schlechteres Bild vermitteln.

Auch Ernährungsunsicherheit und Hunger sind aufgrund der Coronakrise massiv angestiegen. So hatte 2020 jeder dritte Mensch keinen Zugang zu angemessener Ernährung. Die Prävalenz der Unterernährung stieg innerhalb von nur einem Jahr von 8.4 auf rund 9.9 Prozent an, nachdem sie zuvor fünf Jahre lang praktisch unverändert geblieben war. Im Vergleich zum Jahr 2019 waren 2020 in Afrika etwa 46 Millionen, in Asien 57 Millionen und in Lateinamerika und der Karibik etwa 14 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger betroffen.

Helvetas und sieben andere europäische NGOs belegen in einer grossangelegten Befragung von 16‘000 Personen in 25 Ländern den massiven Rückgang des Einkommens, der Ernährungssicherheit sowie des Zugangs zu Bildung, mit dem viele Personen zu kämpfen haben. Die Studie zeigt, dass die ohnehin schon verletzlichsten Personen – ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, alleinerziehende Mütter, Frauen und Kinder – am stärksten von der Pandemie betroffen sind.

Weltwirtschaftliche Verwerfungen

Während sich die Wirtschaft in vielen westlichen Ländern, inklusive der Schweiz, erstaunlich rasch erholt zu haben scheint, schreitet die Erholung im Globalen Süden wesentlich langsamer voran. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die Weltwirtschaft 2021 um 6 Prozent wachsen wird, die afrikanische Wirtschaft aber nur um 3.2 Prozent. Im Vergleich zu den ökonomischen Auswirkungen der globalen Finanzkrise von 2008 waren die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise in den meisten ärmeren Ländern – vor allem in Afrika und Südasien – bei weitem verheerender.

Der weltweite Anstieg der Rohstoffpreise hat die Kosten für viele Basisprodukte erhöht: Seit Mitte 2020 steigen die Metall- und Ölpreise und im Mai 2021 erreichte die jährliche Lebensmittelinflation fast 40 Prozent, den höchsten Wert seit zehn Jahren. Während steigende Metall- und Ölpreise vor allem ein Problem für die industrialisierten Länder darstellen, haben die anschwellenden Nahrungsmittelpreise massive Auswirkungen auf Armut und Hunger in den ärmeren Ländern. In Nigeria beispielsweise sind die Lebensmittelpreise seit Beginn der Pandemie um fast ein Viertel gestiegen, was 7 Millionen Menschen in die extreme Armut getrieben hat.

Ein weiterer von der Pandemie besonders stark betroffener Sektor ist der Tourismus. Die internationalen Touristenankünfte in den ärmsten Ländern sind im Jahr 2020 um 67 Prozent eingebrochen. Gemäss Einschätzungen der UNO wird es mindestens vier Jahre brauchen, bis die Anzahl Touristenankünfte wieder das Niveau von 2019 erreicht. Dies gefährdet die Lebensgrundlage von Einzelpersonen, Haushalten und Gemeinschaften sowie das Überleben von Unternehmen in der gesamten touristischen Wertschöpfungskette.

Steigende Verschuldung

Während die meisten Industrieländer massive Konjunkturpakete auflegten, um die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise aufzufangen, fehlen den ärmeren Ländern sowohl die Ressourcen wie auch der politische Spielraum, um es dem Westen gleichzutun. Dies weil sie a) aufgrund ihrer Kreditwürdigkeit auf den internationalen Kapitalmärkten keine Kredite zu vernünftigen Zinssätzen aufnehmen können; b) aufgrund von Inflationsspitzen kein Geld drucken können und c) wegen internationaler Steuerhinterziehung nur begrenzt Mittel im Inland mobilisieren können.

Gemäss Schätzungen des IWF müssten einkommensschwache Länder in den kommenden fünf Jahren rund 200 Mrd. USD für die weitere Bekämpfung der Pandemie und weitere 250 Mrd. USD für die Beschleunigung der wirtschaftlichen Erholung aufwenden. Allerdings fehlt den meisten dieser Länder der Spielraum, um ihre Ausgaben zu erhöhen: Nach Angaben des IWF haben 41 einkommensschwache Länder ihre Gesamtausgaben im Jahr 2020 sogar gesenkt, wobei bei 33 davon die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum BIP dennoch anstieg. Der Auslandsschuldenstand der Entwicklungsländer erreichte somit 2020 einen Rekordwert von 11.3 Billionen US-Dollar, 4.6 Prozent mehr als im Jahr 2019 und 2.5 Mal so viel wie 2009 nach der globalen Finanzkrise.

Wo bleibt die globale Solidarität?


Rufe nach grosszügiger Unterstützung und Entschuldung wurden verschiedentlich laut; trotzdem hat sich bisher wenig getan. Die Debt Service Suspension Initiative (DSSI), auf die sich die G20-Staaten, die Weltbank und der IWF im Frühjahr 2020 geeinigt haben, führte einzig zur temporären Aussetzung des Schuldendienstes für bilaterale Kredite einiger Länder. Nicht nur beteiligte sich China als grosse Kreditgeberin nicht an der Initiative, auch die zahlreichen privaten Kreditgeber unterstützten die DSSI nicht.  Aus Angst, ihre privaten Kreditgeber zu verärgern, beteiligten sich zudem nur etwas mehr als die Hälfte der auf dem Papier förderungswürdigen Länder. Im Endeffekt erhöhte die DSSI den finanziellen Spielraum von 46 Schuldnerländern in den Jahren 2020 und 2021 (um 5.7 Mrd. USD bzw. 7.3 Mrd. USD). Da die ausgesetzten Schuldenzahlungen nun aber den Rückzahlungsplänen ab 2022 wieder hinzugefügt werden müssen, wurde die drohende Schuldenkrise höchstens aufgeschoben statt aufgehoben. Auch die Notkredite, die der IWF und die Weltbank zur Bewältigung der Krise sprachen, lösen das Problem kaum, tragen sie doch zur zusätzlichen Verschuldung bei.

Obwohl die öffentliche Entwicklungshilfe (APD - aide public au développement) im Jahr 2020 um 3.5 Prozent anstieg, macht sie nach wie vor nur 0.32 Prozent des kombinierten Bruttonationaleinkommens der OECD-DAC-Mitgliedsstaaten aus. Dies ist weniger als die Hälfte des international mehrmals bekräftigten Ziels, 0.7 Prozent des BNE für die APD aufzuwenden und nur etwa 1 Prozent der Gelder, die für heimische Konjunkturpakete mobilisiert wurden. Obwohl die Schweiz rasch zusätzliche Gelder für humanitäre Projekte und für die Covax-Allianz freigab, bleibt sie auch 2020, als eines der reichsten Länder der Welt, mit 0.48 Prozent des BNE weit vom international vereinbarten 0.7%-Ziel entfernt.

Globale Impf-Apartheid

Auch der ehemalige OECD-Generalsekretär Angel Gurría betonte, dass es in Zukunft «weit grösserer Anstrengungen bedarf, um den Entwicklungsländern bei der Impfstoffverteilung, bei der Gesundheitsversorgung und bei der Unterstützung der ärmsten und am meisten gefährdeten Menschen zu helfen». Leider zeigt sich der Egoismus der westlichen Länder nicht nur bei den wirtschaftlichen Konjunkturpaketen, sondern auch bei der Verteilung der Covid-Impfstoffe. Während in vielen westlichen Ländern bereits Kinder geimpft werden oder dritte sogenannte Booster-Impfungen verabreicht werden, haben in den ärmsten Ländern gerade einmal 3.1 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten.

Eine Analyse des Forschungsinstituts Airfinity zeigt auf, dass gemäss den aktuellen Impfraten bis Ende 2021 80 Prozent der Erwachsenen in den G7-Staaten geimpft sein werden. Gleichzeitig wird die G7 fast 1 Milliarde überschüssige Impfdosen angesammelt haben. Diese würden ausreichen, um einen Grossteil der Bevölkerung in den 30 Ländern mit der niedrigsten Impfquote zu impfen (die meisten dieser Länder befinden sich in Afrika). Die Covax-Initiative, welche mit dem Ziel einer gerechteren weltweiten Verteilung von Impfstoffen gegründet wurde, hat bisher weniger als 10 Prozent der versprochenen 2 Mrd. Dosen an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen geliefert. Dies unter anderem, weil die reicheren Länder prioritäre Verträge mit den Impfstoffherstellern abschlossen und somit die Covax vom Impfstoffmarkt verdrängten. Absurderweise haben auch mehrere reiche Länder (unter anderem England, Qatar und Saudi-Arabien) selber Impfstoffe aus dem Covax-Programm bezogen.

Auch die Schweiz hat – bei einer Bevölkerung von 8.6 Millionen – bis jetzt Verträge mit fünf Impfstoffherstellern über insgesamt knapp 57 Millionen Dosen abgeschlossen (wobei bisher nur drei der Impfstoffe von Swissmedic zugelassen wurden). 4 Millionen Impfdosen des in der Schweiz nicht zugelassenen Herstellers Astra Zeneca wurden der Covax versprochen, wovon bisher nur etwa 400‘000 verteilt wurden.

Neben der Covax-Initiative ist auch der Aufbau von Kapazitäten zur Herstellung von Impfstoffen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen wichtig. Hierzu müssten allerdings Pharmaunternehmen ihre Impfstofftechnologie und ihr Know-how mit Herstellern dieser Länder teilen. Ein Vorstoss von Indien und Südafrika in der Welthandelsorganisation (WTO), der die temporäre Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte für Covid-Impfstoffe, -Tests und -Behandlungen verlangt, wurde denn auch von China und Russland und teilweise von Frankreich, den USA und Spanien sowie von der WHO und Papst Franziskus unterstützt. Die Pharmaindustrie und die Schweiz wehren sich dagegen und plädieren weiterhin für freiwillige Massnahmen.

Zurück zur Normalität?

Auch wenn es in der Schweiz scheint, als hätten wir die Coronakrise bald überwunden, sind wir weltweit noch weit davon entfernt. Punktuelle Unterstützung für humanitäre Projekte, das Spenden «alter» oder «unerwünschter» Impfdosen und die Gewährung weiterer Kredite an ärmere Länder werden nicht ausreichen, um die aktuelle Krise und die ihr zugrundeliegenden, strukturellen Ursachen zu bekämpfen.
Nur wenn wir uns eingestehen, dass wir alle miteinander vernetzt sind und eine gemeinsame Verantwortung tragen, die Welt lebenswert zu gestalten und zu erhalten, können wir einen Schritt weiterkommen und nicht nur diese Krise, sondern auch die ihr zugrunde liegenden systemischen Krisen, inklusive der globalen Klimakrise, überwinden. Denn eins hat die Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt: Wo ein (politischer) Wille ist, ist auch ein Weg.

Die Verantwortung der Schweiz

Die Schweiz als eines der reichsten und am stärksten globalisierten Länder der Welt trägt eine besondere Verantwortung. Daher fordert Alliance Sud, dass sie

 

  • als führendes Tiefsteuergebiet und siebtgrösster Finanzplatz der Welt Sofortmassnahmen ergreift, um Steuerhinterziehung aus armen Ländern, an denen Schweizer Konzerne, Finanzdienstleister und Anwaltskanzleien beteiligt sind, zu unterbinden. Nur so können arme Länder genügend öffentliche Ressourcen für die Bekämpfung der Covid-Krise mobilisieren;
  • sich dafür einsetzt, dass die 40 Schweizer Banken, welche aktuell Kredite an die 86 ärmsten Länder vergeben haben, aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Lage in diesen Schuldnerstaaten sämtliche Kredite gegenüber diesen Staaten abschreiben;
  • endlich ihr internationales Versprechen einlöst und ihre APD-Quote graduell auf 0.7% des BNE erhöht und ihre gesamte Entwicklungszusammenarbeit auf die Rechte, Bedürfnisse und Wünsche der ärmsten und verletzlichsten Menschen fokussiert;
  • ihre überschüssigen Impfdosen möglichst rasch der Covax abgibt und ihre Blockade-Haltung gegenüber dem WTO-Vorstoss von Indien und Südafrika aufhebt.
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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Artikel, Global

Globalisierung am Ende − oder doch nicht?

21.06.2022, Internationale Zusammenarbeit

Der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine habe das Ende der Globalisierung eingeläutet, wird von verschiedenen Seiten kolportiert. Was ist dran an dieser These? Versuch einer Auslegeordnung.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Dominik Gross
Dominik Gross

Experte für Steuer- und Finanzpolitik

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Globalisierung am Ende − oder doch nicht?
Mit Schutzweste auf dem Feld: Yury und Oleksiy, zwei ukrainische Bauern in der Region Saporischschja während der russischen Invasion.
© Foto: Ueslei Marcelino / REUTERS

Die Schwierigkeit, über die Globalisierung zu reden, besteht darin, dass der Begriff ganz unterschiedlich verwendet wird. Der deutsche «Globalhistoriker» Jürgen Osterhammel schreibt: «Jeder redet von ‹der Globalisierung› und setzt stillschweigend voraus, es sei klar, was darunter zu verstehen ist. Eine unrealistische Annahme.» Er schlägt deshalb vor, besser von «Globalisierungen » zu sprechen. So steht dann die Globalisierung nicht mehr für den «einen umfassenden Weltprozess, der die gesamte Menschheit einschliesst», sondern für eine Vielzahl verschiedener Prozesse in der Welt zu gleichen oder unterschiedlichen Zeiten, die irgendwie miteinander zusammenhängen könn(t)en – oder auch nicht.

Ganz grob gibt es beim Reden über die Globalisierung zwei Sichtweisen, die selten klar genug getrennt werden und erklären, warum man bei diesem Thema so gut aneinander vorbeireden kann. Auf der einen Seite meint Globalisierung wirtschaftspolitische Rezepte, die auf einer ökonomischen Theorie, oder besser Ideologie, beruhen. So verstanden die «GlobalisierungskritikerInnen » der Nullerjahre den Begriff. Garniert wurden diese Ideologie und die (oft ungeniessbaren) Rezepte mit Erzählungen über die Verheissungen der Globalisierung. Auf der anderen Seite werden unter dem Label «Globalisierung» reale Prozesse beschrieben, z. B. das Wachstum des internationalen Handels, die Zunahme grenzüberschreitender Kapitalflüsse oder des Gewichts multinationaler Konzerne – die Liste lässt sich lange fortsetzen.

Dabei wird oft unterstellt, dass die ideologisch unterfütterten Rezepte linear zu den messbaren realen Prozessen führen, also etwa der Abbau von Handelsbarrieren und Kapitalverkehrskontrollen den raschen Anstieg des globalen Handels bewirkte. So einfach ist es aber nicht, denn ein beträchtlicher Anteil des Welthandelswachstums geht direkt oder indirekt auf die Tatsache zurück, dass China zur «Werkbank der Welt» geworden ist. China hat aber Handelsbarrieren sehr selektiv abgebaut, den Kapitalverkehr gar nie liberalisiert und blieb auch in anderen Bereichen bei einer staatlichen Steuerung (siehe Interview).

Vielmehr gibt es eine Gemengelage aus Ideologie, Rezepten und realen Entwicklungen, die sich in wenigen Sätzen etwa so zusammenfassen lässt: Der Umbau des globalen Kapitalismus wurde seit den 1970er Jahren von einer ökonomischen Ideologie getrieben, die von multinationalen Konzernen und westlichen Regierungen begierig aufgenommen wurde. Die daraus abgeleiteten und von den Regierungen angewendeten wirtschaftspolitischen Rezepte begünstigten die Entstehung von globalen Konzernen und entfesselten vier zentrale globale Prozesse: die rasche Zunahme des internationalen Handels, die Verlagerung der industriellen Produktion in weniger «entwickelte» Länder (China inbegriffen), die Zunahme der Süd-Nord-Migration (stärker in den USA, in Europa auch von Ost nach West) und – ganz zentral – das seit den 1970er Jahren extreme Wachstum des Finanzsektors und seiner Bedeutung für die Wirtschaft und die Finanzpolitik innerhalb der Länder und über die Grenzen hinweg.

Die Ideologie

Die ökonomische Ideologie wird gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet, nur mit «dem Neoliberalismus» verhält es sich genau gleich wie mit «der Globalisierung»: Zwei Leute in einem Raum verstehen drei verschiedene Sachen darunter. Zu Hilfe kommt der US-amerikanische Historiker Quinn Slobodian. Im Buch «Globalists – The End of Empire and the Birth of Neoliberalism» (2018) unterscheidet er zwei neoliberale Konzepte, das bekanntere aus Chicago, das andere aus Genf. Das erste steht für mehr Laisser faire und immer weniger staatliche (Landes-)Grenzen; d. h. für selbstregulierende Märkte, die geschrumpfte Staatswesen als strukturierende Kräfte einer Gesellschaft zunehmend ersetzen. Oder um es frei nach der Schweizer FDP der 1970er zu sagen: mehr Markt, weniger Staat. Neoliberale ÖkonomInnen der «Chicago School» um US-Ökonom Milton Friedman träumten von einem einzigen, alles integrierenden Weltmarkt. Die Politik sollte nur noch dort eine Rolle spielen, wo dieser Markt nicht funktionierte. Nach den Vorstellungen von Friedman und seinen AdeptInnen sollte das ausser in Sicherheitsfragen (Armee und Polizei) eigentlich nirgends der Fall sein.

Dieser Vorstellung einer neoliberalen Globalisierung als weltumspannender Prozess, in dem die Kräfte des freien Marktes durch sich selbst zur vollen Entfaltung kommen, stellt Slobodian die Genfer Gruppe von neoliberalen VordenkerInnen entgegen. Diese fanden sich in den 1930er Jahren an der dortigen Universität zusammen – just dort, wo auch die UNO ihr zweites Zuhause hat. Die Gruppe um die Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke, Ludwig von Mises oder Michael Heilperin wollte als «Geneva School» im Gegensatz zur «Chicago School» «den Markt» nicht «vom Staat» befreien, sondern den Staat in den Dienst des Marktes stellen, mit dem obersten Ziel, das Recht auf Privateigentum nicht nur in einem bestimmten Nationalstaat, sondern weltumspannend zu sichern. Slobodian schreibt, dass es den «Geneva Boys» darum ging, dem Markt vom Staat einen globalen Rahmen des (Privat-)Rechts zu geben und damit die Mechanismen, die zur Vermehrung des privaten Besitzes dienen, auf die supranationale Ebene zu heben − ohne die lästigen beschränkenden Regeln eines umverteilenden Sozialstaates auch mitnehmen zu müssen.

Die Rezepte

Die auf der wirtschaftspolitischen Ideologie der Neoliberalen unterschiedlicher Couleur beruhenden Rezepte erhielten 1989 den Stempel «Washington Consensus», weil sie von den dort beheimateten Institutionen Internationaler Währungsfonds und Weltbank sowie dem US-Finanzministerium vertreten wurden. Eigentlich wäre «Konsens von Washington, Genf (WTO – Handel), Paris (OECD – Steuerpolitik) und Brüssel (EU)» treffender. Ursprünglich als Reaktion auf die lateinamerikanische Schuldenkrise entwickelt, bestand der harte Kern dieses Programms aus Wettbewerb (v. a. Abbau des Sozialstaats), Deregulierung (Handel und Kapitalverkehr) und Privatisierung. Im Gegenzug für neue Darlehen wurde dieser «Konsens» in den 80er Jahren den verschuldeten lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern durch sogenannte Strukturanpassungsprogramme aufgezwungen – eine Zeit, die später oft als «lost decade» bezeichnet wurde, da die Armut in vielen Ländern massiv anstieg. Treibende Kraft und Profiteure dieser Agenda waren die multinationalen Konzerne und ganz besonders die Banken und andere Finanzakteure. ABB-Chef Percy Barnevik brachte das Konzernprogramm im Jahr 2000 auf den Punkt: «Ich definiere Globalisierung als die Freiheit unserer Firmengruppe zu investieren, wo und wann sie will, zu produzieren, was sie will, zu kaufen und zu verkaufen, wo sie will, und alle Einschränkungen durch Arbeitsgesetze oder andere gesellschaftliche Regulierungen so gering wie möglich zu halten.»

Eine entscheidende Zeitenwende war der Kollaps der Sowjetunion im Dezember 1991. Mit dem Ende des «Ostblocks » blieb nur noch eine Supermacht übrig, und jetzt konnten die Rezepte global angewendet werden. Prominente Opfer dieser Rezepte wurden nach dem Globalen Süden auch die Länder der ehemaligen Sowjetunion: US-amerikanische Wirtschaftsberater überzeugten deren Regierungen davon, den «Washington Consensus» als Schocktherapie anzuwenden. Mit dem Ergebnis, dass die einheimische Industrie fast vollständig verschwand und sich einige wenige am Volksvermögen und den Rohstoffen bedienen konnten, die als dominierender Sektor der Wirtschaft noch übrigblieben. Ohne Konsens von Washington keine Oligarchen.

Die Verheissungen

Die Globalisierungsideologien und ihre Rezepte gingen einher mit einer Reihe von Narrativen und Versprechungen, welche teilweise auch heute noch gerne – trotz gegensätzlicher Evidenz – hochgehalten werden. Wie etwa: Die Weltwirtschaft wird allen Ländern, die wirklich und konsequent auf freien Handel und freien Kapitalverkehr setzen, immerwährende Prosperität bescheren. Wirtschaftliche Entwicklung dank Globalisierung führt zu einer Verbreitung westlicher Werte und letztlich einer Welt von friedlich kooperierenden demokratischen Staaten. Oder: «Global Governance» wird die Macht der Regierungen eine Stufe höher heben und die gemeinsamen Probleme der Welt lösen.

Es wird nun immer offensichtlicher, dass sich keine dieser Versprechungen erfüllt hat: Während die Armut zwar in einigen, grösstenteils asiatischen Ländern (welche den «Washington Consenus » just nicht oder nur teilweise unterstützten) gesunken ist, nimmt gleichzeitig die globale Ungleichheit zu. Der Ökonom Thomas Piketty zeigt auf, dass zwischen 1980 und 2014 die Einkommen der unteren 50 % der Weltbevölkerung um 21 % angestiegen sind, während die Einkommen der obersten 0,1 % der Weltbevölkerung in der gleichen Zeitspanne um 617 % zugenommen haben. Und während die Liberalisierung des Handels und das Entstehen von globalen Wertschöpfungsketten die Marktmacht einzelner Unternehmen massiv gestärkt haben, wurden weltweit Gewerkschaften geschwächt, Sozialleistungen gekürzt und vielerorts ein race to the bottom bei den Löhnen eingeleitet.

Anstatt mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, wie es ihnen versprochen wurde, sehen sich in der Realität heute immer mehr Menschen mit Repression und Unterdrückung konfrontiert. So konstatiert die NGO Freedom House, dass die Demokratie heute überall auf der Welt von populistischen Führern und Gruppen angegriffen wird, was oft mit Repression gegen Minderheiten oder künstlich konstruierte «Feinde» einhergeht. Gleichzeitig haben autokratische Regierungen in den letzten zwei Jahrzehnten ihren Einfluss immer mehr über die eigenen Landesgrenzen hinaus ausgedehnt und versucht, KritikerInnen zum Schweigen zu bringen, demokratische Regierungen zu stürzen und internationale Normen und Institutionen im Sinne ihrer eigenen Interessen umzugestalten. Das macht auch die Zusammenarbeit in globalen Gremien wie der UNO immer schwieriger.

Ende, welches Ende?

Auch wenn sich keine der Globalisierungs-Versprechungen erfüllt hat, markiert der Krieg in der Ukraine wohl kaum das «Ende der Globalisierung» als Ideologie mit den dazugehörenden politischen Rezepten. Einerseits vertrat schon vor dem Krieg keine der Institutionen des Konsenses von Washington, Genf, Paris und Brüssel noch undifferenziert dieselben Rezepte wie vor der Finanzkrise von 2007. Andererseits verbreiten die nach wie vor westlich dominierten internationalen Finanzinstitutionen aber trotzdem munter Teile dieser Ideologie weiter, auch wenn die immer akuter werdende Klimakrise, wiederkehrende Wirtschafts- und Ernährungskrisen sowie sich zuspitzende Schuldenkrisen eigentlich schon lange die Untauglichkeit dieser Rezepte aufzeigen.

Leider ist nicht anzunehmen, dass der Krieg dies ändern wird. Bringt der Krieg gegen die Ukraine die reale weltwirtschaftliche Integration zum Stehen oder kehrt sie gar um? Auch dies ist höchst unwahrscheinlich, wenngleich sich einige Wertschöpfungsketten verändern oder verkürzen werden. Dass sich das sanktionierte Russland mit China und einigen Vasallenstaaten zu einem abgeschotteten eurasischen Wirtschaftsraum zusammenschliessen wird, kann ausgeschlossen werden. Der Westen (Japan eingeschlossen) ist für China wirtschaftlich viel zu wichtig.

Wie weiter?

Die Globalisierungsideologie gerät also immer stärker unter Rechtfertigungsdruck. Die multiplen Krisen zeigen klar, dass das gegenwärtige Modell der globalen Wirtschaft keines ist, mit dem Frieden, Freiheit, Gesundheit und Wohlstand für alle erreicht werden kann. Dass es dabei ist, den Planeten zu zerstören, ist sowieso offenkundig. Wie soll es also weitergehen? Zuerst einmal brauchen wir eine neue Ideologie, die, statt auf «ewiges» Wirtschaftswachstum, Profitmaximierung und kurzfristige Eigeninteressen zu setzen, den Fokus auf unsere gegenseitigen Abhängigkeiten, unsere Einbettung in die natürliche Umwelt und unsere gemeinschaftlichen, langfristigen Interessen legt. Und dann brauchen wir eine Wirtschafts-und Entwicklungspolitik, die sich die Verwirklichung der universellen Menschenrechte für alle Menschen auf der Erde zum Ziel setzt und deren globale Verwirklichung befördert statt behindert. Zweitens muss diese neue Entwicklungspolitik zeigen können, wie sie letzteres im Einklang mit den natürlichen Grenzen des Planeten erreichen kann. Die UNO-Nachhaltigkeitsziele im Rahmen der Agenda 2030 sollen dabei als Orientierungsrahmen dienen.

Für die notwendige grosse Transformation gibt es keinen Masterplan und keine Landkarte, es braucht unzählige Experimente, Suchprozesse, Projekte und politische Auseinandersetzungen, von den Graswurzeln bis hin zu internationalen Foren der «Global Governance». Wie schon die globalisierungskritische Bewegung in den Nullerjahren dem «There is no alternative» der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher entgegnete: «There are thousands of alternatives».

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Wer hat Angst vor den NGOs? (Teil 2)

24.03.2021, Internationale Zusammenarbeit

Unsere Demokratie lebt davon, dass verschiedene Akteure ihre Expertise, Meinungen und Anliegen in die politische Debatte einbringen. Trotzdem wollen bürgerliche PolitikerInnen den Handlungsspielraum der Nichtregierungsorganisationen einschränken.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Wer hat Angst vor den NGOs? (Teil 2)
Auf dem «Menü» der Zivilgesellschaft steht auch die Bewusstseinsbildung. Die Zürcher Hochschule der Künste (im Bild das Toni-Areal) betreibt ein Zentrum für Kunst und Friedensförderung in Zusammenarbeit mit der artasfoundation.
© Christian Beutler / Keystone

Neben verschiedenen Wirtschaftsakteuren und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen (wie etwa Gewerkschaften oder Bildungsakteure) leisten auch die am Gemeinwohl ausgerichteten NGOs einen Beitrag zur demokratischen Debatte in unserem Land. Im Gegensatz zu VertreterInnen der Wirtschaft, die in der Regel für ihre Eigeninteressen lobbyieren, setzen sich diese NGOs gemäss ihrem Mandat für gemeinnützige Umwelt- oder soziale Anliegen ein. Finanziert wird der politische Einsatz aus Mitgliederbeiträgen sowie aus für spezifische politische Zwecke gespendeten Geldern.

Während verschiedene bürgerliche PolitikerInnen in den Verwaltungsräten der Privatwirtschaft sitzen, sich immer wieder auf Lobbyveranstaltungen der Wirtschaftsverbände zeigen und sich häufig vehement gegen grössere Transparenz bei den Parteispenden wehren (da dann wohl gewisse Verbindungen noch offensichtlicher würden), sollen nun bei den NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit eventuelle politische Verbindungen und Interessensvertretungen genau durchleuchtet werden. Gleichzeitig scheinen sich dieselben PolitikerInnen, die diesen NGOs einen politischen Maulkorb verpassen wollen, nicht daran zu stören, dass andere Akteure und Verbände, die von staatlichen Subventionen und weiteren öffentlichen Beiträgen profitieren, ebenfalls Informationskampagnen lancieren und sich in Abstimmungskämpfe einmischen.

Ein generelles «Politikverbot» für NGOs, welche Bundesgelder erhalten, würde wohl effektiv viele kritische Stimmen zum Verstummen bringen und die Übermacht der Wirtschaftslobbyisten festigen. Auch wenn einige bürgerliche PolitikerInnen sich dies wünschen mögen, wäre es für ein Land, das gerne seine Demokratie, Weltoffenheit und humanitäre Tradition betont, eine Bankrotterklärung. Gleichzeitig müsste man bei einem Politikverbot für NGOs konsequenterweise auch alle anderen staatlichen Beiträge und Subventionen dahingehend untersuchen, ob deren EmpfängerInnen politisch aktiv sind, und auch diese staatlichen Beiträge gegebenenfalls streichen. Das wäre wohl kaum im Interesse der betreffenden PolitikerInnen.

Bildungsarbeit für Agenda 2030 zentral

Im Anschluss an die KVI-Abstimmung wurde aber nicht nur die politische Arbeit der NGOs stark kritisiert, sondern auch die Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit im Inland geriet ins Kreuzfeuer. So verkündete die DEZA (vermutlich auf Druck des Departementsvorstehers) im Dezember äusserst kurzfristig, dass sie per sofort die Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit der NGOs im Inland nicht mehr mitfinanzieren könne. Dieser Entscheid kam umso überraschender, als die DEZA erst ein Jahr zuvor neue Richtlinien zur Zusammenarbeit mit den NGOs verabschiedet hatte, die unter anderem festhalten, dass eine wichtige Aufgabe der Schweizer NGOs darin besteht, «die Schweizer Öffentlichkeit, dabei insbesondere junge Menschen, über globale Herausforderungen aufzuklären und für die enge Verknüpfung von Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung und Wohlstand zu sensibilisieren».

Sensibilisierung und Bildung zu Themen der nachhaltigen Entwicklung (inklusive der Entwicklungszusammenarbeit) ist zudem eine zentrale Komponente der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die auch die Schweiz unterzeichnet hat. Die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen (Sustainable Development Goals, SDGs) richtet sich an alle Länder, nicht nur an die Entwicklungsländer. Sie beinhaltet einen Paradigmenwechsel in der internationalen Zusammenarbeit, indem sie alle Länder dazu auffordert, sämtliche Politikbereiche nachhaltig zu gestalten und dabei auch die globalen Verflechtungen zu berücksichtigen. Die Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit ist unerlässlich für die Erreichung der SDGs: SDG 4 verlangt beispielsweise von allen Ländern bis 2030, dass alle Lernenden die notwendigen Kenntnisse und Qualifikationen zur Förderung nachhaltiger Entwicklung erwerben. Dies beinhaltet die Bildung in Bezug auf Menschenrechte, nachhaltige Lebensweisen, Geschlechtergleichstellung, eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Weltbürgerschaft und die Wertschätzung kultureller Vielfalt sowie den Beitrag der Kultur zu nachhaltiger Entwicklung. Auch in der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 (SNE) der Schweiz, deren Vernehmlassung kürzlich abgeschlossen worden ist, spielt Bildung für Nachhaltige Entwicklung eine wichtige Rolle.


Schweiz ignoriert Empfehlungen der OECD

Auch wenn die NGOs nach wie vor Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit im Inland betreiben dürfen (insofern sie dazu anderweitig Geld mobilisieren können), kommt der offizielle Ausschluss von Bildung und Sensibilisierung aus den DEZA-Programmverträgen mit den NGOs einem massiven Rückschritt im Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit gleich. Die NGOs sollen sich zukünftig – wie auch Nationalrätin Schneider-Schneiter dies wünscht – wieder auf die «Hilfe» im Ausland fokussieren und es unterlassen, auf globale Zusammenhänge hinzuweisen. So dürfen die NGOs beispielsweise in der Elfenbeinküste Kampagnen gegen Kinderarbeit durchführen, sollen aber unerwähnt lassen, dass auch Schweizer Konzerne massiv von der Kinderarbeit profitieren; sie dürfen in Tansania Brunnen bauen, sollen aber nicht darüber berichten, dass es der verantwortungslose Minenbau multinationaler Konzerne ist, welcher massiv zum Wassermangel beiträgt; sie dürfen sich in Bangladesch um Opfer der Klimakrise kümmern, aber ohne dabei den Bogen zu schlagen, dass auch unser Lebensstil, unser Finanzplatz und unsere Industrie massiv zur Klimaerwärmung beitragen.

Der OECD Entwicklungshilfeausschuss (OECD-DAC) hat die Schweizerische Entwicklungszusammenarbeit 2019 in einem sogenannten Peer Review-Verfahren beurteilt und verschiedene Verbesserungsvorschläge gemacht . An erster Stelle bemängelt die OECD die fehlende Analyse und vor allem die fehlende Debatte zu den Auswirkungen der Schweizer Innenpolitik (etwa der Finanz-, Landwirtschafts- oder Handelspolitik) auf die Entwicklungsländer. Sie fordert die Schweiz auf, entsprechende «Analysen zu verbreiten und zu diskutieren, sowohl in der Regierung als auch in der breiteren Schweizer Gesellschaft». Gleichzeitig stellt die OECD fest, dass die Schweiz weiterhin schlecht dasteht in Bezug auf die Kommunikation und Sensibilisierung der Bevölkerung zu Themen der Entwicklungszusammenarbeit. Sie fordert daher das Aussendepartement (EDA) dazu auf, Kommunikations- und Sensibilisierungsstrategien für ihr Entwicklungsprogramm zu finanzieren und umzusetzen. Es soll der DEZA ermöglichen, proaktiv zu kommunizieren, um die politische und öffentliche Unterstützung für die Entwicklungszusammenarbeit zu stärken.

Mit dem kürzlich gefällten Entscheid bewegt sich das EDA allerdings in die entgegengesetzte Richtung, wie auch Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey in einem Meinungsbeitrag der «Weltwoche» moniert. Die DEZA wird in Kommunikationsfragen weiterhin bevormundet, und die NGOs sollen möglichst nicht über Fragen der Politikkohärenz kommunizieren. Bleibt zu hoffen, im Parlament möge sich die Einsicht durchsetzen, dass die Schweizer Demokratie von einer aufgeklärten, gut informierten und politisch aktiven Bevölkerung und einer starken Zivilgesellschaft nur profitieren kann.

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Wer hat Angst vor den NGOs? (Teil 1)

23.03.2021, Internationale Zusammenarbeit

Die Konzernverantwortungsinitiative ist im November knapp am Ständemehr gescheitert, die konservativen Wirtschaftsverbände konnten aufatmen. Trotzdem kam die Retourkutsche: Chronik eines politischen Angriffs auf die Nichtregierungsorganisationen.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Wer hat Angst vor den NGOs? (Teil 1)
Schriftliche Zulassungsprüfung an der HSG St. Gallen für ausländische StudienbewerberInnen. Auch die Schweizer Zivilgesellschaft kommt auf den Prüfstand, obwohl sie den Demokratie-Test schon längst bestanden hat.
© Ennio Leanza / Keystone

Noch selten hat eine Volksinitiative für so viel Furore gesorgt wie die Konzernverantwortungsinitiative (KVI). Schon Monate, gar Jahre vor der Abstimmung stand sie immer wieder in den Schlagzeilen und war auch dank der orangen Fahnen und der vielfältigen Aktivitäten zahlreicher Lokalkomitees bei der Bevölkerung sehr präsent. Zum ersten Mal in der Schweizer Politgeschichte zog eine breit abgestützte Koalition aus 130 NGOs, zahlreichen KirchenvertreterInnen, WirtschaftsvertreterInnen, ParlamentarierInnen aus allen politischen Parteien sowie Tausenden von Freiwilligen am gleichen Strick. Auch wenn die Initiative schlussendlich am Ständemehr scheiterte, zeigte sie doch, was die Zivilgesellschaft und allen voran die NGOs erreichen können, wenn sie ihre Kräfte bündeln. Was eigentlich als positives Zeichen einer lebendigen Demokratie und einer interessierten Bevölkerung gedeutet werden könnte, scheint jedoch nicht allen zu passen.

Liberale wollen Politikverbot für NGOs

Schon bevor es zur Abstimmung kam, reichte Ruedi Noser (FDP-Ständerat und KVI-Gegner der ersten Stunde) eine Motion ein, mit der er den Bund beauftragte zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung bei gemeinnützig tätigen Organisationen (sprich NGOs), die sich politisch engagieren, noch gegeben seien oder ob die Steuerbefreiung andernfalls aufzuheben sei. Der Bundesrat beantragt allerdings in seiner rechtlich fundierten Antwort die Ablehnung dieser Motion. Er hält fest, welche Tätigkeiten als das Gemeinwohl fördernd gelten, namentlich «die soziale Fürsorge, die Kunst und Wissenschaft, der Unterricht, die Förderung der Menschenrechte, der Heimat-, Natur- und Tierschutz sowie die Entwicklungshilfe». Gleichzeitig zeigt er auf, dass sich bei «steuerbefreiten Organisationen auch Schnittstellen zu politischen Themen ergeben (so z. B. bei Umweltorganisationen, Behindertenorganisationen, Gesundheitsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen etc.)». Der Bundesrat hält zudem fest, dass «die materielle oder ideelle Unterstützung von Initiativen oder Referenden einer Steuerbefreiung grundsätzlich nicht entgegenstehen». Die Motion wird nun zuerst in der ständerätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) diskutiert, bevor sie im Ständerat wieder aufgenommen wird.

Nach der KVI-Abstimmung ging ein Sturm im Parlament los, und es hagelte eine Reihe von Fragen, Interpellationen, Postulaten und Motionen, die allesamt die politische Rolle der NGOs in Frage stellen. So verlangt etwa Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP) in einem Postulat vom Bundesrat einen Bericht zur Frage, welche NGO-Tätigkeiten mit welchen Mitteln auf Basis welcher gesetzlichen Grundlage finanziert werden und welche politischen VertreterInnen in den Steuerungsorganen Einsitz nehmen. Begründet wird ihr Vorstoss damit, dass sich «Entwicklungshilfeorganisationen immer mehr mit entwicklungspolitischen Forderungen im Inland, statt mit konkreter Entwicklungshilfe im Ausland beschäftigen». Eine Motion von Nationalrat Hans-Peter Portmann (FDP) verlangt vom Bundesrat die Überprüfung der staatlichen Unterstützungen an Projekte der internationalen Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich an politischen Kampagnen beteiligt haben, und diese Unterstützung bei Bedarf einzustellen.

Eine kritische Diskussion über die politische Rolle von wirtschaftsnahen Verbänden und Think Tanks, die als nicht-staatliche Akteure eigentlich ebenfalls zu den NGOs gehören, soll mit diesen Vorstössen anscheinend vermieden werden. Es ist darum ausdrücklich nur von NGOs im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit die Rede. Nur: Die politische Arbeit der NGOs mit Geldern der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) war schon immer vertraglich ausgeschlossen. Es macht Sinn, dass der Bund keine Steuergelder in politische Kampagnen stecken will – ein generelles Politikverbot für NGOs, die Bundesgelder erhalten, wäre aber ebenso absurd wie höchst problematisch.

(weiter zum Teil 2)

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Artikel

Für eine «verantwortungsvolle Kommunikation»

01.10.2020, Internationale Zusammenarbeit

Alliance Sud hat mit ihren Träger- und Partnerorganisationen ein Manifest für eine verantwortungsvolle Kommunikation der internationalen Zusammenarbeit erarbeitet. Hier erfahren Sie mehr darüber.

Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

Für eine «verantwortungsvolle Kommunikation»

Der britische Songwriter Ed Sheeran in Liberia: Immer wieder stellen sich Prominente für gute Zwecke (und Bilder) zur Verfügung, auch in der Schweiz. Dadurch wird ein paternalistisches Entwicklungsverständnis zementiert.
© Foto: Comic Relief.

Nebst Medien und Politik prägen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit und ihrem Fundraising die öffentliche Wahrnehmung des globalen Südens. Dabei werden in der Kommunikation immer wieder auch Stereotype reproduziert: Paternalistische Entwicklungsbilder vermitteln, dass die entwickelten Länder den «unterentwickelten» Ländern zeigen, wie man es richtig macht. Menschen des globalen Südens werden als Objekte und EmpfängerInnen von Hilfe oder Unterstützung dargestellt, Entwicklungsorganisationen und ihre MitarbeiterInnen dagegen als handelnde Subjekte und ExpertInnen.

Bei verschiedenen Kommunikationsaktivitäten wird der Kontext, in welchem Entwicklungszusammenarbeit stattfindet, selten thematisiert, insbesondere die strukturellen Ursachen von Armut und Ausgrenzung. Auch die systemischen Zusammenhänge, d. h. die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, kommen oft zu kurz. Als Resultat bestehen in der Öffentlichkeit wenig konkrete Vorstellungen darüber, wie Entwicklungszusammenarbeit funktioniert und wirkt. Zwischen entwicklungspolitischer Kampagnenarbeit und Spendenwerbung entstehen zudem vielfach Widersprüche und Inkonsistenzen; sie drohen das Vertrauen in die NGOs zu erodieren.

Das vorliegende Manifest bietet eine Orientierungshilfe für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von NGOs der internationalen Zusammenarbeit. Den Kern bilden brancheninterne Leitlinien für verantwortungsvolle Kommunikation in der internationalen Zusammenarbeit, die als Selbstverpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit dienen. Ziel ist nicht die Perfektion, sondern eine selbstkritische und transparente Reflexion über die eigene Kommunikationsarbeit.  

Interessiert?

Auch weitere Organisationen, die in der internationalen Zusammenarbeit tätig sind, können das Manifest unterzeichnen und als Leitfaden für die eigene Kommunikation nutzen. Dafür melden Sie sich direkt beim Kommunikationsverantwortlichen von Alliance Sud (marco.faehndrich@alliancesud.ch).