Meinung

Alliance Sud, Kuba und der Privatsektor

29.04.2020, Internationale Zusammenarbeit

Unsere Analyse zu den Entwicklungsfolgen der Covid-19-Pandemie ist auf Zustimmung und breites Interesse gestossen. Und hat eine harsche Kritik provoziert. Eine Klärung.

Alliance Sud, Kuba und der Privatsektor

Franklin Frederick moniert in einem auf verschiedenen internationalen Webseiten in mehreren Sprachen veröffentlichten Beitrag, Alliance Sud habe es in ihrer Analyse verpasst, auf die wichtigen internationalen Solidaritätsleistungen Kubas hinzuweisen. Frederick wertet das als krasse – politische motivierte – Fehlleistung. Das kann nicht unwidersprochen bleiben, denn weder die Leistungen noch die Versäumnisse einzelner Staaten in der Coronakrise waren das Thema unseres Beitrags.

Unverständlich ist Fredericks Behauptung, für Alliance Sud verdiene «Kuba offensichtlich keine Schweizer Solidarität». Das ist falsch. Oder müssten wir umgekehrt aus Fredericks Artikel schliessen, dass ihm die notleidenden Bevölkerungen in Bangladesch, Haiti oder den ärmsten afrikanischen Entwicklungsländer egal sind, weil er sie seinerseits nicht erwähnt hat? Davon gehen wir nicht aus, schon gar nicht, ohne uns vorgängig direkt bei ihm zu erkundigen.  

Noch dreister sind die Behauptungen, Alliance Sud erwarte – im Gleichschritt mit den Schweizer Banken und der Deza – vom Privatsektor angemessene Lösungen auf die Pandemie und werde eine konstruktive Diskussion zur Rolle des öffentlichen Sektors in der gesellschaftlichen Entwicklung zu verhindern versuchen. Das sind derart krasse Fake News, dass sie fast sprachlos machen.

Alliance Sud setzt sich für eine nachhaltige globale Entwicklung ein, die selbstverständlich nicht auf dem hyperglobalisierten fossilen Entwicklungsmodell beruhen kann, das der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und zahlreiche andere Handlanger des Neoliberalismus den Entwicklungsländern über Jahrzehnte hinweg diktiert haben. Sie trägt die Konzernverantwortungsinitiative mit und kämpft gegen die Steuerflucht multinationaler Konzerne, die den Entwicklungsländern essentielle Mittel für die Finanzierung der öffentlichen Bildungs- und Gesundheitsversorgung entzieht. Sie wehrt sich gegen ein Freihandelsregime, das die Menschenrechte und die Ökologie vernachlässigt und Konzernen mehr Rechte einräumt als den betroffenen Bevölkerungen.

Wer sich für die tatsächliche Haltung von Alliance Sud zu diesen Themen interessiert, ist herzlich eingeladen, unsere Website zu besuchen. Aufschlussreich ist beispielsweise dieser kritische Artikel zur Rolle des Privatsektors in der gesellschaftlichen Entwicklung und der internationalen Zusammenarbeit. Für einen kritischen Dialog zu den politischen Positionen von Alliance Sud sind wir offen; denunziatorische Polemik, die Fehlinformationen über unsere Organisation verbreitet, ist einer solidarischen Politik im Interesse der Ärmsten jedoch nicht zuträglich.

Kurzmeldung

Adiós COSUDE

10.12.2020, Internationale Zusammenarbeit

Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz will sich zukünftig geografisch fokussieren. Die DEZA (auf Spanisch: COSUDE) zieht sich im Zeitraum 2021-24 deshalb aus den Schwerpunktländern Bolivien, Haiti, Honduras, Nicaragua und Kuba zurück.

Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

Adiós COSUDE

© Ruedi Widmer

Die DEZA verlagert ihre Mittel insbesondere nach Subsahara-Afrika, Nordafrika und in den Mittleren Osten. Die Zivilgesellschaft und das Parlament waren sich in dieser Frage uneins, da die COSUDE bei der Armutsbekämpfung und der Gouvernanz noch viel zu tun hätte. Die Schweiz wird jedenfalls über das SECO, die Abteilung Menschliche Sicherheit und die humanitäre Hilfe weiterhin in Zentral- und Lateinamerika präsent sein: Für Viele ist das letzte Wort deshalb noch nicht gesprochen.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Medienmitteilung

NGOs sind zentral, international und im Inland

03.03.2021, Internationale Zusammenarbeit

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hat heute die Programmbeiträge 2021–2022 bekannt gegeben und die wichtige Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für die internationale Zusammenarbeit der Schweiz betont.

NGOs sind zentral, international und im Inland

© PD

Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hat heute die Programmbeiträge 2021–2022 bekannt gegeben und die wichtige Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für die internationale Zusammenarbeit der Schweiz betont. Obwohl der Bund die Information und Sensibilisierung der Gesellschaft als zentral erachtet, will er diese nicht mehr unterstützen.

«Es ist sehr zu begrüssen, dass die DEZA die wichtige Partnerschaft mit den NGOs bekräftigt und deren Engagement, Expertise und Verankerung in der Bevölkerung wertschätzt», kommentiert Mark Herkenrath, Geschäftsleiter von Alliance Sud. Die NGOs leisten einen massgeblichen Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der internationalen Zusammenarbeit des Bundes und werden dabei zurecht vom Bund unterstützt. Sie ergänzen die Arbeit der DEZA in thematischer und geographischer Hinsicht.

Während die politische Arbeit mit Programmbeiträgen schon seit jeher verboten ist, ist nach der Konzernverantwortungsinitiative nun aber auch die Verwendung dieser Beiträge für inländische Informations- und Bildungsarbeit untersagt: «Das ist unverständlich, denn neben dem Entwicklungshilfeausschuss der OECD warnen zahlreiche Persönlichkeiten und Gremien seit Jahren, dass das Verständnis für globale Zusammenhänge und weltweite Entwicklungsherausforderungen in der Schweizer Öffentlichkeit immer noch ungenügend sei», so Herkenrath. Dass diese Bildungsarbeit nun sozusagen privatisiert wird, steht im Widerspruch zu den internationalen Empfehlungen und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030).

Meinung

Die Schweiz braucht eine starke Zivilgesellschaft

24.03.2021, Internationale Zusammenarbeit

Mehr denn je braucht es heute eine starke Zivilgesellschaft − für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit, für entwicklungsfördernde Spielregeln in der Weltwirtschaft und für eine lebendige Demokratie.

Die Schweiz braucht eine starke Zivilgesellschaft
Hochwertige Bildung und Architektur an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Seit 2004 befindet sich die Bibliothek an der Rämistrasse 74 in dem vom spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava umgestalteten Innenhof.
© Marc Latzel / 13 Photo

von Mark Herkenrath, ehemaliger Geschäftsleiter Alliance Sud

Kurz vor der Frühlingssession kam sie doch noch, die Liebeserklärung des Bundesrats an die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In seiner ablehnenden Antwort auf eine Motion von FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann, die dem Bund Partnerschaften mit politisch engagierten Entwicklungsorganisationen verbieten würde, schrieb der Bundesrat: «Schweizer NGOs leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Umsetzung der internationalen Zusammenarbeit (IZA)». Und: «Eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft gehört zur politischen Kultur der Schweiz.» Gleichzeitig bekräftigte er die verschiedenen Vorteile der Zusammenarbeit mit NGOs: langfristiges Engagement, Expertise, breite Verankerung und Vertrauensbasis in der Bevölkerung, Vernetzung, Förderung von Freiwilligenarbeit und die Sensibilisierung für eine nachhaltige Entwicklung.

Alles nur Lippenbekenntnisse? Just die wichtige Sensibilisierungsarbeit für die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele für die nachhaltige Entwicklung hat das Aussendepartement eingeschränkt. Programmbeiträge der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) dürfen seit diesem Jahr nicht mehr für Bildung und Sensibilisierung im Inland eingesetzt werden. Das ist unverständlich, denn neben dem Entwicklungshilfeausschuss der OECD warnen zahlreiche Persönlichkeiten und Organisationen seit Jahren, dass das Verständnis für globale Zusammenhänge und entwicklungspolitische Herausforderungen in der Schweizer Öffentlichkeit immer noch ungenügend sei. Auch deshalb werden NGOs weiterhin in die Bildungsarbeit und Sensibilisierung investieren, müssen jetzt aber ohne Unterstützung durch den Bund auskommen.

Ungeachtet der politischen Angriffe auf NGOs im Parlament können wir zuversichtlich sein: Mit der Konzernverantwortungsinitiative hat die Schweizer Zivilgesellschaft eindrücklich gezeigt, wie viel Wirkung sie in der Öffentlichkeit erzielen kann. Der Abstimmungskampf wurde nicht durch staatliche Gelder ermöglicht, sondern durch die Unterstützung von Tausenden von engagierten und gut informierten Freiwilligen in der ganzen Schweiz.

Diese Erkenntnis sollte uns auch in Zukunft begleiten, zum Beispiel wenn es um den Kampf für mehr Klimaschutz oder Impfgerechtigkeit geht. Gemeinsam kann die Zivilgesellschaft viel erreichen, auch wenn oft mehrere Anläufe notwendig sind, wie etwa bei der späten Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz vor 50 Jahren. Mehr denn je braucht es heute eine starke Zivilgesellschaft − für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit, für entwicklungsfördernde Spielregeln in der Weltwirtschaft und für eine lebendige Demokratie.

Medienmitteilung

Ständerat hinterfragt kantonale Souveränität

09.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Der Ständerat hat heute knapp eine Motion von Ruedi Noser (FDP) angenommen, welche die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung bei gemeinnützig tätigen Organisationen, die sich auch politisch engagieren, überprüfen will. Anscheinend traut eine knappe Mehrheit der Kantonsvertreterinnen und -vertreter ihren Kantonen nicht zu, ihre Aufgaben adäquat zu erfüllen.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

+41 31 390 93 40 kristina.lanz@alliancesud.ch
Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

+41 31 390 93 34 marco.faehndrich@alliancesud.ch
Ständerat hinterfragt kantonale Souveränität

© Parlamentsdienste 3003 Bern

«NGOs haben nichts zu befürchten, setzen sie doch politische Mittel hauptsächlich dafür ein, um gemeinnützige Anliegen – wie den Klima- und Umweltschutz oder den Schutz der Menschenrechte – voranzutreiben», sagt Kristina Lanz, Fachverantwortliche Entwicklungspolitik bei Alliance Sud. Allerdings scheint genau dies einigen Ständerätinnen und Ständeräten sauer aufzustossen – dass die NGOs in der demokratischen Debatte vermehrt Gehör finden und somit die bisherige Vormacht der Wirtschaftslobby gefährden. «Die Motion Noser ist ein Versuch, die NGOs zum Schweigen zu bringen», sagt Kristina Lanz. «Bleibt zu hoffen, dass der Nationalrat die Notwendigkeit der gemeinnützigen Stimmen in der demokratischen Debatte anerkennt und sich dem Racheakt von Ruedi Noser nicht anschliesst.»

Wie der Bundesrat in seiner fundierten Antwort auf die Motion festhält, sind die kantonalen Steuerverwaltungen «zuständig für die Gewährung, die Überprüfung und den allfälligen Entzug von Steuerbefreiungen». Zudem bekräftigt er, dass sich bei «steuerbefreiten Organisationen auch Schnittstellen zu politischen Themen ergeben (so z. B. bei Umweltorganisationen, Behindertenorganisationen, Gesundheitsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen etc.)» und dass «die materielle oder ideelle Unterstützung von Initiativen oder Referenden einer Steuerbefreiung grundsätzlich nicht entgegenstehen». Hauptkriterium bei der Steuerbefreiung ist, dass die politische Tätigkeit nicht der Hauptzweck der betreffenden Organisationen ist. Werden politische Mittel für die Erreichung eines gemeinnützigen Zwecks eingesetzt, steht dies einer Steuerbefreiung nicht im Wege.

Für weitere Informationen:
Kristina Lanz, Fachverantwortliche Entwicklungspolitik, Alliance Sud, +41 31 390 93 40, kristina.lanz@alliancesud.ch
Marco Fähndrich, Verantwortlicher Kommunikation, Alliance Sud, +41 79 374 59 73, marco.faehndrich@alliancesud.ch

Global, Meinung

Die Macht der Bildung

22.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Joyce Ndakaru möchte, dass den Maasai-Frauen zugehört wird und sie nicht länger als Eigentum der Männer behandelt werden. Ihre persönliche Geschichte zeigt, dass dies keine Utopie bleiben muss.

Ich bin in einer sehr traditionellen Maasai Boma aufgewachsen, in der die Männer das Sagen hatten und die Aufgaben verteilten. Als kleines Mädchen, noch keine 6 Jahre alt, musste ich die Kühe und Ziegen melken, Brennholz sammeln und das Haus fegen, das Geschirr spülen und auch Essen zubereiten. Von etwa 8 bis 12 Jahren, als heranwachsendes Mädchen, das bald Mutter wird, bereitet man sich darauf vor, verheiratet zu werden. So kommen neue Aufgaben hinzu. In dieser Zeit beginnen die Mädchen, Kühe zu hüten und deftige Mahlzeiten zuzubereiten. Auch sind sie immer noch für das Sammeln von Brennholz zuständig.

Jungen hingegen melken nicht, kochen nicht und fegen nicht, denn sie sind Männer. Sie aber kümmern sich um die Ziegen. Sie sammeln auch Steine und stellen sich vor, diese seien ihre Kühe oder sie spielen «Heiraten». Auf diese Weise bereiten sie sich auf ihre Zukunft als mächtige Männer mit grossen Kuhherden vor. Mädchen hingegen haben keine Zeit zum Spielen, ja es wird sogar als Schande angesehen, wenn ein Mädchen beim Spielen ertappt wird. Als Kind wusste ich natürlich noch nichts von Kinderrechten und deshalb hielt ich das nicht für ungerecht. Das wurde mir erst viel später im Leben bewusst.

Ich hatte das Glück, zur Schule gehen zu dürfen. Ich durfte aber nicht deshalb in die Schule, weil ich von meinen Eltern geliebt wurde, sondern vielmehr als Strafe, weil ich nicht sehr gut im Melken und im Ziegenhüten war. Ich hatte Angst, dass die Kühe mich treten würden, und wenn ich Ziegen hüten musste, liefen mir immer ein paar davon. Auch das Sammeln von Brennholz gefiel mir nicht und ich musste dabei häufig weinen. Also beschloss mein Vater, mich zur Schule zu schicken, um mir Disziplin beizubringen. Er dachte, wenn ich den Lehrern gehorchen müsse und körperliche Züchtigung erfahre, würde ich zu einem besseren Kind. Mir aber gefiel die Schule sehr und ich war eine ausgezeichnete Schülerin. Von der 3. bis zur 7. Klasse war ich stets Klassenbeste. Mein Vater hatte jedoch nie vor, mich auf die Sekundarschule zu schicken; er hielt die Primarschule für Strafe genug. Als ich die Primarschule abschloss, hatte er schon etliche Heiratsangebote für mich erhalten; tatsächlich hatte er auch schon einen Mann für mich ausgesucht. Er war älter als er selbst (etwa 60-jährig).

Ich stand also kurz davor, verheiratet zu werden, als etwas geschah, was ich als Gnade Gottes bezeichne. Vertreter der Maasai Girls Lutheran Secondary School gingen zu jenem Zeitpunkt in die Maasai-Dörfer und hielten nach armen Maasai-Mädchen Ausschau, die Gefahr liefen, verheiratet zu werden. Sie luden mich und einige Maasai-Mädchen aus anderen Dörfern ein, eine schriftliche Prüfung abzulegen. Wiederum schnitt ich sehr gut ab und wurde als Einzige aus der Gruppe ausgewählt, auf die Sekundarschule zu gehen. Geplant war eigentlich, mehr als ein Mädchen für die Sekundarschule auszuwählen, aber ich bestand als Einzige die Prüfung. Die anderen Mädchen fielen aber nicht durch, weil sie nicht intelligent genug gewesen wären, sondern weil ihre Familien sie entsprechend angewiesen hatten. Auch mir wurde gesagt, ich solle bei der Prüfung durchfallen und ich hatte meiner Familie versprochen, nur unleserliche Dinge aufzuschreiben. Am Ende aber hielt ich mein Versprechen nicht, während die anderen Mädchen das ihrige hielten.

Nachdem ich die Prüfung bestanden hatte, fragten mich die Lehrer: «Glaubst du, deine Eltern werden dir erlauben, auf die Sekundarschule zu gehen?» Ich fühlte mich in meiner Haut sehr unwohl, als ich mit leiser Stimme antwortete: «Nein, ich glaube nicht, dass meine Eltern mir das erlauben würden. Können Sie mir helfen?» Also kamen sie mit mir in mein Dorf, um meiner Familie mitzuteilen, dass ich auf die Sekundarschule gehen dürfe. Ich hatte grosse Angst und dachte, dass meine Eltern mich umbringen würden, weil ich mich daran erinnerte, dass die Grundschullehrer mich gebeten hatten, den Namen meiner kleinen Schwester aufzuschreiben, damit sie in der Schule eingeschrieben werden konnte. Als mein Vater herausfand, was ich getan hatte, bestrafte er mich und jagte mich aus dem Haus. Meine Schwester durfte nie zur Schule gehen und hat bis heute ein sehr hartes Leben.

Jedenfalls erzählten die Lehrer und ich meiner Familie, dass ich die Prüfung bestanden hatte. Sie waren sehr wütend auf mich und sagten mir, ich sei eine Schande für meine Familie, würde meine Gemeinschaft nicht achten und hätte meine Kultur verraten. Ich versuchte, sie zu beschwichtigen, doch schliesslich sagte mein Vater, ich sei nicht mehr sein Kind, und sie rissen mir all meinen Maasai-Schmuck vom Leib und liessen mich gehen. Meine Mutter durfte nichts sagen, weil sie eine Frau ist und nichts zu entscheiden hat.

Mit leeren Händen ging ich zur Schule und lebte dort mehrere Jahre lang, ohne dass mich je jemand besuchte. Ich konnte auch meine Familie nicht besuchen, da mein Vater mich mit Sicherheit verheiratet hätte, wenn ich nach Hause gegangen wäre. Mein Vater brauchte viel Zeit, um zu akzeptieren, dass ich nicht nach Hause kommen würde, aber nach ein paar Jahren kam er mich in der Schule besuchen. Sie hätten beschlossen, dass ich die Sekundarschule abschliessen dürfe, sagte er mir und bat mich, in den Schulferien nach Hause zu kommen. Er versprach mir, dass ich nicht heiraten müsse. Obwohl sie ihr Versprechen hielten und mich nicht verheirateten, taten sie alles, um mich davon abzubringen, zur Schule zurückzukehren. Sie erzählten mir, dass meine Klassenkameradinnen inzwischen alle mehrere Kinder, ihr eigenes Zuhause und eine eigene Familie hätten und dass ich verloren sei und nicht einmal mehr meine Kultur kennen würde. Obwohl sie meinen Namen jedes Jahr in der Zeitung lesen konnten, da ich Jahr für Jahr als Klassenbeste erwähnt wurde, setzten sie mich weiter unter Druck und unterstützten mich auch finanziell nicht.

Dank eines anonymen Spenders konnte ich die Sekundarschule abschliessen. Danach wusste ich nicht, was ich tun sollte, denn es wird erwartet, dass einem die Familie nach der Sekundarschule durch die Universität hilft. Wieder hatte ich grosses Glück, denn Reginald Mengi, der ehemalige Besitzer von IPP News, war als Ehrengast bei unserer Abschlussfeier anwesend. Während seiner Rede fragte er, wie viele von uns gerne an die Universität gehen würden, um Journalismus zu studieren. Ich und einige andere hoben die Hand, ohne zu wissen, was er vorhatte. Er notierte sich unsere Namen und bezahlte dann unsere Studiengebühren. Mit seiner Unterstützung habe ich es dorthin gebracht, wo ich heute stehe: Ich bin Hochschulabsolventin, Programmbeauftragte mit über neun Jahren Erfahrung, die ich bei verschiedenen NGOs in Tansania gesammelt habe, Gender-Aktivistin, verantwortungsbewusste Mutter und ein Vorbild für meine Familie und die Maasai-Gemeinschaft, vor allem für die Frauen.

Heute sind mein Dorf und meine Familie stolz auf mich. Meine ehemaligen Klassenkameradinnen, die inzwischen Grossmütter sind, weil sie alle mit 12 oder 13 Jahren verheiratet wurden, bewundern mich. Damals lachten sie mich aus und warfen mir vor, meine Eltern nicht zu respektieren; aber jetzt wünschen sie sich alle, sie wären auch zur Schule gegangen. Sie sagen mir, dass ich grosses Glück habe, für mich selbst sorgen zu können, während sie gänzlich auf ihre Männer angewiesen sind. Sie sagen mir sogar, dass ich wegen meines Lebensstils viel jünger aussehe als sie. Viele schicken jetzt ihre Kinder zur Schule, sehen mich und einige andere, die es weit gebracht haben, als Vorbilder und sagen ihren Kindern, sie sollen unserem Beispiel folgen. Sogar mein Vater ist jetzt sehr stolz auf mich. Ich schicke ihm Geld und unterstütze auch meine Geschwister und andere Familienmitglieder. Obwohl keine der anderen Töchter meines Vaters nach mir zur Schule gehen durfte, schicken nun einige meiner Brüder ihre Mädchen zur Schule.

Langsam ändern sich die Dinge, auch wenn viele der Mädchen, die jetzt zur Schule gehen, am Ende immer noch heiraten und ein traditionelles Leben führen; aber wenn man sie anschaut, kann man doch einige Unterschiede erkennen. Sie sind klug, sie kümmern sich besser um ihre Kinder und kochen gesünderes Essen. Einige Männer erkennen den Wert einer Frau mit einer guten Bildung. Ich wünsche mir einfach, dass alle Massai aufgeklärt werden und ihre Jungen und Mädchen zur Schule schicken und erkennen, dass es nichts Schlechtes ist, wenn sie ihren Töchtern erlauben, zur Schule zu gehen, und dass dies sie nicht davon abhält, Massai zu sein. Ich träume davon, eine NGO namens «Maasai Women's Voice» zu gründen, um den marginalisierten Maasai-Frauen eine Stimme zu geben, die seit vielen Jahren unterdrückt werden. Ich möchte eine Plattform schaffen, wo ihre Meinung und ihre Stimme wertgeschätzt werden. Ich möchte, dass den Frauen zugehört wird und sie nicht länger als Eigentum der Männer behandelt werden.

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Meinung

Konstante Veränderung

24.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Der letzte «global»-Auftakt von Mark Herkenrath als Geschäftsleiter von Alliance Sud.

Konstante Veränderung

© Daniel Rihs / Alliance Sud

Die einzige Konstante im Leben, so lehrte Heraklit, ist die Veränderung. Trotzdem ist es schon fast 13 Jahre her, dass ich meine erste Stelle bei Alliance Sud antrat. Nun ist aus familiären Gründen die Zeit gekommen, um Abschied zu nehmen – ein guter Moment, um gleichzeitig zurück und vorwärts zu schauen.

Als ich 2008 bei Alliance Sud die Fachverantwortung für das Dossier «Steuerpolitik» übernahm, glaubte Finanzminister Hans-Rudolf Merz noch, das Schweizer Bankgeheimnis sei so unverrückbar wie das Gotthardmassiv. Steuerhinterzieher und korrupte Potentaten aus Entwicklungsländern, die ihre Vermögen in der Schweiz verstecken wollten, hatten freie Bahn. Dann kam die globale Finanz- und Wirtschaftskrise: Sie gab vielen der Millenniums-Entwicklungsziele, die bis 2015 hätten erfüllt sein sollen, den Dolchstoss; dafür brachte sie Bewegung in den Kampf gegen die Steuerflucht.

Plötzlich waren auch die mächtigen Industrieländer daran interessiert, gegen Steuersünder vorzugehen. Sie brauchten dringend mehr Staatseinnahmen, um ihre milliardenschweren Rettungspakete für die Banken zu finanzieren. Alliance Sud musste allerdings jahrelang weiterkämpfen, bis die Schweiz den automatischen Informationsaustausch in Steuerfragen endlich auch auf die Entwicklungsländer ausdehnte. Gegen die unseligen Anreize für multinationale Unternehmen, ihre Gewinne aus ärmeren Ländern weitgehend unversteuert in die Schweiz zu verschieben, kämpft sie immer noch.

Als ich 2015 die Nachfolge von Peter Niggli als Geschäftsleiter von Alliance Sud antreten durfte, lösten gerade die Ziele für nachhaltige Entwicklung die Millenniums-Entwicklungsziele ab. Die reichen Industrieländer haben sich mit der Agenda 2030 auf einen politischen Kurs verpflichtet, der sich nicht bloss an kurzfristigen nationalen Eigeninteressen ausrichtet, sondern dem langfristigen Wohlergehen der Menschen und des Planeten dient. Umso erstaunlicher ist, mit wieviel Leidenschaft sich heute gewisse BundesrätInnen und ParlamentarierInnen darüber ärgern, wenn sich die NGOs im Namen der Menschrechte und des Umweltschutzes in die Schweizer Politik einmischen.  

Alliance Sud eckte damals wie heute politisch an. Sie sollte sich auch von den jüngsten Retourkutschen gegen eine entwicklungspolitisch aktive Zivilgesellschaft nicht beeindrucken lassen. Eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige Entwicklung der Welt braucht dringender denn je eine Schweiz, die jegliche Politik – von der Aussenpolitik über die Klimapolitik bis zur Wirtschaftspolitik – kohärent an diesem Ziel ausrichtet. Dafür werden sich das Team, die Trägerorganisationen und die Verbündeten von Alliance Sud, denen ich hier von ganzem Herzen für die wunderbare Zusammenarbeit danken möchte, auch in Zukunft stark machen – mit Herzblut, unermüdlichem Einsatz und der Kraft der richtigen Argumente.

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Artikel

Auf Wiedersehen Mark Herkenrath

24.06.2021, Internationale Zusammenarbeit

Nach 13 Jahren unermüdlichem Einsatz für eine sozial gerechte und nachhaltige Schweizer Politik gegenüber dem globalen Süden verlässt unser Geschäftsleiter Mark Herkenrath Alliance Sud per Ende Juli 2021.

Auf Wiedersehen Mark Herkenrath

Sein Wirken bei Alliance Sud wird von allen Träger- und Partnerorganisationen ausserordentlich geschätzt. Mark Herkenrath hat Enormes geleistet und Alliance Sud über Jahre geprägt und weiterentwickelt. Das Team und der Vorstand bedanken sich herzlich bei ihm und werden seinen scharfen Verstand, sein politisch-strategisches Gespür und sein persönliches Engagement sicher vermissen.

Mark Herkenrath ist Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich. Er forschte unter anderem zu den Entwicklungsfolgen der wirtschaftlichen Globalisierung und zum zivilgesellschaftlichen Widerstand in Lateinamerika und den USA gegen das panamerikanische Freihandelsabkommen ALCA. Er gehört bereits seit 2008 zum Team von Alliance Sud und war verantwortlich für den Fachbereich internationale Finanz- und Steuerpolitik, bevor er im Jahr 2015 die Geschäftsleitung übernahm. Bis zum 14. Juni 2021 war er auch Mitglied des Initiativkomitees der Konzernverantwortungsinitiative. Nun verlässt er Alliance Sud aus familiären Gründen. Der Vorstand von Alliance Sud hat die Stelle neu ausgeschrieben.

In seinem letzten Auftakt fürs «global» und im Abschiedsinterview lesen Sie, was Mark Herkenrath Alliance Sud mit auf den Weg geben möchte.

Multilaterale Zusammenarbeit

Multilaterale Zusammen­arbeit

Alliance Sud setzt sich für einen wertebasierten und menschenzentrierten Multilateralismus ein. Dem stehen die Eigeninteressen der Länder – auch der Schweiz – entgegen und viele multilaterale Organisationen werden weiterhin vom Norden dominiert. Dies gilt es zu überwinden.

Worum es geht >

Worum es geht

Es ist unbestritten, dass ohne wirksame multilaterale Organisationen die drängenden globalen Probleme nicht gelöst werden können. Ebenso sind sie Teil eines unverzichtbaren Systems der internationalen Diplomatie und des Dialogs. Oftmals stehen aber die Eigeninteressen der Mitgliedstaaten im Vordergrund. Vor allem ausserhalb des UNO-Systems dominieren die Interessen des Nordens viele multilaterale Organisationen; eklatant sichtbar ist das an der Entscheidungs- und Leitungsstruktur des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.

Alliance Sud setzt sich für einen wertebasierten und menschenzentrierten Multilateralismus ein. Dies bedeutet, dass die Interessen des Globalen Südens und der Zivilgesellschaft in den multilateralen Organisationen viel mehr Gewicht erhalten müssen. Auch die Schweiz verfolgt egoistisch ihre eigenen Interessen, wenn es um multilaterale Handels-, Finanz- und Steuerpolitik geht. Dies gilt es zu überwinden; die Schweiz muss ihren Einfluss in den multilateralen Organisationen nutzen, um die Menschenrechte zu stärken und die Umsetzung der Agenda 2030 voranzubringen.

Entwicklungszusammenarbeit

Entwicklung und Zusammen­arbeit (EZA)

Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe leistet einen wirksamen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung und Frieden in der Welt. Voraussetzung dafür sind die «Lokalisierung» und die «Dekolonisierung» der einstigen «Entwicklungshilfe». Alliance Sud setzt sich für eine EZA ein, die sich an den Prioritäten der Partnerländer orientiert und zivilgesellschaftliche Organisationen stärkt. 

Worum es geht >

Worum es geht

Stimmen aus dem Globalen Süden – vor allem aus der Zivilgesellschaft – fordern immer lauter, die gesamte Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sei zu dekolonisieren, an den Prioritäten der Partnerländer auszurichten sowie eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu etablieren.

Dafür braucht es kontinuierliche Anstrengungen, um bestehende Muster der Finanzierung, Wissensgenerierung und Zusammenarbeit aufzubrechen, Entscheidungsmacht zu teilen und Platz für nicht-westliche Denk- und Handlungsmuster zu machen. Schliesslich müssen rassistische Bilder, Jargons und Verhaltensweisen erkannt und überwunden werden. Alliance Sud setzt sich mit ihrer Arbeit und ihrer Kommunikation für die Überwindung ungleicher Machtverhältnisse und Praktiken ein.