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Von der Polykrise zur Sinnkrise

09.12.2025, Internationale Zusammenarbeit

Während die Welt von vielfältigen Krisen betroffen ist, die dringend globaler Lösungen bedürfen, kürzen die meisten Staaten – allen voran die USA – ihre Budgets für die internationale Zusammenarbeit massiv. Damit stürzen sie den gesamten Sektor in eine existenzielle Krise. Analyse von Kristina Lanz und Laura Ebneter

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Von der Polykrise zur Sinnkrise

Hilfestopp trotz Krieg und Hunger: Geflüchtete aus dem umkämpften Osten der Demokratischen Republik Kongo stehen neben der letzten USAID-Essenslieferung in Burundi. © Keystone/AFP/Luis Tato

Die internationale Zusammenarbeit (IZA) hat – wenn auch nicht immer perfekt und oft von nationalen Eigeninteressen getrieben – sowohl auf multilateraler wie auch auf bilateraler Ebene viel erreicht. Mit der UNO wurde in der Nachkriegszeit eine Instanz geschaffen, in der alle Länder auf Augenhöhe miteinander diskutieren und Lösungen für gemeinsame Probleme entwickeln. Mit verschiedenen spezialisierten Agenturen widmet sich die UNO allen globalen Problemfeldern; mit internationalen Abkommen wie etwa dem Pariser Klimaabkommen oder den Zielen für nachhaltige Entwicklung wurden gemeinsame Rahmenwerke zur Bearbeitung dringlicher Probleme der Menschheit geschaffen.

Die bilaterale, zwischenstaatliche Entwicklungszusammenarbeit – entstanden im Kontext der Dekolonisierung und anfangs eng mit der Geopolitik des Kalten Krieges verknüpft – hat sich über die Jahre immer mehr gewandelt: weniger top-down, breiter aufgestellt und lokal verankert. Sie hat unter anderem zu substanziellen Verbesserungen in den Bereichen Gesundheit, Müttersterblichkeit oder Bildung beigetragen und dazu geführt, dass Themen wie Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit oder Demokratisierung weltweit breiter verankert wurden.

Natürlich zeigen sowohl die multilaterale wie auch die bilaterale Zusammenarbeit schon länger Krankheitssymptome (wie etwa die steigende Fragmentierung und Bürokratisierung). Sie haben sich auch nie ganz aus der Dominanz des Westens gelöst, sind aber dennoch Teil einer globalen Werteordnung, die auf Frieden, universellen Menschenrechten, internationaler Solidarität und globaler Gerechtigkeit basiert. Und genau diese Werte und damit auch die vielfältigen Errungenschaften der internationalen Zusammenarbeit sind nun gefährdet.

Die IZA in der Krise

Während sich die globale Polykrise zuspitzt, verschanzen sich immer mehr Länder hinter (sehr kurzfristigen) nationalen Eigeninteressen, rüsten auf und kürzen die Mittel der internationalen Zusammenarbeit massiv. Zudem werden die eigentlich für die Armutsreduktion vorgesehenen Mittel schon seit Jahren schleichend umverteilt. Dies zeigt sich auf vielfältige Art und Weise: 

  • Während die Mehrheit der OECD-Geberländer nach wie vor weit entfernt davon ist, gemäss UNO-Vorgabe 0,7% ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) für die internationale Zusammenarbeit auszugeben, verlässt ein immer grösserer Teil der sogenannten «Entwicklungsgelder» nie das eigene Land. Die gemäss der Regelung des OECD-Entwicklungsausschusses (OECD-DAC) an die öffentliche Entwicklungshilfe (APD) anrechenbaren Ausgaben für die Unterkunft von Flüchtlingen im eigenen Land machen einen immer grösseren Teil der APD aus. Dieser stieg von 6,9% im Jahr 2021 auf 13,1% im Jahr 2024 an.
  • Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs kam es zu massiven Verschiebungen von Geldern weg von den ärmsten Ländern hin zur Ukraine. 2021 betrug ihr Anteil an der APD 0,5%, 2024 lag er bei 7,4%.
  • Immer mehr Mittel fliessen in verschiedene Privatsektorinstrumente (inklusive tied aid), die vor allem den Ländern mittleren Einkommens zugutekommen.

Im Kontext zunehmender rechtspopulistischer Strömungen, welche mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen, erscheint die aktuelle Krise als weit mehr als eine vorübergehende finanzielle Verschlechterung. Es handelt sich um einen Wendepunkt in Bezug auf die politischen Ziele, die werteorientierte Ausrichtung und die institutionellen Grundlagen der IZA. Der Grundsatz, dass reichere Länder ärmere Länder bei ihren Entwicklungsbestrebungen unterstützen sollen, wird fundamental in Frage gestellt. Die auf gemeinsame Werte, Armutsreduktion und Multilateralismus ausgerichtete internationale Zusammenarbeit weicht nach und nach einem auf wirtschaftliche sowie innen- und sicherheitspolitische Eigeninteressen basierten Paradigma.

Und wo steht der «Globale Süden»?

Genauso wie auch der «Westen» als Einheit immer mehr zur Fiktion wird, ist es der «Globale Süden» schon lange. China, das im UNO-System zum Teil immer noch als «Entwicklungsland» angesehen wird, ist selbst ein gewichtiger Akteur in der internationalen Zusammenarbeit. Dasselbe gilt für die Golfstaaten oder die Türkei; auch Länder wie Indien oder Brasilien sind sowohl Empfänger wie auch Geberländer. Die steigende Relevanz sogenannter nicht-traditioneller Geber zeigt sich auch in einer ganzen Reihe neuer multilateraler Gremien (wie etwa der Asiatischen Infrastruktur- und Investmentbank AIIB oder der Neuen Entwicklungsbank NDB), welche im Gegensatz zu vielen «traditionellen» Gremien wie etwa der Weltbank oder dem IWF nicht vom Westen dominiert sind.

 

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Die Weltmächte umgarnen Angola als Rohstofftransitland; den Ärmsten bringt das nichts.
© Tommy Trenchard/Panos Pictures

 

So ist es auch nicht erstaunlich, dass viele der ärmeren und ärmsten Länder, die unter dem Gewicht eines ungerechten, von westlichen Interessen dominierten globalen Finanz- und Wirtschaftssystems ächzen, sich immer mehr vom Westen abwenden und lieber mit anderen Geberländern, wie China oder Russland, zusammenarbeiten. Und während der Kollaps der internationalen Zusammenarbeit voraussichtlich Millionen von Todesopfern fordern wird, haben verschiedene afrikanische Staatschefs verlauten lassen, dass dieser Umbruch «längst überfällig» gewesen sei (Präsident Hichilema, Zambia) und als Signal gesehen werden müsse, sich stärker auf die eigenen Kräfte zu verlassen (Präsident Mahama, Ghana). Auch die Zivilgesellschaft im sogenannten Globalen Süden fordert nun immer lauter Reformen der internationalen Zusammenarbeit und gerechtere Rahmenbedingungen, die es den ärmeren Ländern erlauben würden, ihre Ressourcen für die eigene Entwicklung zu brauchen.

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Expert:innen sind sich einig, dass mit der Zerschlagung von USAID ein neues Zeitalter der internationalen Zusammenarbeit begonnen hat. Nicht einig sind sie sich allerdings bei den propagierten Lösungsansätzen für die aktuelle Krise. Während die meisten europäischen Entwicklungsagenturen verstärkt der Maxime  «Mobilisierung des Privatsektors» folgen, werden in den globalen Netzwerken der Zivilgesellschaft weitaus grundlegendere strukturelle Reformen diskutiert.

 

Auch der immer lauter werdende Ruf nach Dekolonisierung und Lokalisierung der internationalen Zusammenarbeit muss endlich gehört werden.

 

Denn bei allen Erfolgen der internationalen Zusammenarbeit besteht durchaus Reformbedarf – bei der immer stärkeren Fragmentierung, der Bürokratisierung, aber auch bei der Lokalisierung und Dekolonisierung der IZA. Die aktuelle Krise der internationalen Zusammenarbeit sollte somit auch genutzt werden, um bestehende Strukturen zu überdenken und neu zu gestalten.

Während sich die Anzahl offizieller Entwicklungsakteure zwischen 2000 und 2020 mehr als verdoppelt hat (von etwa 212 auf 544), ist der finanzielle Umfang einzelner Transaktionen stark gesunken. Viele Empfängerländer sind heute mit über 150 verschiedenen Agenturen in Kontakt, von denen die meisten ihre jeweils eigenen administrativen Anforderungen stellen, anstatt sich an den Systemen der Empfängerländer zu orientieren. Hier braucht es dringend eine bessere Zusammenarbeit aller Akteure sowie die konsequente Ausrichtung aller Entwicklungsakteure an den Bedürfnissen und administrativen Systemen der Empfängerländer (country ownership).

Und auch der immer lauter werdende Ruf nach Dekolonisierung und Lokalisierung der internationalen Zusammenarbeit muss endlich gehört werden. Dies bedingt nicht nur dringend notwendige Reformen wichtiger multilateraler Gremien wie des IWF, der Weltbank, dem OECD-Entwicklungshilfeausschuss oder dem UNO-Sicherheitsrat, um die Stimme der «Entwicklungsländer» zu stärken, sondern auch Reformen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Lokalisierung. Dazu müssen komplizierte bürokratische Anforderungen, die es lokalen Entwicklungsakteuren erschweren, an Gelder zu kommen und Projekte und Programme unkompliziert und effizient umzusetzen, abgebaut werden. Ebenso notwendig sind die gezielte Reflexion und der konsequente Abbau von Machtungleichheiten in Entscheid- und Umsetzungsstrukturen der einzelnen Akteure.

Gerechte Nord-Süd Beziehungen gestalten

Die Ausgaben für internationale Zusammenarbeit bilden ausserdem nur einen von vielen globalen Finanzflüssen. Gemäss der UN-Organisation für Handel und Entwicklung UNCTAD verliert Afrika jedes Jahr 89 Milliarden Dollar durch unlautere Finanzflüsse – dies ist zwei Mal mehr als die gesamte internationale Zusammenarbeit des Kontinents. Zentral sind dabei die Steuerflucht und der Rohstoffsektor. Für die ärmsten Länder hat dies drastische Auswirkungen, denn aufgrund dieses Mittelabflusses fehlt ihnen das Steuersubstrat, um Bildungs- und Gesundheitssysteme zu finanzieren. Gleichzeitig sind viele ärmere Länder hoch verschuldet. Gemäss UNCTAD geben aktuell 61 Entwicklungsländer gemäss Kategorisierung der UNO über 10% ihrer Staatseinnahmen für den Schuldendienst aus. In einigen Ländern sind es gar 30-40% und damit bei weitem mehr als diese Länder für Gesundheit und Bildung ausgeben.

Um weltweit Armut und Hunger zu reduzieren, braucht es somit weit mehr als nur die internationale Zusammenarbeit – es braucht auch eine gerechte Aussen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, die sicherstellt, dass die reichen Länder nicht länger auf Kosten der armen Länder leben.

Die internationale Zusammenarbeit befindet sich im Umbruch – weltweit und auch in der Schweiz. Wichtige Institutionen gehen zwar tiefgreifenden strukturellen Reformen aus dem Weg und delegieren die Verantwortung lieber an den Privatsektor. Aber es gibt immer mehr Stimmen, die sich eine neue, wahrhaft wertebasierte internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe wünschen. Eine internationale Zusammenarbeit, die eingebettet ist in eine breitere, reformierte Aussen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Angesichts der immer akuter werdenden globalen Krisen und dem fortschreitenden politischen Rechtsrutsch, scheint es aktuell wichtiger denn je, dass sich eine nationale und global koordinierte Zivilgesellschaft formiert, die sich diesen Tendenzen mit einem klaren Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechten und internationaler Zusammenarbeit entschieden entgegenstellt.

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Medien

Blinde Flecken in der Auslandsberichterstattung

27.11.2025, Internationale Zusammenarbeit, Weitere Themen

Die Vielfalt in der Auslandsberichterstattung der Schweizer Medien nimmt weiter ab, wie Daten des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich zeigen. Vernachlässigt werden oft die Länder des Globalen Südens, auf denen die internationale Zusammenarbeit ihren Fokus legt.

Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

Blinde Flecken in der Auslandsberichterstattung

Myanmar steht selten im Brennpunkt der Medien – wie viele Länder des Globalen Südens. © Panos Pictures

Je globalisierter die Welt ist, umso mehr müsste die Bevölkerung darüber informiert werden, was anderswo geschieht und sich verändert. Die Entwicklung geht aber seit Jahren in die andere Richtung. Anlässlich des 40-Jahr-Jubiläums von Alliance Sud im Jahr 2011 hatte Kommunikationswissenschaftler und fög-Mitgründer Kurt Imhof noch festgestellt, dass Afrika, Asien und Lateinamerika im Kalten Krieg zusammen fast die Hälfte der aussenpolitischen Berichterstattung ausmachten. Seitdem nimmt das Interesse fürs Ausland ab und Länder des Globalen Südens sind immer weniger sichtbar. Unterschiede im Gewicht der Auslandsberichterstattung sind aber zwischen den Medien beträchtlich, wie die Daten des fög zeigen, die von den Kommunikationswissenschaftlern Linards Udris und Dario Siegen zusammengestellt und aufbereitet wurden.

Was die Forschung beobachtet

1) Die Berichterstattung über das Ausland hat in der Schweiz viele blinde Flecken. Dies ist ein altbekanntes Problem, das die Forschung im Kontext der «Nachrichtengeographie» auch in anderen Ländern festgestellt hat. Viel thematisiert werden die USA, die grossen Nachbarländer Deutschland und Frankreich oder aktuelle Krisen- und Kriegsgebiete wie beispielsweise Israel und Palästina sowie Russland und die Ukraine. Sehr wenig thematisiert werden Länder in Ozeanien, Lateinamerika und Afrika.

2) Der Rückgang der Auslandsberichterstattung betrifft nicht die Information über Politik im Ausland. Darüber berichteten die Schweizer Medien 2024 anteilsmässig immer noch gleich viel wie 2015. Die Daten aus dem «Jahrbuch Qualität der Medien 2025»  zeigen: Rund jeder siebte Beitrag der Gesamtberichterstattung widmete sich der Politik im Ausland. Abgenommen hat also die Berichterstattung übers Ausland in nicht-politischen Themenbereichen (Wirtschaft, Kultur, Sport, Human Interest).

3) Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Schweizer Medien, besonders was das Gewicht der redaktionellen Eigenleistungen betrifft. Besonders gut schneiden hier die Radio- und Fernsehsendungen der SRG ab, und zwar sowohl von SRF als auch von RTS und RSI, sowie die NZZ und die Republik in der Deutschschweiz und Heidi.News in der Suisse romande. Es handelt sich damit gleichzeitig um Medien, die auch sonst eine vergleichsweise überdurchschnittliche Qualität aufweisen.

4) Vielfalt nimmt ab. Eine Zeitreihe von 1998 bis 2024 in drei ausgewählten Medien (Blick, NZZ, Tages-Anzeiger Print) und beschränkt auf den Themenbereich Politik zeigt: Im Laufe der Zeit nimmt die «Ungleichverteilung» etwas zu, d. h. die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Länder ist 2024 noch ungleicher verteilt als 1998. Entsprechend schrumpft die Berichterstattung über diejenigen Länder, die wenig thematisiert werden. Zeitgleich nimmt die Konzentration leicht zu.

5) Jenseits der Medienberichterstattung ist es wichtig, auch andere Informationsvermittler anzuschauen. Zentral ist die Gewichtung von inländischen und ausländischen Quellen in den Antworten von KI-Chatbots. Denn vor allem jüngere Menschen informieren sich immer mehr via Künstliche Intelligenz über Nachrichten. Eine aktuelle Studie des fög, veröffentlicht ebenfalls im «Jahrbuch Qualität der Medien 2025», zeigt, dass gerade ausländische Quellen, vor allem ausländische Medien, sehr stark sichtbar sind – zum Teil auch bei Nachrichten, bei denen es um die Schweiz geht. Aus welchen Ländern diese zitierten Quellen stammen, ist abhängig vom konkreten KI-Chatbot.

Quelle: fög 2025.

Mediale Aufmerksamkeit über den gesamten Untersuchungszeitraum von 2015-2024 (logarithmische Skala). Die Farbstufen stellen multiplikative Unterschiede dar, damit diese auch bei wenig beachteten Ländern erkennbar sind. Lesebeispiel: Über die Vereinigten Staaten wird rund 10x so viel berichtet wie über Brasilien und rund 100x so viel wie über Uganda. Datengrundlage: Tages-Anzeiger, Blick und Neue Zürcher Zeitung 1998 bis 2024 (gesamte Politikberichterstattung).

Das Ferne geht uns nah

«Wenn die Welt in den Medien schrumpft, verschlechtern sich auch die Bedingungen für den demokratischen Diskurs in der Schweiz», sagt Markus Mugglin, ehemaliger Redaktionsleiter des «Echo der Zeit» von Radio SRF, eine der ältesten politischen Hintergrundsendungen im deutschsprachigen Raum. Er ist auch im Vorstand von real21, einem Verein, den Alliance Sud und das Institut für Journalismus und Kommunikation (MAZ) vor zehn Jahren gegründet haben, um mit einem Medienfonds und einem Medienpreis die Auslandsberichterstattung in der Deutschschweiz zu fördern. An der Jubiläumsveranstaltung von real21, die Ende November an der Universität Zürich stattgefunden hat, wurden auch die Auswertungen des fög vorgestellt und mit Medienschaffenden diskutiert (siehe Kasten unten).  

Markus Mugglin ist besorgt über den spürbaren Rückgang der Berichterstattung über den Globalen Süden in der Schweiz, der weitgehend dem gleichen Trend in den Nachbarländern Deutschland und Österreich folgt. Denn so würden insbesondere die Folgen wirtschaftlicher Aktivitäten der Schweiz im Ausland ausgeblendet. Die Schweiz hat zum Beispiel in diesem Jahr Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten und mit Indien abgeschlossen; weitere Verhandlungen mit Ländern aus dem Globalen Süden sind im Gang. In der westafrikanischen Elfenbeinküste engagiert sich die Schweiz über die Exportrisikoversicherung für den Bau eines Gaskraftwerks. «Das Ferne geht uns wirtschaftspolitisch offensichtlich sehr nah», meint Mugglin. 

Was brauchen die Redaktionen, um die Auslandsberichterstattung nicht zu vernachlässigen? Die erste Antwort lautet: mehr Mittel. Die zweite: mehr Sensibilisierung. «Es braucht das Bewusstsein, dass die Geschehnisse in fernen Gebieten und Ländern uns viel näher gehen als es auf den ersten Blick erscheinen mag», sagt Mugglin. Somit steht die Ausbildung von Journalist:innen im Fokus der Medienpolitik. Mugglin wünscht sich, dass Ausbildungsbeiträge neu auch als Stipendien für Aufenthalte in aussereuropäischen Ländern vergeben werden – verbunden mit der Auflage, Reportagen und Berichte über Themen global relevanter Entwicklungen in Schweizer Medien zu publizieren. 

Es könnte so verstärkt werden, was real21 bereits tut. In der Westschweiz könnte die Weiterführung des Projekts «Enquête d'ailleurs»  gesichert werden, in dessen Rahmen Tandems von Medienschaffenden aus der Schweiz und aus Ländern des Globalen Südens im je anderen Land Recherchen zu einem bestimmten Thema publizieren. «Es wäre Ausbildung im doppelten Sinne», sagt Mugglin: «Sowohl für die Medienschaffenden wie auch für das Publikum würden solche Reportagen mehr bieten als die gängigen Schlagzeilen und Berichte über Katastrophen und Konflikte ausserhalb Europas.»

 

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Sarah Fluck, Afrika-Korrespondentin von Radio SRF, gewinnt den diesjährigen «real21»-Medienpreis. 
© Jean-Pierre Ritler / real21

«real21» zeichnet fünf herausragende Reportagen zum Jubiläum aus 

Zum zehnjährigen Jubiläum des Vereins «real21 – Die Welt verstehen» sind Ende November an der Universität Zürich fünf herausragende Reportagen und Berichte ausgezeichnet worden. Die prämierten Beiträge beleuchten Entwicklungen im Sudan, in Südkorea, in der Türkei, im Jemen und in Ghana und unterstreichen die Bedeutung sorgfältiger Auslandsberichterstattung für ein besseres Verständnis globaler Zusammenhänge. 

Sarah Fluck, Afrika-Korrespondentin von Radio SRF, gewinnt den diesjährigen «real21»-Medienpreis für ihre Reportage «Khartum – zerstörte Lebensader des Sudan». Den zweiten und dritten Preis erhalten Manuela Enggist für die in der Annabelle publizierte Reportage «Viermal Nein» und Klaus Petrus für die im Beobachter erschienene Analyse «Der bittere Nachgeschmack der Cashews». Anerkennungspreise gehen an Helene Aecherli für «Hinter den Mauern von Sanaa», erschienen im brefmagazin.ch, und Marianne Kägi für «Die Schattenseiten der Jeans-Produktion in der Türkei», ausgestrahlt im Kassensturz von Fernsehen SRF. 

Die Jury würdigt den Hauptpreis für Sarah Fluck als Beitrag, der «sehr viel mehr als eine Kriegsreportage» über die grösste humanitäre Katastrophe unserer Zeit ist. Ihre Arbeit ist ein einfühlsames Porträt einer Stadt und ihrer Bewohner:innen und beschreibt aus nächster Nähe, was Krieg im Alltag bedeutet. «Sarah Fluck beschreibt die Gräuel des Krieges ohne Beschönigung, aber sie zeigt auch, dass er den Stolz und die Liebe der Sudanes:innen zu ihrem Land und zu ihrer Kultur nicht zerstören konnte», lobt die Jury.

Mehr dazu >>> auf der Website von real21.

Die Laudatio von Andrea Spalinger, NZZ.

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Vereinte Nationen

Nach 80 Jahren wichtiger denn je

24.10.2025, Internationale Zusammenarbeit, Agenda 2030

Der Multilateralismus steckt in der Krise. Und doch ist die UNO-Charta alles andere als passé. Sie erinnert uns an das Versprechen für eine bessere Welt, die nur durch internationale Zusammenarbeit und Dekolonisierung möglich ist.

Andreas Missbach
Andreas Missbach

Geschäftsleiter

Nach 80 Jahren wichtiger denn je

Noch in den letzten Kriegsmonaten 1945 handeln Delegationen aus aller Welt in San Francisco die UNO-Charta aus, unter Beteiligung einer für die UNO prägenden Mehrheit von Ländern des Globalen Südens. 
© Keystone / Photopress-Archiv / Str

Vor 80 Jahren, am 24. Oktober 1945, trat die UNO-Charta in Kraft. Nach ihren geistigen Vätern (und wenigen Müttern) aus den USA und den europäischen Noch-Kolonialmächten sollte sie der Friedenswahrung auf der Basis des Völkerrechts dienen – wobei der Völkerbund gescheitert war – und durch die universelle Mitgliedschaft die Legitimität der Nachkriegsordnung stärken. Wobei es dann doch nicht zu viel der Legitimität werden sollte. Dafür, dass den Mächtigen nicht das Heft aus der Hand gerissen werden konnte, sollte für die Veto-Mächte der Sicherheitsrat sorgen.

Dass es bei der UNO auch um wirtschaftliche Fragen gehen soll, war nicht vorgesehen, denn die wirtschaftliche Nachkriegsordnung hatten die späteren Siegermächte ja bereits 1944 in Bretton-Woods gezimmert. Dabei waren die Länder des Globalen Südens – soweit überhaupt schon unabhängig (wie in Lateinamerika) oder teilautonom (wie Indien) – nur am Katzentisch vertreten. Entsprechend wenig wurde ihr Anliegen, bei ihrer Entwicklung unterstützt und nicht behindert zu werden, aufgenommen. In den Entscheidungsgremien hatten sie durch «one Dollar, one vote» erst recht nichts zu sagen.

Mit «one country, one vote» sollte es bei der UNO anders werden, hofften besonders die lateinamerikanischen Länder – sie stellten mehr Gründungsmitglieder als Europa. Zusammen mit den anderen Ländern des Globalen Südens hatten sie sich erfolgreich für ein Kapitel  «Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet» und für einen Wirtschafts- und Sozialrat eingesetzt. In Artikel 55 des entsprechenden Kapitels heisst es, die UNO solle «die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg» fördern.

Auch nicht vorgesehen war, dass die UNO eine zentrale Rolle bei der Dekolonisierung spielen sollte. Als bald eine ihrer Haupttätigkeiten war sie dann aber entscheidend, dass der Weg in die Unabhängigkeit in vielen Ländern gelang. Der zweite UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld bezahlte für seinen Einsatz mit dem Leben, er starb zusammen mit fünfzehn weiteren Menschen bei einem Flugzeugabsturz als er im gerade unabhängig gewordenen Kongo im Konflikt um die rohstoffreiche, abgespaltene Region Katanga vermitteln wollte. Ob und allenfalls von wem sein Flugzeug abgeschossen wurde ist nach vielen Untersuchungen immer noch nicht klar. In anderen Ländern kam es während und nach der Dekolonisierung zu offenen Stellvertreterkriegen der Vetomächte USA und der Sowjetunion – gegen deren Machtpolitik war die UNO chancenlos.

Das Ende des (formal-politischen) Kolonialismus erweiterte die Weltorganisation um viele neue Mitglieder. Dies scheint der NZZ in ihrem Rundumschlag über und grösstenteils gegen die UNO so grosses Unwohlsein zu verursachen, dass der Rassismus nur schwach verhüllt zwischen den Zeilen spricht: «Die Uno ist heute nicht mehr dieselbe Organisation wie 1945 und hat sich von ihren Gründungsprinzipien entfernt. Die Uno zählte damals 51 überwiegend westliche Mitglieder. Heute sind es 193.» Das ist übrigens auch falsch – es waren lediglich 12 westliche Gründungsmitglieder.

Zu den grössten und wichtigsten Errungenschaften der UNO gehört, dass sie in einem langen und konfliktiven Prozess seit 1967 den globalen Konsens erreichte, dass Umwelt und Entwicklung als verzahnte Themen nur gemeinsam angegangen werden können. Trotz der Schwerfälligkeit, die die universelle Mitgliedschaft von (nur in der Generalversammlung) gleichberechtigen Ländern mit sich bringen kann, gelang es, Prozesse zu etablieren, mit denen der Klimawandel angegangen werden könnte: ein zwischenstaatliches wissenschaftliches Gremium (IPCC), das auf dem konsensuellen Stand des Wissens die multilateralen Prozesse informiert, eine Rahmenkonvention und ein weiterführendes Protokoll. Schliesslich gelang es – als bindende Emissionsreduktionen gescheitert waren – mit dem Pariser Abkommen, einen Prozess zu etablieren, der trotz Freiwilligkeit Fortschritte ermöglichen könnte. Es ist nicht der UNO anzulasten, dass die Bewältigung der Klimakrise heute in der grössten Krise seit je steckt. Es ist der Macht der Mächtig(st)en geschuldet: Von Bush 1 (Nicht-Unterzeichnung der Klimarahmenkonvention) bis Trump 2 (no comment). Und Nein NZZ, Trump ist kein «heilsamer Schock», wie der Titel des besagten Artikels behauptete.

Ein Jubiläumstext sollte eigentlich nicht wie eine Grabrede klingen, darum hier Artikel 55 der UNO-Charta im Originalton, als Echo mit dem Versprechen auf eine bessere Welt:

«Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, fördern die Vereinten Nationen

a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg;

b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung;

c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion.»

Schweiz - Ukraine

Bundesrat verhilft der gebundenen Hilfe zum Comeback

12.11.2025, Internationale Zusammenarbeit, Entwicklungsfinanzierung

Unlängst hat der Bundesrat sein Abkommen mit der ukrainischen Regierung in die Vernehmlassung gegeben. Es soll eine gesetzliche Grundlage zur Subventionierung von Schweizer Unternehmen schaffen. Unter dem Deckmantel der «Zusammenarbeit» kehrt damit die längst überwunden geglaubte gebundene Hilfe zurück.

Laurent Matile
Laurent Matile

Experte für Unternehmen und Entwicklung

Bundesrat verhilft der gebundenen Hilfe zum Comeback

Eigennützige Hilfe aus der Schweiz: Sie will mit aus der Armutsbekämpfung abgezweigten Mitteln die eigene Privatwirtschaft subventionieren, statt ukrainische Firmen zu stärken. Bauarbeiter im zerbombten Charkiw.
© AP Photo/Vadim Ghirda

Liest man den Titel der Vorlage (Abkommen über die Zusammenarbeit im Wiederaufbauprozess der Ukraine), könnte man meinen, es gehe um das gesamte Länderprogramm Ukraine 2025-2028, das die Schweiz mit 1,5 Milliarden Franken aus dem Budget der internationalen Zusammenarbeit finanziert.

Setzt man die Lektüre bei der Präambel fort, so kommt dort der Wille der Parteien zum Ausdruck, die «Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft» zu stärken und die «Integration der Ukraine in den europäischen Markt» voranzutreiben. Ebenfalls wird die wichtige Rolle des Privatsektors für einen «effizienten und nachhaltigen Wiederaufbau» hervorgehoben. Man könnte nun vermuten, dass das Abkommen eine breite Palette von Massnahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit seitens der Schweiz umfasst, von denen vor allem die ukrainische Wirtschaft und die ukrainischen Unternehmen profitieren würden.

Dem ist jedoch nicht so. Der Kern des Abkommens besteht darin, die Modalitäten für eine nicht rückzahlbare finanzielle und technische Hilfe zum «Kauf von Waren und Dienstleistungen von Schweizer Unternehmen» für Wiederaufbauprojekte in der Ukraine zu definieren, insbesondere in den Bereichen Energie, Verkehr und Mobilität, Bauwesen und Wasser. Diese «Hilfe» wird vollständig aus dem Verpflichtungskredit des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) finanziert und unterliegt der Genehmigung durch das Parlament im Rahmen der Budgetdebatten. Gemäss Bundesrat soll dafür ein Drittel des Budgets von 1,5 Milliarden Franken für den Wiederaufbau der Ukraine im Zeitraum 2025-2028 zur Verfügung stehen, also 500 Millionen Franken.

 

Bereits genehmigte Projekte

Im August dieses Jahres wurden die ersten zwölf Projekte des Schweizer Privatsektors vorgestellt, die mit Mitteln aus dem Budget der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit gefördert werden. Gesamtbudget: 112 Millionen Franken, davon werden 93 Millionen von der Schweiz finanziert, der Rest von ukrainischen Unternehmen und Partnern. Die Projekte betreffen die Bereiche Infrastruktur (Energie, Wohnungsbau), öffentlicher Verkehr, Gesundheit und humanitäre Minenräumung. Zu den geförderten Unternehmen gehören Hitachi und Roche. Derzeit können nur Schweizer Unternehmen, die bereits in der Ukraine tätig sind, solche Finanzhilfen des SECO erhalten.

 

Zusammenarbeit entbehrt jeglicher gesetzlichen Grundlage

Die aufmerksame Leserschaft wird nun zu Recht fragen, auf welcher gesetzlichen Grundlage diese «technische und finanzielle Hilfe» beruht. Der erläuternde Bericht des Bundesrats ist in dieser Hinsicht klar. Diese finanziellen Massnahmen fallen nicht unter das Bundesgesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (BG IZA), da sie den aussenwirtschaftspolitischen Interessen der Schweiz dienen. Der Bericht lässt keine Zweifel offen: Der Schweizer Privatsektor liegt ausserhalb des Geltungsbereichs des BG IZA. Könnten die Mechanismen zur Unterstützung der Schweizer Exporte, zu denen das Gesetz über die Exportförderung und das Gesetz über die Schweizer Exportrisikoversicherung gehören, allenfalls als Gesetzesgrundlage dienen? Die Antwort lautet: nein. Laut Bundesrat sind sie punkto Zweck und Gegenstand erstens völlig unterschiedlich. Zweitens erlauben diese Gesetze keine Finanzierung von Schweizer Exporten bzw. Subventionen, da dies gegen die einschlägigen Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO) verstossen würde. Wir befinden uns also hier in einer rechtlichen Grauzone.

Mit einem juristischen Kunstgriff wurde das Abkommen jedoch so ausgestaltet, dass Käufe bei Schweizer Unternehmen – obwohl sie auf keiner ausdrücklichen schweizerischen Gesetzesgrundlage beruhen – dem Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) unterliegen. Dabei wird die Notwendigkeit unterstrichen, die «Rechtssicherheit» dieser Transaktionen zu gewährleisten. Dieser Ansatz hinkt allerdings.

Denn gemäss BöB ist die Schweiz verpflichtet, Unternehmen aus Ländern, die der Schweiz Reziprozität gewähren (insbesondere aus der Europäischen Union und der Ukraine), für Ausschreibungen zuzulassen. Diese Verpflichtung setzt das Abkommen kurzerhand ausser Kraft; ausländische Bieter werden hier von den Ausschreibungen ausgeschlossen, um sie Schweizer Unternehmen vorzubehalten. Damit riskiert der Bundesrat, dass die anderen Länder, insbesondere die EU-Mitgliedstaaten, Schweizer Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen in Zusammenhang mit ihren Kooperationsprojekten mit der Ukraine die Reziprozität entziehen. Darüber jedoch schweigt sich der erläuternde Bericht aus.

Ein überholter und problematischer Mechanismus

Abgesehen von den rechtlichen Feinheiten ist aus entwicklungspolitischer Sicht problematisch, dass der Bundesrat unter dem Deckmantel eines «Kooperationsabkommens» der gebundenen Hilfe (tied aid) zu einem Comeback verhilft. Die Rede ist von einer Praxis, die vom Entwicklungshilfeausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD-DAC) heftig kritisiert und aufgrund ihrer negativen Auswirkungen auf die Partnerländer aus der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz fast vollständig verbannt wurde. Somit stellt dieses Abkommen einen besorgniserregenden Präzedenzfall dar, da es diesen überholten und verpönten Mechanismus reaktiviert.

 

Es handelt sich hier um eine schleichende Umverteilung von Mitteln zur Armutsbekämpfung zugunsten von Akteuren des Privatsektors.

 

Im Bericht zur letzten Länderüberprüfung vom Juni 2025 durch den OECD-Entwicklungsausschuss (OECD/DAC Peer Review Switzerland 2025) wurde die Schweiz aufgefordert, diese Art der gebundenen Hilfe zu beenden. Denn dadurch, so die OECD, «kann das Empfängerland Güter und Dienstleistungen aus nahezu jedem Land beziehen, wodurch unnötige Kosten vermieden werden».

Exportsubventionen auf Kosten der Zusammenarbeit

Aus budgettechnischer Sicht gibt es zudem keinen ersichtlichen Grund, weshalb diese «Finanzhilfen in spezifischen Sektoren» – oder, treffender formuliert, diese Exportsubventionen von Schweizer Waren und Dienstleistungen – vollständig aus dem Budget der internationalen Zusammenarbeit finanziert werden sollen. Da sie ausschliesslich für Schweizer Unternehmen bestimmt sind und nicht auf dem Gesetz über die internationale Zusammenarbeit beruhen, können sie nicht als Instrument der internationalen Zusammenarbeit (IZA) der Schweiz betrachtet werden. Es handelt sich hier um eine schleichende Umverteilung von Mitteln zur Armutsbekämpfung zugunsten von Akteuren des Privatsektors und ist Teil eines negativen Trends, der die Ziele und den Zweck der internationalen Zusammenarbeit in Frage stellt.

Alliance Sud fordert daher, dass diese Finanzhilfen künftig nicht mehr aus dem Budget für internationale Zusammenarbeit bestritten werden. Wenn der Bundesrat diese Art der Unterstützung für Schweizer Unternehmen im Rahmen des Wiederaufbaus der Ukraine beibehalten möchte, sollte er dafür neue, separate Finanzierungsquellen erschliessen. Die Mittel der IZA müssen vorrangig für die Armutsbekämpfung und die Unterstützung benachteiligter Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden.

 

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Interview mit Gunjan Veda

«Wir haben die Kunst des Zuhörens verlernt»

30.09.2025, Internationale Zusammenarbeit

Dekolonisierung betrifft nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft einer gerechten internationalen Zusammenarbeit (IZA). Darüber hat Alliance Sud mit Gunjan Veda, Generalsekretärin des Movement for Community-led Development, gesprochen.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

«Wir haben die Kunst des Zuhörens verlernt»

Im Kasangadzi Area Program in Dowa, Malawi, nutzen Teilnehmende ein partizipatives Tool für gemeinschaftsgeführte Entwicklung. © Gunjan Veda / MCLD

Sie sind Expertin für die Dekolonisierung der IZA. Welche persönlichen Erfahrungen haben Ihr Bild der internationalen Zusammenarbeit geprägt?

Ich begann meine Laufbahn als Aktivistin in Indien und arbeitete dort fast 20 Jahre im Non-Profit- und Regierungssektor, bevor ich nach Kanada und in die USA zog. Das war eine Art Schock für mich. Als ich mit Institutionen wie USAID zu arbeiten begann, war mein erster Eindruck: Ich dachte, ich könnte Englisch. Aber offenbar konnte ich es nicht, denn der Jargon in diesem Sektor ist voller Fachbegriffe. Es gab nur wenige Momente, in denen wir einander wirklich zuhören und uns verstehen konnten. Diese Erfahrung war frustrierend und gleichzeitig aufschlussreich. Sie hat es mir ermöglicht, die vielfältigen Sichtweisen unterschiedlicher Akteursgruppen in der Majority und der Minority World zu verstehen.

Sie verwenden die Begriffe Majority und Minority World: Was verstehen Sie darunter?

Historisch haben wir viele Begriffe für Länder und Regionen benutzt, die wir zur Majority World zählen – Afrika, Lateinamerika, Karibik, Asien. Von «am wenigsten entwickelte Länder» über «Dritte Welt» oder «ressourcenarme Länder» bis hin zu «Globaler Süden». Jeder dieser Begriffe trägt nicht nur starke Machtverhältnisse in sich, sondern ist auch unzutreffend. Sie stellen die Majority World so dar, als sei sie weniger wert als die Minority World. Als ob sie unzureichend sei und in ihrer Entwicklung aufholen müsse.

Woher stammen die Begriffe?

Der Begriff Majority World wurde vom bangladeschischen Aktivisten und Fotografen Shahidul Alam in den frühen 1990er-Jahren geprägt. Er wollte damit die Minority World herausfordern: Wenn ihr Demokratie wirklich ernst nehmt, wie kann es dann sein, dass ein kleiner Teil der Welt über die grosse Mehrheit bestimmt? Für mich persönlich ist der Begriff auch aus einem weiteren Grund wichtig: Er erinnert uns in der Majority World daran, dass wir die Mehrheit der Weltbevölkerung sind, dass wir Einfluss haben und die Welt verändern können.

 

Gunjan Veda sitzt vor einer Palme, die in einem Topf auf einem Asphaltplatz steht. Sie trägt eine Brille, Ohrringe mit roten Fäden dran und ein schwarzes Kleid.

Gunjan Veda ist Generalsekretärin des Movement for Community-led Development, einem Netzwerk mit über 3000 lokalen, gemeinschaftsbasierten Organisationen. Als Politikstrategin, Menschenrechtsaktivistin und Autorin ist sie eine aktive Stimme in den Debatten über die Dekolonisierung und die Bewegung #ShiftThePower. Sie hat mit Organisationen wie USAID und der Weltbank zusammengearbeitet, um lokalen Stimmen im internationalen Entwicklungsdiskurs Gehör zu verschaffen. Routledge hat kürzlich ihr drittes Buch veröffentlicht: Community-led Development in Practice: We power our own change.

Finanzierungsstrukturen und gewisse Arbeitsweisen im Entwicklungs- und humanitären Sektor verstärkten ein Gefühl der Machtlosigkeit und Abhängigkeit.

 

Sie sind eine engagierte Unterstützerin der weltweit aktiven Bewegung #ShiftThePower. Sehen Sie bereits konkrete Anzeichen dafür, dass lokale Gemeinschaften mehr Entscheidungsmacht erhalten haben?

Das Movement for Community-led Development gehörte zu den frühen Unterstützern des Begriffs #ShiftThePower, als er 2016 geprägt wurde. Damals war es ein radikales Konzept, weil es die Machtungleichgewichte in unserem Sektor klar benannte. Inzwischen sind wir aber weitergegangen. Denn «Macht verschieben» impliziert, dass jemand – die Minority World oder Geldgeber –, der die Macht hat, diese abgeben müsste: den Gemeinschaften und Organisationen in der Majority World. Wir in der Majority World hätten auch Macht. Wir hatten sie schon immer. Der Kolonialismus versuchte, sie auszulöschen und uns ein Gefühl der Machtlosigkeit und Abhängigkeit überzustülpen. Finanzierungsstrukturen und gewisse Arbeitsweisen im Entwicklungs- und humanitären Sektor verstärkten dieses Gefühl zusätzlich. Mit der zunehmenden Diskussion über die Dekolonisierung erkennen dies immer mehr Menschen. Aber im Mainstream angekommen ist die Idee noch nicht.

Was hält die internationale Zusammenarbeit zurück?

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die allermeisten Menschen mit guten Absichten in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind. Wir arbeiten in diesem Bereich, weil wir an Menschenrechte glauben und etwas bewegen wollen. Aber die Institutionen der internationalen Zusammenarbeit – ob Regierungsstellen, Stiftungen oder auch NGOs – wurden nicht geschaffen, um eine gerechte Welt aufzubauen. Sie wurden als Instrumente der Kontrolle und der «Soft Power» entworfen. Menschen in der internationalen Zusammenarbeit fügen sich immer wieder diesen Logiken und fördern so ungewollt diejenigen Machtungleichgewichte, die sie eigentlich bekämpfen wollen. Das System verstärkt die Abhängigkeit und das koloniale Erbe. Und genau das hält uns zurück.

 

Es gibt weder Hauptdarsteller:innen noch Nebenrollen. In manchen Bereichen ist das Wissen der internationalen NGOs wichtig, in anderen das Wissen lokaler Akteure.

 

Wie also können wir die kolonialen Muster in unserem System überwinden?

Wir müssen unsere Rollen neu denken. Es gibt weder Hauptdarsteller:innen noch Nebenrollen. Jede Rolle ist wichtig, und es gibt Raum für alle. Die Diskussion über die Lokalisierung der Zusammenarbeit hat viele Ängste ausgelöst, insbesondere bei internationalen NGOs, die fürchten, dass ihr Wissen nicht mehr relevant ist, wenn lokale Akteure mehr Verantwortung und Macht erhalten. Aber darum geht es gar nicht. In manchen Bereichen ist ihr Wissen wichtig, in anderen das Wissen lokaler Akteure. Wir müssen unsere Rollen neu ganz nach unseren Stärken ausrichten. Wir müssen vom Konkurrenzdenken zu echter Zusammenarbeit kommen. Und wir müssen anfangen, einander ganz bewusst zuzuhören. Auch wenn es so einfach klingt – es ist unglaublich schwierig. Wir haben die Kunst des Zuhörens verlernt.

Wie könnten wir besser zuhören – und einander dadurch besser verstehen?

Zuhören erfordert einen grundlegenden Wandel in der Haltung. Wir müssen einsehen, dass auch Menschen, die nicht so aussehen oder klingen wie wir, die unsere Sprache nicht sprechen, keinen Zugang zu Eliteinstitutionen haben und vielleicht nie ihr Heimatland verlassen haben, Wissen, Erfahrung und Weisheit besitzen. Ihre Weltsicht zählt, ihre Ideen zählen, ihre Werte zählen. Wir müssen Sprachbarrieren abbauen, neugierig sein, Fragen stellen. Zuhören verlangt Demut und die Bereitschaft zu lernen.

Ist Zuhören der Schlüssel für den lange ersehnten Systemwandel in der internationalen Zusammenarbeit?

Um es klar zu sagen: Das System «Entwicklungszusammenarbeit» wird nie gerecht sein. Entwicklungszusammenarbeit wurde als System von Kontrolle und Macht geschaffen, um ehemalige Kolonien geopolitisch und wirtschaftlich nicht zu verlieren. Die Diskussion um die Lokalisierung der Zusammenarbeit macht ein ungerechtes System nur etwas weniger ungerecht.

Sollte also die internationale Zusammenarbeit überwunden werden?

Ich sage nicht, dass die internationale Zusammenarbeit abgeschafft werden soll. Das wäre aktuell eine Katastrophe für Millionen von Menschen weltweit, die aufgrund fortgesetzter Ausbeutung keinen Zugang zu Grundversorgung und keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen haben. Genau deshalb dürfen wir internationale Zusammenarbeit nicht als Hilfe oder Wohltätigkeit verstehen, sondern als Reparationen für historische und fortdauernde Unrechtssysteme.

 

Echten Systemwandel schaffen wir nur, wenn wir das globale Wirtschaftssystem grundlegend verändern. Gerechte Lösungen für stark verschuldete Länder und global gerechte Steuersysteme sind dringend nötig.

 

Was braucht es für einen Systemwandel?

Einen echten Systemwandel schaffen wir nur, wenn wir das globale Finanz- und Wirtschaftssystem grundlegend verändern. Gerechte Lösungen für stark verschuldete Länder und global gerechte Steuersysteme sind dringend nötig. Das würde den Regierungen der Majority World ermöglichen, für ihre Bevölkerung zu sorgen und sich von Entwicklungsgeldern loszusagen.

Welche Rolle sehen Sie für internationale NGOs in dieser Welt ohne Entwicklungszusammenarbeit?

Organisationen der Minority World haben Einfluss auf die Menschen und die Politik in ihren Ländern. Es ist enorm wichtig, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, weil das Verständnis von globaler Solidarität, Demokratie und Menschenrechten weitgehend verloren gegangen ist. Auch deshalb sind anti-demokratische Kräfte momentan so stark.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Es gibt Kontexte, in denen Akteure der Minority World tätig sein können, wo es für lokale Akteure gefährlich wird. Wenn Sie zum Beispiel LGBTQI+-Aktivistin in Uganda sind und in Ihrem Land verfolgt werden, braucht es internationale Partner. Diese können ihre Reichweite nutzen, um Stimmen lokaler Akteure zu verstärken oder auf Missstände aufmerksam zu machen. Auch internationale Organisationen werden auf jeden Fall weiterhin eine Rolle spielen. Aber weder internationale noch lokale Organisationen sollten dauerhaft Dienstleistungen, zum Beispiel in den Bereichen Bildung oder Gesundheit, erbringen.

Aber diese sind zentral für die Armutsbekämpfung – warum sollte sich die Zivilgesellschaft in diesen Bereichen nicht engagieren?

Gesundheit, Bildung, Wasser, Strom, Strassen – das sind grundlegende Menschenrechte, garantiert durch Verfassungen und Regierungen. Es ist die Aufgabe gewählter Regierungen, diese Grundversorgung zu leisten – nicht die von NGOs. Die Rolle der Zivilgesellschaft ist es, Regierungen zu befähigen, diese Pflichten zu erfüllen, und die Bevölkerung zu befähigen, ihre Rechte einzufordern.

 

Die globale Finanzarchitektur ermöglicht es Konzernen, Ressourcen auszubeuten, ohne Steuern zu zahlen oder Gemeinschaften zu entschädigen. Dagegen braucht es starkes politisches Engagement der Zivilgesellschaft, insbesondere von internationalen NGOs.

 

Und in Kontexten, in denen der Staat diese Leistungen nicht erbringen will?

Die Geschichte zeigt: Die brutalsten und autoritärsten Regime werden gestürzt, wenn sie aufhören, auf ihre Bevölkerung zu hören. Aus diesem Grund gibt es Revolutionen. Wenn Regierungen grundlegende Leistungen nicht erbringen, werden sich die Menschen auflehnen. Wenn du deine Familie hungern siehst, hast du nichts mehr zu verlieren – du hast keine andere Wahl als zu protestieren. Grundversorgung von aussen ist nie eine nachhaltige Lösung. Sie kann kurzfristig helfen – in Katastrophen oder Konflikten zum Beispiel.

Aber wir müssen uns bewusst sein, dass viele Regierungen der Majority World nicht in der Lage sind, grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen, weil ihre Steuereinnahmen zu grossen Teilen in den Schuldendienst fliessen. Die globale Finanzarchitektur und Steuergesetze ermöglichen es multinationalen Konzernen, Ressourcen auszubeuten, ohne Steuern zu zahlen oder Gemeinschaften zu entschädigen. Das muss sich ändern – und dafür braucht es ein starkes politisches Engagement der Zivilgesellschaft, insbesondere von internationalen NGOs, da oft die Regierungen der Minority World diese ausbeuterischen Strukturen erhalten.

 

Wenn die Sicherheit der Schweizer Bürger:innen Priorität hat, dann müssen zuerst die grossen, globalen Fragen angegangen werden.

 

Welche Botschaft haben Sie an die Schweizer Regierung, etwa im Hinblick auf die zentrale Rolle der Schweiz in der Rohstoffindustrie oder ihrem Finanzplatz?

Die Schweiz ist sehr stolz darauf, Hüterin des humanitären Völkerrechts und Verfechterin der Menschenrechte zu sein. Aber wenn sie diese Werte ernst nimmt, darf sie keine Systeme stützen, die diesen Werten zuwiderlaufen. Der Erhalt von Steueroasen oder die Kürzung der Gelder für die internationale Zusammenarbeit bedeuten heute den direkten Todesstoss für zahlreiche Menschen weltweit. Entwicklungszusammenarbeit muss nicht bleiben, sie sollte nicht bleiben. Aber wie der Ausstieg erfolgt, muss gemeinsam mit den Betroffenen entschieden werden. In unserer stark vernetzten Welt können wir es uns nicht leisten, nur an die «eigenen Leute» zu denken. Wenn die Sicherheit der Schweizer Bürger:innen Priorität hat, dann müssen zuerst die grossen, globalen Fragen angegangen werden.

Und welche Botschaft haben Sie an die Schweizer Zivilgesellschaft?

Im Moment formieren sich anti-demokratische Kräfte, um diejenigen Rechte und Freiheiten zu untergraben, für die wir so lange gekämpft haben. Und wir versäumen es, gemeinsam gegen diese Bedrohung vorzugehen. Wir müssen aus unseren Silos herauskommen und zusammenfinden. Wir müssen uns wieder an die mächtigste Kraft in diesem System erinnern: die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder. Wir müssen anfangen, aufeinander zuzugehen, zuzuhören und uns einzubringen, wenn wir die Menschenrechte verteidigen wollen.

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Die Alliance Sud-Zeitschrift zu Nord/Süd-Fragen analysiert und kommentiert die Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik. «global» erscheint viermal jährlich und kann kostenlos abonniert werden.

Gaza: Joint appeal by international NGOs

Israel threatens to ban major aid organizations as starvation deepens in Gaza

Internationale Zusammenarbeit

Alliance Sud and over 100 other organizations call for an end to Israel’s weaponization of aid.

Publikation

Die Auswirkungen der Zerschlagung von USAID

26.06.2025, Internationale Zusammenarbeit, Entwicklungsfinanzierung

Die Einstellung eines grossen Teils der US-Entwicklungsfinanzierung hat massive Auswirkungen auf die ärmsten und verletzlichsten Menschen dieser Welt, auf das multilaterale System, welches massgeblich zu Frieden und Stabilität in der Welt beiträgt, und auf die globale Gesundheitsversorgung. Über die konkreten Folgen der USAID-Zerschlagung erfahren Sie mehr im Faktenblatt von Alliance Sud.

Kristina Lanz
Kristina Lanz

Expertin für internationale Zusammenarbeit

Die Auswirkungen der Zerschlagung von USAID

© T. Schneider / Shutterstock.com

Aufruf zur Nationalen Grossdemo

Solidarität mit Gaza: Der Schweizer Bundesrat muss endlich handeln!

18.06.2025, Internationale Zusammenarbeit

Ein breites Bündnis aus Kollektiven, Organisationen, Parteien und Gewerkschaften fordert den Bundesrat auf, unverzüglich und entschlossen zu handeln und ruft zu einer grossen nationalen Demonstration auf, um gemeinsam am Samstag, 21. Juni, um 16 Uhr auf der Schützenmatte in Bern auf die aktuelle Lage in Gaza aufmerksam zu machen. Wir mobilisieren gemeinsam, um von der Schweiz eine Reaktion auf die humanitäre Notlage und die anhaltende Gewalt zu fordern.

Solidarität mit Gaza: Der Schweizer Bundesrat muss endlich handeln!

 

Gemeinsamer Aufruf unter anderem von Amnesty International, Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina (JVJP), Palestine Solidarity Switzerland, SP Schweiz, GRÜNE Schweiz, Gewerkschaft UNIA, Campax, Schweizerischer Gewerkschaftsbund SGB, JUSO Schweiz, Junge Grüne Schweiz, Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und Alliance Sud.

 

Immer mehr Organisationen kommen zum Schluss, dass Israel einen Völkermord an den Palästinenser:innen in Gaza begeht. Die israelische Regierung hat die Absicht ethnischer Säuberungen klar zum Ausdruck gebracht. Die Kriegsverbrechen der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen vom 7. Oktober 2023 rechtfertigen in keiner Weise die von Israel begangenen genozidalen Handlungen und Kriegsverbrechen.

Die israelische Armee hat in anderthalb Jahren mehr als 54.000 Menschen getötet, darunter mindestens 15.000 Kinder. Die indirekten Todesfälle und die Opfer, die immer noch unter den Trümmern liegen, sind in dieser Bilanz nicht berücksichtigt. Hinzu kommt der vorsätzliche Einsatz von Hunger als Kriegswaffe gegen mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen und die langjährige Besatzungs- und Apartheidspolitik Israels in den besetzten Gebieten, die eindeutig gegen das Völkerrecht verstösst.

Als Depositarstaat der Genfer Konventionen und als Sitz des Uno-Menschenrechtsrates hat die Schweiz eine besondere Verantwortung. Die Untätigkeit, insbesondere des EDA, ist inakzeptabel und muss sofort enden.

Wir fordern den Bundesrat auf:

  1. Sich aktiv für einen sofortigen, dauerhaften und von der internationalen Gemeinschaft überwachten Waffenstillstand und für die sofortige Aufhebung der Blockade des Gazastreifens einzusetzen.
  2. Die dokumentierten Kriegsverbrechen Israels klar zu verurteilen und alle Initiativen zu unterstützen, um Zwangsumsiedlungen oder illegale Vertreibungen der Bevölkerung in Gaza und im Westjordanland zu verhindern.
  3. Unverzüglich die Finanzierung der humanitären Nothilfe für Gaza über die UNRWA wieder aufzunehmen und mindestens die jährlichen Mittel freizugeben, die bis 2023 finanziert wurden.
  4. Die militärische Zusammenarbeit mit Israel sowie alle sicherheitsrelevanten Exporte sofort einzustellen.
  5. Ein Verbot für Schweizer Unternehmen zu erlassen, sich an der Besatzung in den palästinensischen Gebieten zu beteiligen. Dies insbesondere in Bezug auf Waffen, Dual-Use-Technologien und Überwachungssysteme.
  6. Das Recht des palästinensischen Volkes auf kollektive Selbstbestimmung uneingeschränkt anzuerkennen und sich entschlossen für dessen Umsetzung zu engagieren.
  7. Sich für die Freilassung aller Geiseln und willkürlich inhaftierten Gefangenen in Israel und im besetzten palästinensischen Gebiet einzusetzen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht.

Verhaltenskodex

Dieser Aufruf zur Demonstration wird von einer Koalition von Organisationen und politischen Akteur:innen getragen, die sich für ein mutigeres Engagement der Schweiz in der aktuellen Lage und für die Umsetzung dieser an den Bundesrat gerichteten Forderungen einsetzen.

Diese Kundgebung ist bewilligt und friedlich, offen und zugänglich für alle, die dem Bundesrat klare Forderungen übermitteln möchten. Hasspropaganda, Rassismus, Islamfeindlichkeit oder Antisemitismus werden nicht toleriert.

 


Weitere Informationen zur humanitären Notlage in Gaza:

  • Lesen Sie den gemeinsamen Appell der Entwicklungsorgansationen zu Gaza.
  • The New Humanitarian publiziert in der Serie Don't Look Away Artikel von Palästinenser:innen, die sich in Gaza befinden. Lesen Sie hier den Artikel der Autorin und Dichterin Nour ElAssy

Medienmitteilung

OECD kritisiert Rückgang der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit

16.06.2025, Internationale Zusammenarbeit

Der Entwicklungsausschuss der OECD (OECD-DAC) hat heute die Resultate der Peer Review der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit publiziert. Während die Schweiz für ihre Bereitschaft, sich in langfristigen, komplexen Projekten zu engagieren, gelobt wird, wird sie unter anderem dazu angehalten, die Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit rückgängig zu machen und die Politikkohärenz zu verbessern. Zudem soll die Schweiz nicht zur international verpönten gebundenen Hilfe zurückkehren.

OECD kritisiert Rückgang der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kritisiert in ihrem Schlussbericht die Kürzungen beim Budget der Entwicklungszusammenarbeit und hält die Schweiz dazu an, sicherzustellen, dass ihre Unterstützung der Ukraine zusätzlich zum regulären Entwicklungsbudget geleistet wird, um so nicht ihr geschätztes und wirksames langfristiges Engagement in den ärmsten Ländern zu untergraben. 

Ein spezielles Augenmerk gilt auch der Rückkehr zur gebundenen Hilfe (tied aid) – eine mittlerweile verpönte Praxis, bei der Entwicklungsgelder an die Bedingung der Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen aus den Geberländern geknüpft werden. Das schadet nicht nur der lokalen Wirtschaft in den Entwicklungsländern, sondern kommt die Geberstaaten auch teurer zu stehen als eine offene Vergabepraxis. Die Peer Reviewer empfehlen der Schweiz daher – auch und vor allem in ihrem Ukraine-Programm –, nicht von ihrem bisher vorbildlichen Leistungsausweis bei der Aufhebung der gebundenen Hilfe abzuweichen und an ihren Bestrebungen, ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis ihrer Programme zu gewährleisten, festzuhalten. Es wird angemerkt, dass die Schweiz mit den 500 Millionen CHF, die im Rahmen des Ukraine-Programms bereits ausschliesslich für Schweizer Unternehmen reserviert wurden, sowohl die Wirkung ihrer Entwicklungszusammen¬arbeit wie auch ihren guten Ruf als prinzipientreue Geberin aufs Spiel setze.

Evaluationspraxis hat Vorbildcharakter

Die Reviewer:innen kommen aber auch zum Schluss, dass die Schweizer Entwicklungszusam-menarbeit in vielerlei Hinsicht Vorbildcharakter aufweist. So würdigt der Ausschuss beispielsweise die Evaluationspraxis der Schweiz sowie ihre Bereitschaft, sich in langfristigen und komplexen Projekten zu engagieren. Gleichzeitig werden Verbesserungen in verschiedenen Bereichen angeregt: So sollen etwa die Armutsreduktion und das Prinzip “Leave no-one behind” in allen Projekten mehr im Fokus stehen, die Koordination zwischen dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) verbessert oder die Kommunikation strategischer gestaltet werden. 

Der OECD-Entwicklungsausschuss erinnert die Schweiz einmal mehr daran, einen stärkeren Fokus auf die negativen grenzüberschreitenden Auswirkungen anderer Politikbereiche auf die nachhaltige Entwicklung zu legen und diese systematisch und departementsübergreifend zu analysieren, beispielsweise im Bereich des Rohstoffhandels oder bei der Bekämpfung illegaler Finanzflüsse. «Ohne den konsequenten Einbezug aller Politikbereiche bleibt die nachhaltige Entwicklung sowohl in den Ländern des Globalen Südens wie auch bei uns eine Illusion», sagt Andreas Missbach, Geschäftsleiter von Alliance Sud. Genau diese Politikkohärenz wird an der UNO-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung in Sevilla (30. Juni-3. Juli) auf dem Prüfstand stehen.

Für weitere Informationen:
Andreas Missbach, Geschäftsleiter Alliance Sud, +41 31 390 93 30
Kristina Allianz. Expertin für internationale Zusammenarbeit, +41 31 390 93 40

Hintergrund:

Die sogenannte Peer Review der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, welche alle vier Jahre stattfindet und letztes Jahr von einer Delegation aus Luxemburg, Ungarn und Kroatien durchgeführt wurde, stützt sich auf Befragungen von über 90 in der EZA tätigen Akteur:innen in der Schweiz sowie auf Besuche von Schweizer Projekten in Simbabwe und Südafrika. 

 

Gaza: Appell der Entwicklungsorganisationen

Bundesrat muss sich aktiv für uneingeschränkte humanitäre Hilfe einsetzen

23.05.2025, Internationale Zusammenarbeit

Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist desaströs. Schweizer Entwicklungsorganisationen fordern den Bundesrat dazu auf, sich der gemeinsamen Erklärung von über 20 Staaten anzuschliessen und unverzüglich alles daran zu setzen, dass die humanitäre Hilfe uneingeschränkt und unparteiisch geleistet werden kann.

Laura Ebneter
Laura Ebneter

Expertin für internationale Zusammenarbeit

+41 31 390 93 32 laura.ebneter@alliancesud.ch
Marco Fähndrich
Marco Fähndrich

Kommunikations- und Medienverantwortlicher

+41 31 390 93 34 marco.faehndrich@alliancesud.ch
Bundesrat muss sich aktiv für uneingeschränkte humanitäre Hilfe einsetzen

Eingeschlossen inmitten von Schutt und Asche: Gazas Bevölkerung ist Hunger und anhaltenden Offensiven schutzlos ausgesetzt - dennoch schränkt Israels Regierung die humanitäre Hilfe massiv ein.
© Keystone/EPA/Mohammed Saber

 

Gemeinsame Medienmitteilung von Alliance Sud, Caritas Schweiz, HEKS, Helvetas, Terre des hommes, Swissaid und Solidar Suisse.

 

Während diese Woche wieder erste Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangt sind, schränkt die israelische Regierung weiterhin die lebensnotwendige Versorgung der Zivilbevölkerung ein. Die aktuellen Transporte reichen bei weitem nicht aus, um die 2,1 Millionen Menschen zu versorgen. Gleichzeitig führt die israelische Armee ihre Anfang Woche gestartete Bodenoffensive fort, fliegt Luftangriffe im dicht besiedelten Küstenstreifen und drängt die Zivilbevölkerung in zunehmend kleineren Gebieten zusammen. Humanitäre Einrichtungen oder Konvois werden immer wieder angegriffen. Die Situation der Zivilbevölkerung hat ein katastrophales Ausmass angenommen – das erfordert dringend ein entschiedenes und international koordiniertes Vorgehen.

Der in den letzten Tagen bekannt gewordene israelische Plan für die Bereitstellung der humanitären Hilfe ist aus mehreren Gründen alarmierend: In vier «Hubs» sollen die Güter ausschliesslich im Süden des Gazastreifens und unter der alleinigen Kontrolle Israels verteilt werden. Lange Zugangswege durch ungesichertes und zerstörtes Gebiet, in dem noch immer Kampfhandlungen stattfinden, gefährden die notleidenden Menschen sowie Helferinnen und Helfer. Die Versorgung würde stark eingeschränkt und wäre nur für jene zugänglich, die sich einer Sicherheitsprüfung durch die israelische Armee unterziehen würden. Private Sicherheitskräfte sollen unabhängige humanitäre Organisationen ersetzen. Dieser Plan widerspricht fundamental dem völkerrechtlichen Neutralitätsprinzip der humanitären Hilfe und verknüpft Nothilfe mit politischen und militärischen Zielen. Humanitäre Hilfe darf nicht von Kriegsparteien instrumentalisiert werden.

Caritas Schweiz, HEKS, Helvetas, Terre des hommes, Swissaid, Solidar Suisse und Alliance Sud rufen den Bundesrat dazu auf, sich für den sofortigen und uneingeschränkten Zugang zu humanitärer Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung und die Respektierung des humanitären Völkerrechts einzusetzen, und zwar auf verschiedenen Ebenen:

  • Die Schweiz muss sich der von über 20 Staaten unterzeichneten gemeinsamen Geber-Erklärung zur humanitären Hilfe für Gaza anschliessen. In dieser Erklärung fordern die Aussenministerinnen und Aussenminister der unterzeichnenden Staaten – darunter Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Australien und Kanada – Israel dazu auf, «die sofortige vollständige Wiederaufnahme der Hilfe für Gaza zu ermöglichen und es den Vereinten Nationen und humanitären Organisationen zu ermöglichen, unabhängig und unparteiisch zu arbeiten, um Leben zu retten, Leiden zu verringern und die Würde zu wahren».
  • Der Bundesrat hat diese Woche seine Besorgnis über die Situation im Gazastreifen zum Ausdruck gebracht. Sich lediglich besorgt zu zeigen, reicht allerdings nicht. Der Bundesrat muss sich gegenüber Israel mit Nachdruck für den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe einsetzen und sich der zu beobachtenden Erosion humanitärer Prinzipien entschieden entgegensetzen – auf allen politischen und diplomatischen Kanälen.
  • Der Bundesrat muss darauf hinwirken, dass die humanitären Prinzipien uneingeschränkt respektiert und geschützt werden. Damit grundlegende Prinzipien der humanitären Hilfe wie Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit gewahrt werden können, braucht es unabhängige Organisationen. Das ist mit der neuen Gaza Humanitarian Foundation, die in Genf ansässig ist, nicht gewährleistet. Die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen muss sich entschieden von jeglichen Versuchen distanzieren, humanitäre Hilfe für politische und militärische Ziele zu instrumentalisieren.
  • Der Bundesrat muss alles in seiner Macht Stehende tun, um die Gewalt und die fortschreitende Zerstörung zu beenden. Die Schweiz soll sich entschieden für einen sofortigen Waffenstillstand, den Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza und der Westbank sowie die Freilassung der zivilen israelischen Geiseln einsetzen.

Die Menschen in Gaza brauchen Hilfe – jetzt. Das zeigt sich auch in den Projekten der Schweizer NGOs mit ihren Partnerorganisationen vor Ort in aller Dringlichkeit. Die Schweiz muss ihrer humanitären Tradition gerecht werden und sich für eine strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts einsetzen.

 

Für weitere Informationen:

Alliance Sud
Marco Fähndrich, Medienverantwortlicher
079 374 59 73, marco.faehndrich@alliancesud.ch

Caritas Schweiz
Livia Leykauf, Mediensprecherin
076 233 45 04, medien@caritas.ch

HEKS
Lorenz Kummer, Mediensprecher
076 461 88 70, lorenz.kummer@heks.ch

Terre des hommes Lausanne
Cyril Schaub, Media Relations
058 611 07 45, cyril.schaub@tdh.org